Trotz der intensiven Buchmessenwoche, in der ich wie üblich kaum zum Lesen kam, sieht die Oktober-Lesebilanz doch sehr positiv aus. Durchweg gute bis sehr gute Bücher durfte ich kennenlernen. Dagegen bin ich bei den Rezensionen doch ein wenig im Hintertreffen. Aber alles geht nicht. Nach und nach werde ich die Besprechungen nachliefern, denn zu sagen gibt es viel über die Lektüre Oktober 2018.
Der französische Autor Jean-Philippe Blondel, Jahrgang 1964, schreibt seit 2003 sehr schmale, ruhige und sehr persönliche Romane, von denen mittlerweile sechs auf Deutsch erschienen sind.
In „Ein Winter in Paris“ löst der Brief eines Mannes, der für kurze Zeit im Leben des Erzählers Victor eine bedeutende Rolle gespielt hat, eine Erinnerungswelle aus. Patrick Lestaing ist der Vater eines Jungen, mit dem sich Victor während der Vorbereitungskurse zum Lehrerexamen angefreundet hatte. Ein Jahr unter ihm, aber genauso einsam in den Reihen der „höheren Söhne und Töchter“ an diesem renommierten Pariser Lycée, und genauso unter dem Leistungsdruck leidend, fühlte Victor zum ersten Mal eine gewisse Nähe zu einem der Mitschüler. Doch eines Morgens musste er den Selbstmord Mathieus miterleben, dieser stürzte sich während des Unterrichts im Treppenhaus des Lycées zu Tode.
Der eigene Kummer, die Trauer von Mathieus Vater, widerstreitende Gefühle, die er erlebte, als er merkte, dass er plötzlich für seine Mitschüler interessant geworden war, eie stets benötigt Jean-Philippe Blondel keine zweihundert Seiten, um diese Geschichte zu erzählen, wie immer sehr nah an Autobiografischem, knapp, sensibel, zart und auf den ersten Blick sehr leicht daherkommend. Immer steckt dahinter aber eine tiefe Melancholie, immer werden auch die ganz großen Fragen gestellt.
Ein furioses Ende für eine atemberaubende Trilogie! Durch viele Seiten konnte der Leser dem ehemaligen Schallplattenhändler Vernon Subutex und einer großen Anzahl seiner Weggefährten durch ein erschreckend aktuelles Frankreich begleiten. „Die Armut hatte sich ausgebreitet, als hätte jemand in den Straßen und U-Bahn-Gängen einen Sack Unglück ausgekippt.“ Die Gesellschaft ist gespalten wie seit langem nicht mehr, Ängste und Ressentiments wachsen. In „Vernon Subutex 3“ gelingt es Vernon und einigen Getreuen eine Weile, auszusteigen, bei „Convergences“ den Frust und die Furcht wegzutanzen, eine Art Utopie in der Kommune. Das wird nicht gelingen, so viel ist eigentlich schon zu Beginn klar. Wie apokalyptisch Virginie Despentes ihr Epos enden lässt, hat mich dann doch umgehauen. Geschrieben wurde es unter den Eindrücken der grauenhaften Attentate in Frankreich in den Jahren 2015/16. Dass sich nicht nur in Frankreich dringend etwas ändern muss, ist schmerzhaft klar. Aber es muss in den Köpfen der Menschen geschehen, das macht es so schwierig. Eine unverzichtbare Lektüre!
Ein schmales Buch der italienischen Schriftstellerin Donatella di Pietrantonio. „Arminuta“ – die Zurückgekommene wird sie in ihrem Dorf genannt. Denn 1975 kehrt sie dreizehnjährig in ihre Familie zurück, von der sie bislang gar nichts wusste. In einer Pflegefamilie in geordneten, gutbürgerlichen Verhältnissen groß geworden, kommt die nun zurück in Armut und Enge, zu fünf Geschwistern und völlig überforderten, abgestumpften Eltern, ohne zu wissen, warum. Niemand redet offen mit ihr. Ein schwerer Weg. Aber er führt zu völlig neuen Erfahrungen der Liebe, der Solidarität, der Zugehörigkeit. Ein berührender Roman, ohne jeden Kitsch und jedes Pathos.
Elena Ferrantes Debütroman „Lästige Liebe“ beinhaltet schon fast alles, was man später bei der Neapolitanischen Trilogie findet. Hier geht es um die äußerst ambivalente Beziehung der Ich-Erzählerin zu ihrer Mutter, die auf dem Weg zu ihr plötzlich verschwindet und kurz darauf tot an einem Strand aufgefunden wird. Unfall? Selbstmord? Mord? Die Erzählerin wird tief in ihre Vergangenheit gezogen und mit einem lang verdrängten Geheimnis konfrontiert.
Patrick Modiano ist einer meiner liebsten Autoren. All seine sehr schmalen Romane scheinen dieselbe Geschichte zu variieren und in ihnen allen scheint die Geschichte des Patrick Modiano zu stecken. Flirrend, schwebend, rätselhaft und uneindeutig erzählen sie alle von der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, von der existentiellen Erfahrung des Verlassenseins, des Verlusts, der Unwägbarkeit. Ich bin dem Zauber Modianos auch in „Schlafende Erinnerungen“ sehr gerne gefolgt. Und Paris spielt wie immer mit seinen Straßen und Plätzen eine der Hauptrollen.
Sehr positiv überrascht hat mich Bodo Kirchhoff mit seinem autobiografischen Roman „Dämmer und Aufruhr„. Ich kann mit seinen Romanen, seiner schwülen, stets präsenten Erotik wenig anfangen und konnte auch dem Buchpreisträger „Widerfahrnis“ seinerzeit kaum etwas abgewinnen. Eine Mitarbeiterin der FVA hat mir das Buch aber ans Herz gelegt und tatsächlich, ich fand es großartig. „Roman der frühen Jahre“ erzählt von Kindheit und Jugend, dem allzu frühen Heranführen an die Sexualität, die Obsession, die daraus entstanden sein mag, aber auch von der großen Einsamkeit eines Kindes zweier Menschen, denen die Selbstentfaltung stets wichtiger war als das Kindeswohl. Ein wenig wird mir das Werk Kirchhoffs nun schon verständlicher. Diskussionswürdig ist natürlich die Darstellung des Missbrauchs durch einen Lehrer am Internat. Vom Schüler Bodo durchaus auch als Glück empfunden, wird er sehr ambivalent dargestellt. Das mag man gar nicht so stehen lassen. Dass das Kind dadurch versehrt wurde, ebenso durch den an Missbrauch grenzenden Umgang der Mutter, wird für mich aber überaus deutlich. Stilistisch meisterhaft und perfekt konstruiert!
„Loyalitäten“ von Delphine de Vigan ist eine berührende Sozialstudie. Multiperspektivisch wird auf den elfjährigen Theo geschaut, der zerrieben wird zwischen den in Scheidung lebenden Eltern, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Theo sucht Trost und Vergessen beim Alkohol. Freunde, Lehrer, Nachbarn müssten eigentlich sehen, was da vor sich geht. Aber nur eine engagierte Lehrerin reagiert. Doch ihr werden Steine in den Weg gelegt, bis es zu spät ist. Klar, lakonisch, sehr aufwühlend.
Und schließlich noch eine Sozialstudie, diesmal aber in einem eher heiteren Buch der spanischen Autorin Almudena Grandes. Es geht um die „Kleinen Helden„, die im Spanien nach der großen Wirtschaftskrise versuchen, zurande zu kommen. Episoden, die sich zu einem Gesamtbild einer tief versehrten Gesellschaft fügen und die bei aller Leichtigkeit doch zutiefst engagiert und sozialkritisch sind. Ein Madrider Stadtviertel als Spiegel der spanischen Gegenwart – hat mir sehr gut gefallen.
Das war meine Lektüre im Oktober 2018. Nun beginnt die eigentliche Lesezeit des Jahres. Wenn der Garten erst einmal winterfest gemacht wurde, bleibt dann auch noch mehr Zeit. Darauf freue ich mich sehr, auch wenn ich eigentlich ein absoluter Sommer-Fan bin. Mitte November wird die Shortlist des Debüt-Bloggerpreises bekannt gegeben. Da ich dort Mitglied der Jury bin, wird dann sicher noch einiges an Lesestoff auf mich zukommen. Und auch bis dahin geht mir das Lesefutter gewiss nicht aus.
Ich wünsche euch einen gemütlichen Lese-November!
Wenn ich deinen Rückblick lese, freue ich mich noch mehr auf Despentes, Teil 1 liegt schon bereit. 🙂
Dann wünsche ich dir viel Freude dabei, wobei Freude vielleicht nicht das richtige Wort ist. Bin gespannt, was du dazu sagen wirst. Viele Grüße!
Schöne Rückschau – wenngleich ich gestehen muss, dass mich keines der Bücher irgendwie anspricht. Aber schön, dass du Gefallen an den Titel gefunden hast!