Natascha Wodin – Irgendwo in diesem Dunkel
„Ich schaue sie lange an hinter der Scheibe, bis es dunkelt, bis das Friedhofstor abgeschlossen wird und ich gehen muss. Ihr Gesicht ist fern und verschlossen, es verrät nichts von den Umständen ihres Sterbens, nichts davon, warum sie uns, meine Schwester und mich, doch nicht mitgenommen hat, warum sie am Ende allein gegangen ist.“
So endete Natascha Wodins im letzten Jahr erschienener und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Roman „Sie kam aus Mariupol“. Darin erzählt sie vom Leben ihrer Mutter, über das sie erst durch mühevolle Recherchen und nur bruchstückweise etwas erfahren hat. Denn die Mutter ging 1956, als Natascha Wodin gerade mal zehn Jahre alt war, ins Wasser der Regnitz, dem Fluss, an dem die fränkische Kleinstadt liegt, Wohnort der als ehemalige russische Zwangsarbeiter nach dem Krieg zu „Displaced Persons“ gewordenen Eltern. Die Suche nach Spuren dieser sehnlichst vermissten Mutter schilderte Wodin äußerst bewegend und schloss mit eben jenem Bild des kleinen Mädchens vor dem aufgebahrten Leichnam.
Über dreißig Jahre später, im Jahr 1989 und zu Beginn ihres neuen Buchs „Irgendwo in diesem Dunkel“ ist Natascha Wodin wieder auf dem Weg ins Mittelfränkische, diesmal zur Beerdigung ihres sehr alten Vaters. Der Vater, im „Mutterbuch“ nur mehr eine Randerscheinung, war ein verbitterter, brutaler Mann, zwanzig Jahre älter als die Mutter. Ein Mann, der sein Leben lang nur Gewalt erfahren hatte – russischer Bürgerkrieg, schreckliche Hungernöte, Terror und Verfolgung in der Stalinzeit, Verschleppung als Zwangsarbeiter nach Deutschland und nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Displaced Person und Russe von den Deutschen gedemütigt und verachtet. Und der den Rest seines Lebens diese Gewalt und seine Verzweiflung weitergegeben hat.
Eine Rückkehr ins stalinistische Russland wäre für ihn einem Todesurteil gleichgekommen. Aber auch in Deutschland, der neuen „Heimat“ fasste der Vater niemals Fuß, weigerte sich zeitlebens die Sprache zu lernen, Kontakte zu knüpfen. Er war ein Trinker und ein Mann, der seine Frau und Tochter regelmäßig brutal verprügelte. Einer, der nach Ansicht von Natascha die Mutter in den Selbstmord trieb, nach deren Tod die kleinen Töchter ins Waisenhaus brachte, die pubertierende Natascha wochenlang einsperrte, misshandelte, schließlich vor die Tür setzte, und sie damit zur Obdachlosen machte.
Natascha Wodin leugnet an keiner Stelle den Hass, den sie bis heute auf ihren Vater hegt, es gibt für sie bisher kein Verzeihen.
Und doch ist der Ton, in dem sie hier darüber schreibt, ein ganz anderer als in ihrem vor fast dreißig Jahren erschienenen Buch „Einmal lebt ich“, das sich bereits mit ihrer Kindheit und Jugend auseinandersetzte und auf das sich „Irgendwo in diesem Dunkel“ explizit bezieht. Es ist, wenn nicht versöhnlicher, so doch voll Bemühen, diesen rätselhaften Mann, ihren Vater, zu verstehen. Es ist kühler, sachlicher, lakonischer erzählt. Es gibt im Gegensatz zu „Sie kam aus Mariupol“ keinerlei neue Recherchen zum Leben ihres Vaters. Natascha Wodin weiß nahezu nichts über seine vierzig Jahre in Russland. Außer, dass er nach dem Tod seiner Eltern wohl ein Straßenkind war und dass er vor der Begegnung mit der Mutter in der Ukraine bereits eine jüdische Frau und zwei Kinder hatte, die er in Russland zurückließ. Alles andere verschwindet „irgendwo in diesem Dunkel“. Und es scheint die Autorin auch nicht so dringlich zum Aufdecken dieser weißen Flecken in seinem Leben zu treiben wie bei der Mutter. Zwar lebte der Vater noch sehr lange, geredet hat er allerdings nie. Mit niemanden. Auch der Onkel, den Natascha Wodin in Russland ausfindig macht, möchte nichts sagen. „Wenn er dir nichts erzählt hat, werde ich dir auch nichts erzählen.“
Es mangelt an Informationen und Wodin versucht auch nicht, das Leben des Vaters herbei zu fantasieren. Sie lässt es als die Leerstelle stehen, die es für sie zeitlebens war. Das lässt den Fokus des Buches automatisch mehr auf sie selbst in ihren Kinder- und Jugendjahren rücken.
Das Gefühl des Ausgestoßenseins als „Russenkind“, als „Russenlusch“, der Hass, der ihr von vielen Deutschen entgegenschlug, die sowohl unter Hitler als auch nach 1945 im Kalten Krieg Russen immer nur als Feindbild kennenlernten, verletzte das Mädchen sehr. Ihre Gettoisierung in „den Häuser“, wo alle Displaced Persons zusammen untergebracht wurden, gleich neben den „Zigeunerbaracken“ – diese Zeit hat bei Natascha Wodin ebenso große Wunden gerissen, wie die Gewalt und die Demütigungen, die sie von ihrem Vater erfuhr. Ihre Zeit als Streunerin, eine brutale Vergewaltigung, eine daraus resultierende Schwangerschaft, der selbst durchgeführte Abbruch derselben – das sind brutale, kaum zu ertragende, erschütternde Episoden. Episoden, die Natascha Wodin dicht, intensiv, aber völlig unpathetisch erzählt. Und die gerade dadurch eine umso größere Wirkung erzielen.
Nein, ein Verzeihen kann es da wohl nicht geben. Aber Natascha Wodin wusste um die unendliche Einsamkeit, die ihren Vater für den Rest seines Lebens umgab, auch wenn sie sich in seinen letzten Lebensjahren im Altersheim um ihn kümmerte. Auch ihr gegenüber hat er sein Schweigen niemals aufgegeben. Ein Schweigen, das die ganze Umgebung, ja in gewisser Weise ganz Deutschland umfasste. Und das Natascha Wodin zur Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit geradezu zwang. Als Akt der Selbstvergewisserung.
„Erst später begriff ich, dass ich in einem doppelten Schweigen aufgewachsen bin, dem Schweigen meiner russischen Eltern und dem Schweigen meiner deutschen Umwelt. Meine Eltern schwiegen über etwas anderes als die Deutschen, es gab zwei Wahrheiten, von denen ich nichts wusste, ich spürte nur immer und überall das Ungesagte, das Unsagbare, das wie ein undurchdringlicher Neben war, wie Stickstoff, den ich ständig einatmete.“
Kein Verzeihen, aber am Ende die Überzeugung, dass der Mensch immer das weitergibt, was er selbst erlebt hat. Und das war beim Vater eben Gewalt und Schweigen.
„Und wie hätte ein Mensch, der nie Freiheit erfahren, dessen Leben sich im Würgegriff zweier Diktaturen abgespielt hatte, einem anderen, noch dazu seinem eigenen Kind, Freiheit gewähren können. Ihre Zumutungen hatte er nie kennengelernt, bis dahin war er in seinem Leben nicht gekommen.“
Wie man sich befreien kann, wieviel Glück man dafür aber auch benötigt, das beschreibt Natascha Wodin in ihrem beeindruckenden autobiografischen Roman „Irgendwo in diesem Dunkel“.
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Natascha Wodin – Irgendwo in diesem Dunkel
Rowohlt August 2018, gebunden, 240 Seiten, € 20,00
Erschütternd ! Beide Bücher sind keine Lektüren , die der Seele gut tun . Ich möchte sie nicht lesen ! Danke für die Infos ! LG Angela vom Literaturgarten