Pinch, der eigentlich so liebevoll klingende Kosename, den Bear Bavinsky seinem kleinen Sohn Charles verleiht, liegt auf diesem wie eine Last. Pinch, nach den leckeren kleinen Häppchen, Pinxtos, die der berühmte, genialische Maler-Vater einst im Baskenland so gern genascht hat. Ein Kosename, der unweigerlich verniedlicht, verkleinert, ein Gefühl, dem Charles so gerne entwachsen würde, und das er doch zumindest zu Lebzeiten des Vaters, nie los wird. Tom Rachman zeichnet in Die Gesichter die schwierige Vater-Sohn-Beziehung zwischen Pinch und Bear Bavinsky nach.
Dieser Bear Bavinsky ist Maler, ein als genial verehrter, ein exaltierter, ein eigensinniger Künstler, der mit seinen großformatigen Gemälden von Körperteilen in Nahaufnahme, immer ohne Gesichter, die Kunstwelt in Aufregung versetzt. Der Markt verlangt nach Bavinsky und bald erzielen seine Bilder Rekordsummen. Ein Hype, der vom Künstler selbst noch angeheizt wird, dadurch, dass er seine Werke ausschließlich an öffentliche Sammlungen veräußern möchte und einen Großteil seiner Gemälde direkt nach der Fertigstellung vernichtet, in großen Ölfässern verbrennt, wenn sie seinen Ansprüchen nicht hundertprozentig genügen. Eine Exzentrik, die seinen Marktwert genauso anheizt wie sein ausschweifendes Privatleben.
Man könnte ihn auch egomanisch nennen, oder bindungsunfähig, oder schlicht rücksichts- und verantwortungslos. In zahllosen Affären und einigen Ehen zeugt er insgesamt 17 Kinder, um die er sich aber genauso wenig kümmert wie um die dazu gehörigen Mütter, sobald sie ihre Funktion als Muse und Liebhaberin erfüllt haben.
So geht es auch der Mutter von Charles, Nathalie, einer jungen kanadischen Künstlerin, die ihre Töpferei fast vollständig aufgegeben hat, nachdem sie Bavinskys Frau geworden ist. Dieser hat ihre Kunst sowieso nie ernst genommen, und neben einem solch übergroßen Ego hat ein Anderer natürlich keinen Platz. Die Welt dreht sich um Bear Bavinsky, und um sonst nichts.
Die beiden leben in Rom und dort wird 1950 auch der kleine Charles geboren. Sie verkehren in der italienischen Bohème, aber als Bavinsky sich von Nathalie zurückzieht, ist es für diese schwer, sich dort über Wasser zu halten. In London versucht sie einen Neuanfang, gleitet aber immer mehr in Depressionen ab.
Pinch wehrt sich zunehmend gegen die große Nähe zu seiner Mutter, sucht sich einen Studienplatz in Toronto, wo er bei seiner Tante leben kann. Gleichzeitig träumt er aber von einem Leben als gefeierter Künstler, seinem Vater, den er trotz dessen Gleichgültigkeit liebt und verehrt, ebenbürtig. Dass Bear ihn in dieser Hinsicht nicht ermutigt, ist so grausam wie folgerichtig. Es gibt keine Götter neben dem großen Bavinsky.
Trotzdem kann man Bear ein gewisses Charisma nicht absprechen. Er kann sehr charmant sein, auch liebevoll, betont immer wieder, dass Pinch sein Lieblingskind sei und ihm sehr wichtig, zumindest in den Augenblicken, in denen sie zusammen sind. Bis zu seinem Tod treffen die beiden sich regelmäßig im Ferienhaus in den südfranzösischen Pyrenäen, wo Bear auch malt und den Großteil seiner Bilder aufbewahrt.
Tom Rachman wagt in „Die Gesichter“, was viele Romane heutzutage nicht mehr wagen, es erzählt ein ganzes Leben, das von Charles, von der Geburt bis zum Tod, und das in konventioneller Manier, auktorial, auf seine Perspektive konzentriert, strikt chronologisch. Es ist aufgeteilt in fünf Abschnitte, die von Kindheit bis zum Nachleben reichen. Die Studienzeit, die lebenslange Freundschaft mit dem Kommilitonen Marsden, die scheiternde Liebe zu Scilla, seine Jahre als Italienisch-Lehrer (Originaltitel „The Italian Teacher“) in London und die Zeit als Erbe seines berühmten Vaters sind Stationen darin. In letzterem Abschnitt bekommt Charles noch einmal die Möglichkeit, eine genialische „Rache“ an seinem Vater und dem gesamten Kunstbetrieb zu nehmen. Dieser und seine Mechanismen werden mit beißender Ironie beleuchtet und so manche Idiotie darin bloßgestellt.
Im Grunde ist „Die Gesichter“ aber in eine sehr traurige Vater-Sohn-Geschichte. Nein, eigentlich nur eine Sohn-Geschichte. Ein Sohn, der gegen die erdrückende Übermacht seines Vaters kämpft, verzweifelt um dessen Aufmerksamkeit, Achtung und Liebe ringt, und darüber nicht nur die Liebe seiner Mutter übergeht, sondern auch sehr lange nicht seinen Platz im Leben finden kann.
Tom Rachman seziert dieses Leben geradezu, er erzählt davon nüchtern, präzise. Große Gefühle kommen da nicht auf, Larmoyanz schon mal gar nicht. Am ehesten ein ungläubiges Kopfschütteln darüber, auf wie vielfältige Weise Leben scheitern können. Das ist erschütternd und sehr sehr gut zu lesen.
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Tom Rachman – Die Gesichter
aus dem Englischen von
dtv Literatur, gebunden, 416 Seiten, 22,00 €
Danke für die Verlimkung, liebe Petra. Du hast Recht, eigentlich ist Die Gesichter eine „Sohn“-Geschichte. Liebe Grüße
Eva
Sehr gerne!