Bis zu 30 Millionen Opfer forderte die Taiping-Rebellion in China zwischen 1851 und 1864 und ist damit der opferreichste Bürgerkrieg der ganzen Menschheitsgeschichte. Stephan Thome erzählt davon in Gott der Barbaren.
„Taiping?“ mag sich da so mancher fragen, und tatsächlich ist es verblüffend, wie wenig man hierzulande über diese Revolte im Fernen Osten, über die Geschichte generell in diesen Regionen der Welt, weiß. Ein einigermaßen beschämendes Zeugnis der eurozentrischen Geschichtsschreibung, die immer noch vorherrscht und die in einer derart globalisierten Welt wie der unsrigen, gerade auch mit dem rasanten Erstarken Chinas auf dem Weltmarkt, eigentlich nicht mehr vertretbar ist.
Der Philosoph, Sinologe und Autor Stephan Thome hat die Taiping-Revolution zum Stoff seines neuen, umfangreichen Romans gemacht und ist damit auf der Shortlist zum diesjährigen Deutschen Literaturpreis gelandet. Für Thome ist es bereits die dritte Shortlist-Nominierung.
Wie alle guten historischen Romane erzählt „Der Gott der Barbaren“ aber nicht nur von längst vergangenen Zeiten, sondern unweigerlich blitzt immer wieder der Bezug zur Gegenwart auf, ohne dass dies konkret thematisiert wird. Das Unverständnis, mit dem der Westen so manches Mal China gegenübersteht, die Missverständnisse, die daraus erwachsen, das Streben der Chinesen auf den Weltmarkt, ihre Haltung der eigenen Regierung und dem Westen gegenüber haben ihre Wurzel, nicht nur, aber auch, in den Ereignissen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Und so wird Stephan Thomes Buch nicht nur zu einem bunten, spannenden Abenteuer- und Geschichtsroman, sondern auch zu einem Versuch in Ideengeschichte.
Getragen wird die Erzählung von drei Protagonisten, denen der Autor unterschiedliche, sich unregelmäßig abwechselnde Abschnitte widmet, die er durch gelegentliche Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Gesprächsprotokolle oder andere, zum Teil erfundene Dokumente ergänzt. Dem fiktiven jungen Missionar Philipp Johann Neukamp fällt dabei als einzigem die Ich-Perspektive zu. Er als Deutscher, der als Sozialreformer nach der gescheiterten 1848-Revolution mehr oder weniger in den Missionsdienst nach China flieht und dem Land nach stümperhaftem Vorbereitungsdienst zu Beginn auch völlig fremd gegenüber steht, bietet uns Lesern am meisten Identifikationspotential.
„Über China lernte ich in den kommenden Monaten nichts, selbst die Sprache fehlte im Curriculum, das aus Bibelkunde, Predigtlehre und Geschichte des Christentums bestand.“
Und so ist der junge Mann nach anstrengender Überfahrt auf sich allein gestellt, zunächst in der britischen Enklave Viktoria auf Honkong Island, später dann bei der Baseler Missionsgesellschaft in dem kleinen ärmlichen Dorf Tongfu auf dem Festland. Hier kommt er auch mit den Ideen der Taiping-Rebellen in Kontakt.
In den südlichen Provinzen Guangxi und Guangdong, die durch Piratenüberfälle, die schon damals agierenden mafiösen Triaden, unfähige Bürokratie und etliche Naturkatastrophen besonders belastet waren, fielen die rebellischen Gedanken eines Hong Xiuquan bei der verarmten Bevölkerung auf besonders fruchtbaren Boden. Dieser war wie viele von ihnen Angehöriger der Volksgruppe der Hakka und versuchte vergeblich, Beamter der Mandschu-Regierung, die China regierte (Qing-Dynastie), zu werden. Die äußerst schwierigen Prüfungen ließen ihn mehrmals scheitern, was ihn in eine schwere (wohl psychische) Krankheit trieb. In den Halluzinationen, die er dabei hatte, erschien ihm der christliche Gott, den er kurz zuvor durch einen Missionar und seine Traktate kennenlernte, und ernannte ihn zu seinem Sohn. Folglich nannte er sich nach seiner Genesung „zweiter Sohn Gottes“ und verband in seiner Sekte, die er bald danach um sich scharte, christliches Bekenntnis ganz eigener Prägung mit sozialreformerischen Ideen, selbst eine Art Gleichberechtigung der Frau stand auf dem Programm. Viele der uns völlig abstrus erscheinenden Bibelauslegungen beruhten dabei wohl auch auf der schwierigen Übertragung des Textes in chinesische Schriftzeichen. Die Bewegung hatte gerade unter der armen ländlichen Bevölkerung einen enormen Zulauf, militarisierte sich rasch und kämpfte überraschend erfolgreich und mit unglaublicher Brutalität gegen die chinesische Zentralmacht. 1853 gelang es der mittlerweile auf über 500.000 Mann angewachsenen Armee, die bedeutende einstige Hauptstadt Nangking zu erobern. Sie wurde zur „Himmlischen Hauptstadt“ des „himmlischen Königs“ Hong Xiuquan. Anfangs wurden die Rebellen von England und Frankreich, die infolge der Opiumkriege in China engagiert waren, auch wegen ihres christlichen Glaubens, besonders durch Waffenlieferungen unterstützt. Später solidarisierten sich die westlichen Mächte, im eigenen Interesse, mit der Qing-Regierung.
Die westliche, britische Perspektive wird vom zweiten Hauptprotagonisten Thomes, JamesBruce, dem 8. Lord Elgin, eingenommen. Er ist Sonderkommissar Englands in China und eher unfreiwillig im diplomatischen Dienst. Nachdem sein Vater Thomas Bruce, der 7. Lord Elgin, bekannt geworden als „Kunsträuber“ der Akropolis in Athen, das nicht unbeträchtliche Familienerbe durchgebracht hatte, blieb ihm kaum etwas anderes übrig als in dessen diplomatische Fußstapfen zu treten. Dabei war er eher ein Feingeist, ein in Selbstreflexion und gelegentlich Selbstzweifel versunkener Mensch.
„Gekommen, um Handel zu treiben, fand man sich plötzlich in der Rolle der Eroberer wieder, und je länger er darüber nachdachte, desto besser verstand er, was er den Chinesen am meisten verübelte: dass ihre Starrköpfigkeit ihm nicht erlaubte, nachsichtig zu sein und damit nicht nur ihnen, sondern auch seinen Landsleuten eine Lektion zu erteilen.“
Zugleich verkörpert Elgin die unglaubliche Arroganz, mit der die westlichen Nationen, gerade auch die Briten, gegenüber anderen Zivilisationen auftraten und ihre Interessen, vornehmlich die Handelsinteressen, über alles andere stellten. So wurde zur Rettung des Staatshaushalts der chinesische Markt mit Opium aus Indien überschwemmt, große Teile der Bevölkerung abhängig gemacht, die chinesische Wirtschaft in Schieflage gebracht und deren Regeln und Verbote einfach übergangen. Die Opiumkriege wurden geführt auch unter dem Motto
„Wir werden China öffnen, ob die Chinesen es wollen oder nicht.“
Solch rücksichtsloses Vorgehen mussten sich die Christenmenschen dann rechtfertigen, gerne indem die, tatsächlich vorhandene, Brutalität des Gegners beschworen, ihnen gar jede Menschlichkeit abgesprochen wurde, man sie gar zu „Nicht-Wesen“ oder „Halbwilden“ degradierte. Man kennt dieses Muster.
„Abend für Abend redeten sich die Gäste in Rage, Gentlemen mit Orden an der Brust bekundeten ihre Bereitschaft, den Aufständischen eigenhändig die Genitalien abzuschneiden, und aus dem Mund eines Geistlichen hörte er, es wäre eine Verhöhnung der Bergpredigt, solchen Bestien gegenüber Gnade walten zu lassen.“
Dabei galten auch die Europäer (die Franzosen waren später mit eigenen Interessen mit an Bord) selbst den Chinesen, ebenso wie die „Langhaarigen“ Rebellen, als Barbaren. Da ist der Titel des Romans durchaus doppelsinnig. Aufgeführt haben sich tatsächlich alle Seiten als solche.
Die andere Seite, die der chinesischen Dynastie, wird im Roman durch Zeng Guofan vertreten. Auch er, wie Lord Elgin, eine historische Figur und eigentlich ein Feingeist, der nicht nur ein 156 Bände umfassendes literarisches Werk hinterließ, sondern selbst in der Schlacht von seinen Offizieren das Verfassen von Aufsätze zu Gedichtzeilen forderte. Was ihn aber nicht von unglaublich brutalem Vorgehen gegenüber seinen Gegnern und Massakern an der Bevölkerung während der Kriegszeiten abhielt. Mit den entsprechenden philosophischen Skrupeln versteht sich. Ein Pluspunkt von Stephan Thomes Roman ist generell die überaus ambivalente Personenschilderung. Zwar finden Schlachten statt, es wird gekämpft und gelitten, abenteuerliche Reisen werden unternommen, aber noch viel ausführlicher wird geschildert, was in den Köpfen der Figuren, die allesamt irgendwie zerrissen sind, vor sich geht.
Mit Lord Elgin und Zeng Guofan treffen zudem zwei völlig unterschiedliche Denk- und Handlungsweisen aufeinander – Westen und Osten. Arroganz und Überheblichkeit des Westens und der Beharrungswille des Ostens, der dem Zerplatzen von jahrtausendalten Selbstverständlichkeiten, dem Ende des Supremats der chinesischen Zivilisation und damit einer Epochenwende gegenübersteht. Die krasse militärische Unterlegenheit der chinesischen Zentralregierung, ihre unfähige Verwaltung, Korruption und Nepotismus führten überraschend schnell zum Untergang eines als ewig verstandenen Reichs. Die jahrtausendealte Abschottung nach außen wurde durch die massiven Handelsinteressen des Westens aufgebrochen. Der Verlauf der Taiping Revolution war nur der Beginn einer Anzahl von Demütigungen des einst machtvollen Reichs. Eine Verfasstheit, die viel zum Verständnis der weiteren Entwicklung Chinas beitragen kann.
Stephan Thome entfaltet diese nicht gerade übersichtliche Geschichtsentwicklung und Ideengeschichte in Gott der Barbaren überraschend klar und nachvollziehbar, indem er vornehmlich drei Protagonisten in den Mittelpunkt stellt. Dass dabei etliche Perspektiven weitgehend unberücksichtigt bleiben, liegt auf der Hand und kann auch nur wenig durch die Einbeziehung von „Gedanken eines Unbekannten“ oder den Tagebuchaufzeichnungen eines einfachen chinesischen Mädchens aufgefangen werden. Das wiegt aber nicht weiter schwer, da dadurch, wie gesagt, die Entwicklung deutlicher, die riesige Stofffülle überschaubarer wird. Auch so ist der Roman ungemein facettenreich und spannend. Er erzählt ein Kapitel aus der Geschichte, das zumindest mir bisher völlig unbekannt war. Und schlägt Verbindungen in unsere Gegenwart, ohne dabei in irgendeiner Form belehrend zu wirken.
Beanstandet wurde, dass die Gedanken der Protagonisten, besonders auch der fernöstlichen, durch die heutige Sicht-, Denk- und Sprechweise gefiltert werden, praktisch nicht mehr authentisch sind. Das als Manko anzuerkennen würde aber nahezu jeden historischen Roman diskreditieren, nur noch historische Monographien und Quellen zulassen. Stephan Thome ist die Perspektive seiner Figuren in Gott der Barbaren meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Zudem lässt er den Bezug zur Gegenwart zu und bietet großartigen Stoff zum Vertiefen und Überdenken.
Am Schluss steht eine Meldung aus der China Post vom 19. Dezember 2012. Darin wird über das harte Vorgehen der Volksrepublik China gegen Mitglieder der religiösen Sekte „Allmächtiger Gott“ berichtet, das zu über 400 Verhaftungen führte. Eine Meldung, die man nach der Lektüre von „Der Gott der Barbaren“ vielleicht auch mit anderen Augen betrachtet.
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Beitragsbild: Regaining the Provincial Capital of Ruizhou – A scene of the Taiping Rebellion, 1850-1864, By Wu Youru (http://www.battle-of-qurman.com.cn/e/hist.htm) [Public domain], via Wikimedia Commons
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Stephan Thome – Gott der Barbaren
Suhrkamp September 2018, Gebunden, 719 Seiten, 25,00 €
Eine tolle Besprechung dieses in fast jeder Hinsicht Riesenromans. Ich habe ihn selbst heute zu Ende gelesen; meine Besprechung folgt in ein paar Tagen.
Danke und viele Grüße!
Danke. Dann schaue ich die Tage gerne auch mal bei dir vorbei. Viele Grüße, Petra