Inger-Maria Mahlke – Archipel

Das Archipel der Kanaren ist ein Ort im Abseits. Die sieben Hauptinseln liegen zwischen 100 und 500 Kilometer vor der Küste Nordwestafrikas, zu dem sie geologisch gehören, sind aber als eine von 17 Autonomen Gemeinschaften Teil des fast 1500 Kilometer entfernten Mutterlandes Spanien. So ein Blick vom Rand ermöglicht manchmal einen genaueren, präziseren Blick. Inger-Maria Mahlke legt ihn mit Archipel vor.

Diesen Blick hat die 1977 in Hamburg geborene Inger-Maria Mahlke auch als deutsche Schriftstellerin, wenn sie auf die Geschichte Teneriffas, der größten und bevölkerungsreichsten der Inseln, blickt. Dennoch ist es nicht der Blick der Zugereisten, gar der Touristin, denn Mahlke hat kanarische Wurzeln. Ihre Mutter stammt aus der geschichtsträchtigen ehemaligen Inselhauptstadt San Cristóbal de La Laguna, wo auch die Geschichte um mehrere Familien in „Archipel“ angesiedelt ist. Sie führt uns durch fast einhundert Jahre Inselhistorie, die immer auch spanische und letztlich europäische Historie ist. Ein im deutschsprachigen Roman eher abseitiges Thema, das aber so spannend dargebracht wird, dass es die Autorin damit auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreis geschafft hat, der am Montag verliehen wird.

Ein Motiv für die Nominierung wird sicher der unkonventionelle, ambitionierte Aufbau von „Archipel“ gewesen sein. Denn die Geschichte um im Zentrum drei Familien wird rückwärts erzählt, ausgehend vom Jahr 2015 bis zurück ins Jahr 1919. Dies ist das Geburtsjahr von Julio Baute, den wir als „el portero“ gleich zu Beginn kennenlernen und dessen Lebenszeit das Buch umspannt. Er ist damit die heimliche Hauptfigur des figurenreichen Romans. „El portero“ ist der Pförtner im Altenheim von San Borondón. Es beginnt im Jahr 2015 und er selbst ist 95 Jahre alt. Julio versieht sein Amt eher mürrisch, bewacht die Tür nach draußen, damit sich die demenzkranken Bewohner nicht heimlich davonstehlen können. Sein Herz gehört aber schon immer dem Radsport. Fast obsessiv verfolgt er die TV-Berichterstattung in seiner Portiersloge. Genauso mürrisch verhält er sich gegenüber seiner Tochter Ana, einer für den Bereich Tourismus zuständigen Lokalpolitikerin, die zu Beginn des Romans – der wegen der Konstruktion zeitlich zugleich sein Ende ist – in einen Umweltskandal verstrickt ist. Der Grund für das angespannte Verhältnis zwischen den beiden liegt natürlich in der Vergangenheit ( und damit in der Zukunft des Buches). Wir werden ihn erst in den folgenden Kapiteln erfahren, wie so manchen Hintergrund, manche Verflechtung.

Balkone, Teneriffa
San Cristobal de la Laguna. Tenerife by Miguel Ángel García.  (CC BY 2.0) via Flickr

Zunächst bleiben wir aber über eine lange Stecke im Jahr 2015. Fast ein Drittel des Buchs ist diesem Zeitabschnitt gewidmet.

Rosa ist der jüngste Spross der Familie Bernadotte Baute. Als Kunststudentin in Madrid gescheitert, kehrt sie ins Elternhaus zurück. Dort hat auch der Vater Felipe frustriert seine Professur, die der Erforschung von „Bürgerkrieg und Repressionen auf den Kanarischen Inseln“ gewidmet war, aufgegeben und spricht ein wenig zu viel dem Alkohol zu. Mutter Ana droht, wie gesagt, das Aus als Lokalpolitikerin. Eine eher schwierige Ausgangssituation. Neben der großbürgerlichen Familie der Bernadottes, der Felipe entstammt, und der  mittelständischen, sozialistisch orientierten Familie Anas, den Bautes, verfolgen wir noch die Ruiz´, die als Hausangestellte am unteren Rand der sozialen Pyramide stehen.

Diese Konstellation erlaubt Inger-Maria Mahlke nun, eine ganze Reihe von Themen anzuschneiden: das berufliche Scheitern, die Perspektivlosigkeit junger Menschen in Spanien (und besonders auf den Kanaren), der Generationenkonflikt, Alter, Demenz, Tourismus, Umweltpolitik, politische Machenschaften, soziale Determination und und und. Das mag jetzt konstruierter und überfrachteter klingen, als es tatsächlich ist. Mahlke gelingt es grandios, diese ganzen Themen mühelos in ihre Familiengeschichte einzuweben und glaubwürdige Charaktere zu zeichnen. Sie erzählt detailreich, atmosphärisch und multiperspektivisch. Der personale Erzähler bleibt dabei immer nah an den Personen dran.

Dennoch ist die Konstruktion des zeitlichen Zurückgehens natürlich gewagt, sie verbietet die allzu einfache Identifikation des Lesers mit den handelnden Personen genauso wie das bequeme Niederlassen in weiten epischen Bögen und einer irgendwie gearteten geschichtlichen Linearität. Ein Personenverzeichnis ( neben einem Glossar für die vielen kanarischen Begriffe) ist für das mühelose Verfolgen der Familienzweige und Geschicke genauso hilfreich wie die Tatsache, dass die Zeitsprünge anfangs noch relativ klein sind, zunächst in das Jahr 2007, dann 2000, bis die Abstände zunehmend größer und die Kapitel kürzer werden. Prägnante Szenen lösen die ausgedehnte Erzählung ab, gar nicht so viel anders als beim Erinnern. Auch dabei herrscht ja irgendwann das Episodische vor. Mit fortschreitender Erzählung wird die Orientierung für den Leser leichter, Motive kristallisieren sich heraus, Verbindungen werden deutlicher. Das holt die Personen trotz des zeitlichen Abstandes nun näher heran.

Teneriffa
Triunfo de la Candelaria by By CARLOS TEIXIDOR CADENAS [CC BY-SA 3.0], from Wikimedia Commons
Neben der Familiengeschichte rückt mit zunehmendem Eintauchen in die Vergangenheit auch der historische Kontext mehr ins Zentrum. Sowohl die Kolonialzeit (Spanien war als Kolonialmacht in Westsahara bis 1975 präsent; das Schicksal des Landes ist seitdem ungeklärt), die britischen Handelsinteressen auf den Inseln und natürlich der Spanische Bürgerkrieg und die Francozeit, sind Hintergrund für familiäre Wegmarken wie Todesfälle oder Geburten. Dabei erteilt Mahlke angenehmerweise keine Geschichtslektionen, sondern setzt ein gewisses Maß an Leserwissen voraus. Im Mikrokosmos der Kanaren kommen die Entwicklungen vielleicht ein wenig verzögert an, vielleicht ein wenig gedämpft, dafür aber überschaubarer. Sinnbild für sie ist der zentrale Platz in La Laguna. „Plaza de la Constitución“, „Plaza de la Republica“ und schließlich „Plaza de la Candelaria“ nach der Schutzheiligen der Kanaren wird er über die Jahre heißen, je nach politischer Lage. Die Familien Bernadotte und Baute sind dabei Gegner. Während Lorenzo als franquistischer Zeitungsverleger agiert und ein beträchtliches Familienvermögen begründet, ist Julio Baute als republikanischer Kurier unterwegs (mit dem Fahrrad!) und landet für Jahre im Gefängnis. Und die unterprivilegierte  Familie der Merche Ruiz Pérez bleibt dort, wo sie immer war – im sozialen Abseits.

Inger-Maria Mahlke ist mit „Archipel“ ein toller Roman mit einer anspruchsvollen, aber überzeugenden Konstruktion gelungen.

Archipel gewann den Deutschen Buchpreis 2018.

Bookster HRO und Letteratura haben den Roman auch bereits besprochen.

Beitragsbild: La Laguna via Pixabay

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Inger-Maria Mahlke - Archipel.

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Inger-Maria Mahlke – Archipel

Rowohlt August 2018, gebunden, 432 Seiten, € 20,00

10 Gedanken zu „Inger-Maria Mahlke – Archipel

  1. Eine sehr beeindruckende Darstellung des Buches, was sich alles andere als mal so neben bei liest. So konnte ich mein Gelesenes auch noch einmal rekapitulieren! Nur eine etwas ausführlichere Meinung hätte ich mir gewünscht, was dir genau gefallen oder missfallen hat. Oder kannst du das nicht so genau benennen?

    1. Ich denke, besonders das rückwärts gewandte Erzählen hat mir gefallen. Dass eine Familiengeschichte eben nicht chronologisch, episch erzählt wird, sondern eben ein wenig „gegen den Strich“. Außerdem mochte ich natürlich auch den Handlungsort, Teneriffa, sehr gerne. Viele Grüße!

  2. Eine tolle Rezension. Ich hatte mich bisher nicht ran getraut und wurde dann doch gestern noch einmal aufmerksam nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises. Ich werde das Buch nun doch mal lesen müssen. ?

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  5. Liebe Petra,
    „Archipel“ liegt hier schon auf dem „Herbstbücherstapel“. Und nach deiner Besprechung kann es ja gar nicht schnell genug gehen, den „Sommerbücherstapel“ endlich zu bewältigen. Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie es mir geht mit der Konstruktion des rückwärtsgerichteten Voranschreibens. Ein Roman kommt mir da immer in Erinnerung – Anna Weidenholzers „Der Winter tut den Fischen gut“ -, der sich auch dieses Erzählprinzips bedient. Das hat mir damals gut gefallen. Allerdings führte diese Erzählweise dann auch zu dem Eindruck, dass alle Ereignisse, weil sie ja auf bestimmten Dingen der Vergangenheit aufbauen, eine fast absolute Folgerichtigkeit bekommen, als hätte es gar keine andere Entwicklung geben können. So bin ich nun sehr gespannt, wie sich das bei Inger-Maria Mahllke liest.
    Viele Grüße, Claudia

    1. Liebe Claudia, mir hat die Konstruktion eigentlich sehr gefallen, auch wenn etliche Leser und Kritiker damit ihre Probleme hatten. Das Gefühl der Unvermeidbarkeit kam bei mir nicht auf. Die Zukunft war immer nur eine der möglichen Optionen, schien mir. Bin gespannt, was du sagen wirst – und die Jury am Montag 😉 Wirst du eigentlich in Frankfurt sein? LG Petra

      1. Nein, ich fahre nicht zur Messe. – Und auf morgen bin ich auch gespannt. Ich habe ja noch nichts gelesen von den diversen langen und kurzen Listen. Aber wie die Jury entscheidet, ist ja immer interessant.
        Einen schönen Abend, Claudia

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