Juan Gabriel Vásquez – Die Gestalt der Ruinen
„Zum letzten Mal hatte ich Carlos Carballo gesehen, als er gerade in einen Polizeiwagen kletterte, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, den Kopf eingezogen; am Bildschirmrand gab eine Textzeile Auskunft über die Gründe seiner Verhaftung: Er hatte versucht, den Anzug eines ermordeten Politikers zu stehlen.“
„Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt hätte, aber wir waren so vertraut miteinander, wie es nur die sein können, die einander täuschen wollten.“
Die Begegnung mit Carlos Carballo lässt den Ich-Erzähler tief in die politische Vergangenheit eintauchen, wird seine Arbeit als Schriftsteller über Jahre bestimmen und führt letztendlich zu dem vorliegenden Buch. Juan Gabriel Vásquez ist Ich-Erzähler des Romans „Die Gestalt der Ruinen“ und gleichsam sein Autor – was wirklich autobiografisch und was Fiktion ist, kann der Leser nur mutmaßen. In einer „Anmerkung des Autors“ betont dieser allerdings, dass es sich um ein „fiktives Werk“ handelt.
„Der Leser, der in diesem Buch Übereinstimmungen mit dem realen Leben sucht, tut dies auf eigene Verantwortung.“
Dabei sind die historischen Ereignisse, von denen erzählt wird, gut dokumentiert und alles andere als fiktiv.
Am 9. April 1948 wurde der liberale Präsidentschaftskandidat in Kolumbien, Jorge Eliécer Gaitán, ein im Volk äußerst populärer Reformpolitiker, vor seiner Anwaltskanzlei in Bogotá erschossen. Der psychisch verwirrte Täter, Juan Roa Sierra, wurde direkt nach der Tat von aufgebrachten Passanten brutal zu Tode geprügelt und seine Leiche geschändet. Seine Alleintäterschaft wurde sofort in Zweifel gezogen und von den Anhängern Gaitáns wurden sehr bald die Konservativen als die Verantwortlichen beschuldigt. Folge war der „Bogotazo“, anfängliche Schießereien, die sich im Laufe des Tages zu einem unkontrollierten Blutvergießen steigerten. Dabei ging das Zentrum von Bogotá vollständig in Flammen auf, mehr als 3000 Menschen verloren ihr Leben. Im sich anschließenden Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, der von 1948 bis 1958 andauerte, verloren mehr als 200.000 Menschen ihr Leben. Durch den Tod Sierras blieben die Tathintergründe für immer im Verborgenen, das lieferte schon bald Material für Verschwörungstheorien.
In Kolumbien sind die Ereignisse nach dem 9. April sehr präsent. Juan Gabriel Vásquez kam 1991 das erste Mal in direkte Berührung mit ihnen, als er Zeuge eines Mordes auf offener Straße wurde, fast genau an der Stelle, an der einst Gaitán sein Leben verlor. Daraus entstand eine frühe Erzählung, in seinem Roman „Die Informanten“ von 2004 wurden die Ereignisse erneut thematisiert.
In „Die Gestalt der Ruinen“ kommt der Ich-Erzähler, Juan Gabriel Vásquez, durch eine zufällige Begegnung mit Dr. Francisco Benavides ins Gespräch, dessen Vater einst die rechtsmedizinischen Untersuchungen zu Gaitáns Tod leitete, und über diesen macht er die Bekanntschaft mit Carlos Carballo. Dieser ist nicht nur von der Ermordung Gaitáns nahezu besessen, sondern bringt sie auch in Verbindung mit anderen ungeklärten Morden an Politikern und sogar mit dem 11. September 2001. Ähnlich wie beim Attentat auf J.F. Kennedy geht er von einem zweiten Schützen aus und von der „Opferung“ des vorgeblichen Alleintäters, um die wahren Hintergründe eines Komplotts zu verschleiern. Carballo ist ein wahrer Paranoiker und lebt praktisch für seine Verschwörungstheorien. Wie diese entstehen und wie man in sie hineingezogen wird, macht Vásquez mit seinem Roman auf packende Weise deutlich.
Der zeitlich am weitesten entfernte Mord in der an politischen Morden reichen, brutalen Geschichte Kolumbiens, auf den sich Carballo bezieht, ist der an General Rafael Uribe Uribe im Jahr 1914. Auch er war Anführer der liberalen Partei und stand Gabriel Garcia Márquez Pate für seinen Oberst Aureliano Buendia in „Hundert Jahre Einsamkeit“. Auch bei diesem Attentat kam der Verdacht auf, dass die zwei verhafteten Handwerker nur Handlanger waren, dass hinter der Tat die Konservativen, die Jesuiten, die Oligarchen und Militärs standen. Der junge Anwalt Marco Tulio Anzola verfolgte diese Theorie vehement, aber letztlich erfolglos. Wir als Leser werden in dessen Nachforschungen, Gedankengänge, Beweisführungen hineingezogen, folgen Carballos Schlussfolgerungen und Recherchen. Und am Ende denkt man: Ja, so könnte es gewesen sein. Die Obsessionen Carballos erscheinen gar nicht mehr so abwegig.
Gerüchte, dunkle Treffen, forensische Untersuchungen, Spekulationen – Klatsch steht neben wissenschaftlichen Dokumentationen. Vásquez unterstreicht dies noch, indem er seinem Roman mit seiner Fülle an Informationen und Details noch Bildmaterial beifügt, meist schlecht und unscharf reproduzierte Fotos, die zur Verunsicherung mehr beitragen als zur Klärung. Was ist Wahrheit? Was ist Wahn? Was Lüge?
Vásquez treibt dabei auch die Frage nach der Belastbarkeit von Erinnerungen um, von verschiedenen Interpretationen der geschichtlichen Wahrheit, letztlich um die Möglichkeit jeder Geschichtsschreibung, aber auch ihrer Notwendigkeit.
Ein Shakespeare Zitat, gesprochen kurz nach der Ermordung Julius Caesars, war Inspiration für den Titel des Romans.
„Ruine bist du des edelsten der Männer, der jemals lebt im Wechsellauf der Zeit.“
Daraus ergibt sich für den Autor ein Auftrag:
„Diese menschlichen Ruinen gemahnten uns an vergangene Irrtümer und waren einmal auch Prophezeiungen gewesen.“
Juan Gabriel Vásquez schreibt mit Die Gestalt der Ruinen einen Geschichtsroman, eine fiktive Autobiografie, einen Detektivroman, einen Thriller, mischt essayistische Passagen und Gedanken über den Schreibprozess in einer enormen Detailfülle und Sorgfalt. Und dennoch bleibt man als Leser mit gespanntem Atem an der Lektüre. Der Argentinier Marcelo Figueras hat das unlängst in seinem Roman „Das schwarze Herz des Verbrechens“ auf ähnliche Weise getan.
Meine ganz große Leseempfehlung gilt für beide.
Beitragsbild: Casa Museo Gaitán by young shanahan (CC BY 2.0) via Flickr
Der Leseschatz hat auch bereits rezensiert.
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Juan Gabriel Vásquez – Die Gestalt der Ruinen
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling September 2018, 528 Seiten, Gebunden, € 26,00
Das freut mich, dass du diesen Roman besprochen hast. Ich hatte ihn in der Verlagsvorschau gesehen und war sofort interessiert. Verschwörungstheorien sind genau mein Ding. 😉
Trotzdem war ich skeptisch, ob das Buch wirklich überzeugt oder eher obskur ist. Dank deinem Urteil werde ich mir das Buch mal nach oben auf meine Wunschliste setzen.
Das freut wirderum mich, lieber Gunnar. Obskur ist das Buch keinesfalls. Sehr spannend und genau geschrieben, für viele vllt. langatmig, könnte ich mir vorstellen, dass es dir gefällt. Du mochtest ja auch „64“ ?