Kamila Shamsie – Hausbrand:
„Die wir lieben…sind Feinde des Staates.“
Sophokles – Antigone
Schon im Motto ihres Romans „Hausbrand“ erzählt die britisch-pakistanische Autorin Kamila Shamsie eigentlich die ganze Geschichte.
„Homefire“ im Original trifft es, wie so oft genauer, denn es ist nicht das Haus, das hier brennt, sondern das Heim, die Familie, die Heimat, der Westen, Großbritannien. Und die große, klassische Geschichte, die hier neu gefasst wird, ist die der Antigone.
Diese war die Tochter des Ödipus, nach dessen Tod ein erbitterter Streit um die Macht in Theben zwischen ihren Brüdern Eteokles und Polyneikes ausbrach. Im Kampf gegeneinander wurden beide getötet. Der Onkel Kreon, der nun die Macht erlangte, erlaubte aber nur die Beerdigung des Einen. Der aufständische Polyneikes, „Feind des Vaterlandes“, sollte unbestattet bleiben. Gegen den Rat der besonnenen Schwester Ismene, unter Androhung der Todesstrafe, brachte Antigone ihren Bruder dennoch unter die Erde, wie es ihr Glaube befahl. Daraufhin wurde sie lebendig eingemauert. Ihr Verlobter Haemon, Sohn des Kreons, verwandte sich eindringlich für sie und dieser lenkte schließlich ein. Aber zu spät, Antigone nahm sich bereits das Leben. Daraufhin folgten ihr Haemon und später auch seine Mutter Eurydike in den Tod.
Ein großer, dramatischer Stoff, griechische Tragödie in Reinkultur, die bereits der irische Dichter Seamus Heany 2004 für ein höchst politisches Theaterstück neu adaptierte. Generell scheint die Neufassung von Klassikern ein wenig im Trend zu liegen, man denke an das Hogarth Shakespeare Projekt. Selten gelingt dies so rundum überzeugend und mitreißendend wie bei Kamila Shamsie.
Am Personal ändert die Autorin relativ wenig.
Die Geschwister Pasha, die ältere Isma und die Zwillinge Aneeka und Parvaiz – die Wahl der Namen erleichtert die Zuordnung zu den Protagonisten des antiken Dramas – wachsen in Wembley mit Großmutter und Mutter, die aus Pakistan stammen, auf. Der Vater verschwand schon früh aus ihrem Leben. Als Dschihadist kämpfte er in Kaschmir, Tschetschenien, Afghanistan, im Kosovo – wo eben ein „Gotteskrieger“ benötigt wurde. 2002 wurde er verhaftet, im berüchtigten Hauptquartier der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Afghanistan, Bagram wohl auch der Folter unterzogen und starb auf dem Transport nach Guantánamo. Seitdem stand die Familie in Großbritannien unter Beobachtung des MI5. Nach dem Tod von Mutter und Großmutter war es die ältere Isma, die ihre Geschwister großzog. Nun sind die beiden erwachsen und für Isma kann ein neues Leben beginnen: Ein Stipendium ermöglichst ihr Promotionsstudium in Soziologie in Amherst/USA. Wir begegnen ihr gleich zu Beginn des Romans.
„Isma war auf dem besten Weg, ihren Flug zu verpassen. Das Ticket würde nicht erstattet werden, weil die Airline nicht bereit wäre, für Passagiere geradezustehen, die zwar drei Stunden vor Abflug am Flughafen sind, aber in ein Befragungszimmer abgeführt werden.“
Der Schatten des radikalisierten Vaters und die amerikanische Paranoia im Umgang mit muslimischen Einreisewilligen – Isma trägt einen Hidschab – fordern ihren Preis. Wir befinden uns nicht mehr in der griechischen Antike, sondern im Zeitalter des Terrors und der Angst vor dem Islamismus, der mit dem Islam allzu oft gleichgesetzt wird.
Kaum in ihrer neuen Heimat eingerichtet, muss Isma erfahren, dass ihr bisher so unauffälliger, gut integrierter Bruder Parvaiz nach Syrien ausgereist ist. Er hat sich dort der Medieneinheit des IS angeschlossen, vertont Propagandafilme, Filme von Geiselnahmen und Enthauptungen. Er ist der „Feind des Staates“. Hier hat Kamila Shamsie die einzige Anpassung des antiken Personals vorgenommen. Es gibt keinen zweiten Bruder, die Figur des Eteokles entfällt. Parvaiz kämpft gegen die Werte des Westens, gegen die „Mörder“ seines Vaters. Sein Gegner ist abstrakt. Nach relativ kurzer Zeit wird ihm aber Irrsinn und Bestialität seiner neuen Auftraggeber bewusst und er möchte wieder nach Hause. Hilfesuchend wendet er sich an seine Schwester Aneeka.
Zur gleichen Zeit trifft Isma in den USA zufällig Eamonn, den Sohn eines ebenfalls aus Pakistan stammenden Politikers. Dieser ist ein typischer „trust-fond dropout“, reich, aber orientierungslos, heimat- und religionslos. Typisch der Dialog, als Isma und er zum ersten Mal aufeinander treffen.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, sagte er. „Der Turban. Ist das ein Modeding oder ein Muslimding?“
„Wissen Sie, die einzigen Menschen in Massachusetts, die mich danach gefragt haben, wollten wissen, ob es ein Modeding oder ein Chemotherapieding ist.“
Lachend sagte er: „Krebs oder Islam – was ist das größere Übel?“
Eine weitere Entfernung von den Wurzeln kann man sich kaum vorstellen. Und das ist auch das Programm seines Vaters Karamat (Kreon), der sich erfolgreich um das Amt des Innenministers bewirbt. Er prangert die Rückständigkeit der in Großbritannien lebenden Muslime an, fordert mehr Integration, Anpassung, überwirft sich dadurch zunehmend mit einem großen Teil dieser Wählerschaft, die ihm Nestbeschmutzung vorwerfen. Unerbittliche Härte zeigt er auch gegenüber den „britisch geborenen“ Terroristen. Man beachte, dass nicht die Rede von „britischen Terroristen“ ist. Das in dieser Entfremdung, im Gefühl des nicht wirklich dazu zu gehören, ein Grund für die Radikalisierung junger Muslime ist, daran hat Kamila Shamsie keinen Zweifel. Aber auch andere Motive für das Abgleiten in Extremistenkreise werden angesprochen, ebenso wie die unverantwortlichen Rekrutierungsmethoden.
Und doch ist diese Radikalisierung nicht das Hauptmotiv von Kamila Shamsies komplexem, fesselndem und eindringlichem Roman. Der Autorin geht es um Loyalitäten, um das Spannungsfeld in das Gesellschaft, Familie und Religion geraten können. Es geht um Recht und Gerechtigkeit, um die Diskrepanz, die zwischen beiden bestehen kann. Und um Liebe, um die Frage, wie weit man für diese zu gehen bereit ist.
Aneeka trifft Eamonn, der sich in sie verliebt. Sie sieht eine Chance, ihren Bruder zu retten…
Auf nur 250 Seiten entfaltet Kamila Shamsie die große Tragödie, wirft in Kapiteln mit unterschiedlichen Perspektiven Blicke auf den Konflikt, bleibt aber in der distanzierten personalen Perspektive, fügt gegen Ende Hashtags, Twitternachrichten, poetische Fragmente und Berichterstattungen hinzu. Das Ende erleben wir, wie so oft die Tragödien dieser Welt, über einen TV-Stream. Perfekt gelingt ihr das Versetzen des antiken Stoffs in unsere unmittelbare Gegenwart.
Das alles ist großartig gemacht, subtil, mit zunehmender Spannung, völlig überraschenden Wendungen, bewegend, erhellend. Kein Wunder, dass Kamila Shamsie für Hausbrand den Woman´s Prize for Fiction 2018 gewann. Auf der Longlist des Man Booker Prize stand sie damit ebenfalls.
Das Beste an diesem Buch, das für mich ganz sicher zu den Highlights des Jahres gehört, ist aber, dass man durch es übliche Denkmuster hinterfragt, über eigene Werturteile nachdenkt, Meinungen überprüft. Ein Buch, das lange nachhallt, und dabei noch höchsten Lesegenuss bietet.
Beitragsbild: Antigone in front of the dead Polynices by Nikiforos Lytras [Public domain], via Wikimedia Commons
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Hallo Petra,
Heute bin ich auf die Seite des britischen Woman‘s Prize for Fiction gelangt. Dieses. Ich hat letztes Jahr gewonnen. Adaptionen von klassischen Stoffen: das ist mein Ding. Letztes Jahr habe ich deinen Beitrag dazu wohl übersehen…
Viele liebe Grüße
Silvia
Ich mag Adaptionen auch sehr. Oft sind sie aber nicht so gut gelungen wie hier. Hausbrand hat mich richtig begeistert. LG