„Das Leben des Vernon Subutex“ Teil 1 bis 3, zwischen 2015 und 2017 in Frankreich erschienen, hat die dortige Literaturwelt ordentlich durchgeschüttelt und die ehemalige Skandalautorin Virginie Despentes in den Autorenolymp, gleich neben Michel Houellebecq, befördert. Seit 2016 ist sie Mitglied der renommierten „Académie Goncourt“.
Auch in Deutschland wurde die Trilogie, die nun mit Band 3 ihren Abschluss fand, bei Kritik und Lesern sehr gut aufgenommen. Scharf und schonungslos beleuchtet Despentes darin die französische Gesellschaft und die Entwicklungen der letzten Jahre und bietet reichlich Parallelen, die sich auch auf andere europäische Länder leicht übertragen lassen.
In Teil 1 war dies vorwiegend der soziale Abstieg der Titelfigur, des ehemaligen Schallplattenhändlers Vernon Subutex. Von der Digitalisierung überrollt, die Entwicklung aber auch ignorierend und in der Party- und Drogenwelt seiner Jugend feststeckend, verliert dieser erst seinen Laden, dann die soziale Absicherung und schließlich seine Wohnung. Er wird zunächst von einem umfangreichen Freundeskreis aufgefangen, da er sich selbst aber immer mehr zurückzieht, endet er schließlich auf der Straße als einer von so vielen Obdachlosen in einem vor Reichtum strotzenden Paris, in dem die Mieten für Normalsterbliche nahezu unbezahlbar sind. Wie weit die sozialen Sicherungsnetze im Zuge der Neoliberalisierung auch im Land der „Liberté, Égalité, und Fraternité“ aufgelöst wurden, wird sehr deutlich, der gesellschaftskritische Ansatz der Subutex-Trilogie ist schon im ersten Band klar erkennbar. In Sprache und Inhalt ist dieser erste Teil deutlich rüder als die nachfolgenden. Wie steht es so schön in „Wikipedia“:
„Menschen, die in Bezug auf Arbeit, Wohnung und Familie der gesellschaftlichen Normalität entsprechen, kommen kaum vor.“
Tatsächlich ist das Umfeld, in dem sich Vernon Subutex bewegt, eines mit sehr viel „Sex, Drugs and Rock´n´Roll“, Künstler, Musiker, Partypeople, die zwar alle mittlerweile eine halbwegs bürgerliche Existenz führen, darin aber zumeist, zumindest auf persönlicher Ebene, gescheitert sind. Vereinsamung und Verrohung in den neoliberalen Zeiten – das ist ein Stichwort. Und die zunehmende finanzielle Krise, die Europa und die ganze Welt erfasst hat, schürt die Ängste zusätzlich. Die Ängste und die Ressentiments, auch bei etlichen der vielen Figuren, die wir rund um Vernon Subutex kennenlernen und die vielleicht kein repräsentatives gesellschaftliches Spektrum bieten, aber doch eine ganze Reihe der unterschiedlichsten politischen Positionen und eines verdeutlichen: die modernen Gesellschaften, und das ganz gewiss nicht nur in Frankreich, sind zutiefst gespalten.
Aber, das skeptische Gefühl täuschte nicht, Band 3 bringt nun das Grüppchen Aussteiger zu einem ernüchternden Ende.
Virginie Despentes war gerade bei der Niederschrift dieses letzten Teils, als sich in Frankreich die fürchterlichen Attentate von 2015/16 ereigneten. Charlie Hebdo, Bataclan, später dann Nizza – die schreckliche Gewalt, die sich dort entladen hat, die tiefe Verunsicherung der Menschen, die Ratlosigkeit darüber, wie es weitergehen soll, hat sich auch im Roman niedergeschlagen.
Auch die Gruppe um Vernon, die sich immer wieder mehr oder weniger lose zusammengefunden hat zu sogenannten „Convergences“, zu Raves an wechselnden Lokalitäten, einem „Wegtanzen“ der bedrückenden Gegenwart (und lohnendem Geschäftsmodell, da man sie nach außen hin öffnete), löst sich zunehmend auf. Ausgerechnet Vernon, der dort immer sehr erfolgreich die Musik auflegte, hat eines Tages genug und verlässt die Gruppe. Vorausgegangen sind Streitigkeiten um das Erbe von Charles, einem ehemaligen Obdachlosen, der sich der „Bande“ angeschlossen hatte und ihr nach seinem Tod die Hälfte eines geheim gehaltenen Lotto-Millionengewinns vermacht hat. Nicht nur mit seiner Witwe Véro, sondern auch innerhalb der Gruppe kommt es zu Reibereien und Misstrauen. Die Gruppe zerfällt mehr und mehr. Außerdem hat auch Filmproduzent Dopalet noch eine Rechnung mit ihnen offen, besonders mit den untergetauchten Mädchen Aïcha und Céleste. Die apokalyptischen Schatten, die die Terroranschläge werfen, und die durch den immer wieder erwähnten Tod des Musikidols David Bowie zusätzlich verdunkelt werden, lassen nichts Gutes ahnen. Und doch denkt die Leserin lange Zeit: „Das kann sie doch nicht machen! Das geht doch nicht!“ Oh doch, Virginie Despentes kann!
Immer noch rau und schonungslos, aber nicht mehr so provokant wie in Teil 1, dabei immer mit dieser liebevollen Verbundenheit mit ihren Protagonisten, führt Despentes auf ein apokalyptisches Ende hin. Davor gibt es manch rasante Wendung. Und auf den letzten sechs Seiten führt uns die Autorin bis ins Jahr 2286 hinein.
„Gegen jede Erwartung wird also weitergetanzt, im Dunkeln und zu einer primitiven Musik, deren Kult auch am Ende des dritten Jahrtausends nicht aussterben will.“
Wieviel dabei Augenzwinkern, wieviel Rufen im dunklen Wald und wieviel Hoffnung ist, kann jeder Leser selbst entscheiden.
Mit ihrem Abschlussband von Das Leben des Vernon Subutex hat Virginie Despentes für mich auch den Höhepunkt der Trilogie erreicht. Zwischendurch plätschert die Handlung zwar immer mal wieder ein bisschen dahin, aber nur, um dann am Ende furios an Spannung zuzulegen. Ich glaube immer noch nicht ganz an dieses Ende und wehre mich auch ein wenig dagegen. Aber es ist grandios.
Auch ist für mich der dritte Teil der deutlich politischste. Welche Statements die Autorin ihren Protagonisten, von denen sie gewohnt multiperspektivisch erzählt, in den Mund legt, ob man zustimmt oder krass ablehnt – haften bleiben sie alle.
Wer also noch nicht mit Vernon Subutex begonnen hat, sollte das schleunigst nachholen. Aber unbedingt bei Teil 1 anfangen, auch wenn jedem Teil eine kleine Zusammenfassung vorangestellt wird. Und auch nicht von der rüden Sprache der Autorin abschrecken lassen. Die Vernon Subutex-Trilogie ist große zeitgenössische Literatur!
Hier nochmal der Link zu meiner Besprechung von Teil 1 und 2.
Weitere Besprechungen findet ihr auf dem Grauen Sofa und bei Books not dead.
_____________________________________________________
*Werbung*
Ich habe auch vor kurzem mit der Trilogie begonnen und bin sehr angetan.
Nur die deutsche Übersetzung wirkt, finde ich manchmal so, als ob die Veröffentlichung sehr schnell gehen musste.
Ich kann leider nicht mit dem Original vergleichen, das wäre sicher spannend. Ein wenig geht in den Übersetzungen aber sicher immer verloren. Viele Grüße!
Ich habe mich für die Hörbuchversion entschieden und stecke gerade mitten im zweiten Teil. Es ist so anders als andere Bücher. Interessant konstruiert, hart, schonungslos und trotzdem irgendwie schön!
Viele liebe Grüße
Silvia
Stimmt. Gut, dass es auch als Hörbuch funktioniert, bei all den verschiedenen Perspektiven. Viele schöne Hörstunden weiterhin! LG
Ach Mensch, Petra, ich habe doch erst eine Reihe – Ferrantes große Geschichte – zu Ende gebracht. Jetzt schon wieder ein mehrbändiger Roman? Aber ich habe schon immer mal mit dem ersten Band geliebäugelt, da ich seit einiger Zeit Gefallen an der französischen Literatur gefunden habe. Danke für Deine wundervolle Besprechung, die ich als Anstoß und Impuls werte. Viele Grüße
Tut mir sehr leid, wenn ich dich da in Versuchung führe (hihi). LG
Liebe Petra,
ja, ich wehre mich auch gegen das Ende. Natürlich hat es auch etwas zu tun mit der emotionalen Verfasstheit der Franzosen, das schreibst du ja auch noch einmal. Und hat die Lektorin nicht auch erzählt, dass Despantes den dritten Band nach diesen Terrorereignissen noch einmal um- und neugeschrieben hat? Vielleicht hat das furiose Ende auch dramaturgische Gründe. Da denke ich gerade noch einmal drüber nach, komme aber überhaupt nicht zum Schreiben… Jedenfalls finde ich die Romane, wenn auch manchmal hart, sprachlich nicht immer so auf meiner Schiene, weil die Sprache oft eben nicht wirklich „poetisch“ ist, richtig gut. Als Literatur auch innovativ, jedenfalls habe ich eine solche Serie noch nie gelesen.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, ja, besonders der erste Teil hat mich auch ganz schön gefordert angesichts der Rohheit, die da herrscht, mag ich an und für sich auch nicht so. Hier passt es (und wird auch etwas weniger). Stimmt, auf der LitblogCon hat die Lektorin davon erzählt. Ich fand es auch spürbar, dieses unmittelbar erschüttert sein. Insgesamt wirklich beeindruckend . LG
Eine sehr schöne, alle drei Bände umfassende Besprechung, mit der du mir diese Trilogie aber nochmal so richtig gut duftend unter die Nase gehalten hast. Allerspätestens mit dem „Ich glaube immer noch nicht ganz an dieses Ende und wehre mich auch ein wenig dagegen. Aber es ist grandios.“ hast du mich voll und ganz davon überzeugt, dass es nicht beim Kauf des ersten Bandes bleiben wird. Und dann müsste ich sie mir eigentlich auch alle in einem Schwung vornehmen.
Danke für diesen tollen Text, Petra!
Liebe Grüße
Stefan
Lieber Stefan, freut mich immer besonders, wenn ich dich am Haken habe 😉 Bin sehr gespannt, solltest du dich für Vernon entscheiden, was du sagen wirst. Liebe Grüße, Petra
Du bist im „Angeln“ äußerst begnadet. 🙂 Der erste Vernon steht hier ja bereits, die nächsten werden bald folgen. Und dann mal sehen, wann ich die Zeit finde. *hust*
?