Juan Gabriel Vásquez – Die Gestalt der Ruinen
„Zum letzten Mal hatte ich Carlos Carballo gesehen, als er gerade in einen Polizeiwagen kletterte, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, den Kopf eingezogen; am Bildschirmrand gab eine Textzeile Auskunft über die Gründe seiner Verhaftung: Er hatte versucht, den Anzug eines ermordeten Politikers zu stehlen.“
„Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt hätte, aber wir waren so vertraut miteinander, wie es nur die sein können, die einander täuschen wollten.“
Die Begegnung mit Carlos Carballo lässt den Ich-Erzähler tief in die politische Vergangenheit eintauchen, wird seine Arbeit als Schriftsteller über Jahre bestimmen und führt letztendlich zu dem vorliegenden Buch. Juan Gabriel Vásquez ist Ich-Erzähler des Romans „Die Gestalt der Ruinen“ und gleichsam sein Autor – was wirklich autobiografisch und was Fiktion ist, kann der Leser nur mutmaßen. In einer „Anmerkung des Autors“ betont dieser allerdings, dass es sich um ein „fiktives Werk“ handelt.
„Der Leser, der in diesem Buch Übereinstimmungen mit dem realen Leben sucht, tut dies auf eigene Verantwortung.“
Dabei sind die historischen Ereignisse, von denen erzählt wird, gut dokumentiert und alles andere als fiktiv.
In „Die Gestalt der Ruinen“ kommt der Ich-Erzähler, Juan Gabriel Vásquez, durch eine zufällige Begegnung mit Dr. Francisco Benavides ins Gespräch, dessen Vater einst die rechtsmedizinischen Untersuchungen zu Gaitáns Tod leitete, und über diesen macht er die Bekanntschaft mit Carlos Carballo. Dieser ist nicht nur von der Ermordung Gaitáns nahezu besessen, sondern bringt sie auch in Verbindung mit anderen ungeklärten Morden an Politikern und sogar mit dem 11. September 2001. Ähnlich wie beim Attentat auf J.F. Kennedy geht er von einem zweiten Schützen aus und von der „Opferung“ des vorgeblichen Alleintäters, um die wahren Hintergründe eines Komplotts zu verschleiern. Carballo ist ein wahrer Paranoiker und lebt praktisch für seine Verschwörungstheorien. Wie diese entstehen und wie man in sie hineingezogen wird, macht Vásquez mit seinem Roman auf packende Weise deutlich.
Gerüchte, dunkle Treffen, forensische Untersuchungen, Spekulationen – Klatsch steht neben wissenschaftlichen Dokumentationen. Vásquez unterstreicht dies noch, indem er seinem Roman mit seiner Fülle an Informationen und Details noch Bildmaterial beifügt, meist schlecht und unscharf reproduzierte Fotos, die zur Verunsicherung mehr beitragen als zur Klärung. Was ist Wahrheit? Was ist Wahn? Was Lüge?
Vásquez treibt dabei auch die Frage nach der Belastbarkeit von Erinnerungen um, von verschiedenen Interpretationen der geschichtlichen Wahrheit, letztlich um die Möglichkeit jeder Geschichtsschreibung, aber auch ihrer Notwendigkeit.
Ein Shakespeare Zitat, gesprochen kurz nach der Ermordung Julius Caesars, war Inspiration für den Titel des Romans.
„Ruine bist du des edelsten der Männer, der jemals lebt im Wechsellauf der Zeit.“
Daraus ergibt sich für den Autor ein Auftrag:
„Diese menschlichen Ruinen gemahnten uns an vergangene Irrtümer und waren einmal auch Prophezeiungen gewesen.“
Meine ganz große Leseempfehlung gilt für beide.
Beitragsbild: Casa Museo Gaitán by young shanahan (CC BY 2.0) via Flickr
Der Leseschatz hat auch bereits rezensiert.
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Juan Gabriel Vásquez – Die Gestalt der Ruinen
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling September 2018, 528 Seiten, Gebunden, € 26,00
Das freut mich, dass du diesen Roman besprochen hast. Ich hatte ihn in der Verlagsvorschau gesehen und war sofort interessiert. Verschwörungstheorien sind genau mein Ding. 😉
Trotzdem war ich skeptisch, ob das Buch wirklich überzeugt oder eher obskur ist. Dank deinem Urteil werde ich mir das Buch mal nach oben auf meine Wunschliste setzen.
Das freut wirderum mich, lieber Gunnar. Obskur ist das Buch keinesfalls. Sehr spannend und genau geschrieben, für viele vllt. langatmig, könnte ich mir vorstellen, dass es dir gefällt. Du mochtest ja auch „64“ ?