Was Loyalitäten für sie bedeuten, hat Delphine de Vigan gleich zu Beginn ihres neuen, gleichlautenden Romans definiert.
„Das sind die unsichtbaren Verbindungen, die uns mit den anderen – den Toten wie den Lebenden – verbinden, leise gemachte Versprechungen, deren Auswirkungen wir nicht kennen, still gehaltene Treue, das sind Verträge, die wir hingenommen, aber nie gehört haben, und in den Nischen unserer Erinnerungen nistende Schulden.“
„Das sind die Sprungbretter, auf denen sich unsere Kräfte entfalten, und die Gruben, in denen wir unsere Träume begraben.“
Um verschiedene Arten von Loyalitäten dreht sich der Roman, und dass der Begriff nicht nur positiv besetzt ist, wird damit auch gleich von Anfang an klar.
Da ist der zwölfjährige Théo, der zwischen den geschiedenen Eltern zerrieben wird. Vermeintlich zum Kindeswohl wurde die Regelung getroffen, dass ihm zwei Zuhause zur Verfügung stehen, wöchentlicher Wechsel inklusive. So verliert er zu keinem Elternteile die Beziehung, so der Gedanke. Wie sehr er sich aber dabei aufreibt, ständig seine Sachen von Wohnung A in Wohnung B zu befördern, niemals etwas Wichtiges in A zu vergessen, was er dann in B braucht, die Unruhe, die dadurch zustande kommt – das wurde nicht bedacht. Ganz abgesehen vom Nervenkrieg, den der Junge aushalten muss. Die Mutter ist immer noch voller Hass auf den Vater, der sie wegen einer anderen Frau verlassen hat. Sie verweigert jeden Kontakt, schweigt ihn tot, reagiert übermäßig gekränkt, so dass Théo sich nicht einmal traut, von seinen Tagen beim Vater zu erzählen. Loyalität zur Mutter also. Die Rückkehr vom Vater ist jedes Mal erneut nervenaufreibend für Théo.
Dabei gäbe es so viel zu erzählen. Der Vater ist nämlich, nachdem er, der Ingenieur, arbeitslos geworden ist und ihn daraufhin auch noch die Freundin, der Scheidungsgrund, verlassen hat, in eine unaufhaltsame Depression abgeglitten. Er ist abhängig von Psychopharmaka, lässt zunehmend sich selbst und seine Wohnung verwahrlosen. Die Wohnung, die auch alle zwei Wochen Théo ein Heim sein soll. Aber davon darf er nicht sprechen, sonst würde die Mutter dem Vater den Umgang verbieten lassen. Loyalität zum Vater.
Théo ist eigentlich ein guter Schüler. Zu still zwar, mit zu wenig Anschluss in der Klasse, aber guten Leistungen. Nur in letzter Zeit ist er sehr müde, unkonzentriert, irgendwie bedrückt. Seine Lehrerin Hélène ist aufmerksam genug, das zu bemerken. Sensibilisiert durch eigene Erfahrungen in der Kindheit, vermutet sie aber, dass Théo Opfer häuslicher Gewalt sei. Immerhin schaut sie hin, will mobilisieren, ihrem Schüler gegenüber loyal sein. Sie scheitert an der Schulbürokratie und der Ignoranz von Théos Mutter. (Einzig ihr Kollege und Freund Fréderic zeigt ihr gegenüber Loyalität).
Théo hat nicht viele Freunde, aber Mathis hält fest zu ihm. Auch er ist eher ein Außenseiter und sehr glücklich über diese Freundschaft. Anfangs macht er auch mit, als Théo Alkohol anschleppt. Verborgen in einer geheimen Ecke der Schule experimentieren die Beiden mit allem Möglichen. Das ist anfangs spannend. Aber aus Bier wird bald Wodka und Mathis packt zunehmend die Angst. Aber er verrät seinen Kumpel nicht, er bleibt loyal.
Wem soll er auch davon erzählen? Seine Mutter ist vollauf mit sich beschäftigt. Um ihre Ehe mit William ist es nicht mehr zum Besten bestellt, jeden Abend schließt der sich stundenlang im Arbeitszimmer ein, und was er dort treibt, und was Cécile eines Tages herausfindet, ist anders als vermutet, reißt ihr aber auch den Boden unter den Füßen weg. Doch auch sie schweigt, genau, aus Loyalität.
Multiperspektivisch und auch dadurch so authentisch analysiert Delphine de Vigan die Beziehungsgeflechte zwischen ihren Personen. Loyalitäten, die die Grundlage jeder Beziehung, jeder Gemeinschaft, ja jeder Gesellschaft sind, erweisen sich als auch problematisch.
Es ist ein Roman, der für das Hinschauen plädiert, für das Handeln, gerade in Zeiten, in denen Familien zunehmend nicht mehr funktionieren, aber auch die Gesellschaft als Ganzes oft nicht. Die vielen Fälle von Vernachlässigung und Gewalt im häuslichen Umfeld, bei denen die Kontrollmechanismen nicht griffen, sind erschreckend genug. Aber auch eine Stufe darunter, wenn es nur um die Überforderung der Kinder geht, sei es in der Schule oder im familiären Umfeld: Hinschauen! Die Zeit ist schnelllebig, oberflächlich, fordernd, individualistisch. Kinder sind dem oft nicht gewachsen.
Delphine de Vigan fühlt sich tief in ihre Charaktere ein. Sehr gelungen finde ich, dass die beiden Frauen, Hélène und Cécile in der Ich-Form erzählen, die beiden Jungen aber in der Er-Form beleuchtet werden. Die Autorin spürt, dass sie von deren Erlebniswelt doch einiges entfernt ist und die Ich-Perspektive da leicht verrutschen könnte.
Mit 173 Seiten ist das Buch sehr schmal, das ist de Vigans knappem, analytischem Stil geschuldet. Da ist kein Platz für irgendeine Rührseligkeit. Das macht das Buch für mich aber umso eindringlicher.
Ein weiterer intensiver Roman von Delphine de Vigan ist Nach einer wahren Geschichte
Eine weitere Rezension auf Books not dead
Beitragsbild via pxhere CC0
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.Delphine de Vigan – LOYALITÄTEN
aus dem Französischen von Doris Heinemann
Dumont September 2018, 176 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, € 20,00
Das klingt sehr spannend und vielschichtig. Letzthin gab es bei Zeilensprünge schon so eine tolle Besprechung. Jetzt hast du mich überzeugt, dass ich es lesen muss.
Viele Grüße!
Oh, da bin ich gespannt. Sprachlich ist es nicht sehr kunstvoll, inhaltlich aber packend. Viele Grüße!