Patrick Modiano, der Träger des Literaturnobelpreises von 2014, ist ein mich besonders faszinierender Autor. Sein reiches, wenn auch stets sehr schmales Werk begleitet mich schon seit sehr vielen Jahren und zieht mich mit jedem neu erscheinenden Buch erneut in seinen Bann. Modiano scheint stets das gleiche Buch zu schreiben. Wie musikalische Variationen drehen sich alle Titel um sein eigenes Leben, seine Kindheit und Jugend in den 50er und 60er Jahren, die eine ganz besondere war und wohl das Gefühl der Unsicherheit, Leere und Melancholie begründete, das in allen Texten herrscht, und die Wurzeln, die weit in die Zeit der deutschen Besatzung zurückreichen. Etwas zwischen Traumwelt und Erinnerungen hinterlässt auch bei der Leserin etwas Flirrendes, schwer einzuordnendes. Über die Jahre habe ich mir vorgenommen das gesamte Werk von Patrick Modiano zu lesen. Über die Jahre entstanden auch die Leseeindrücke, die ich hier versammeln möchte. Die Erscheinungsdaten beziehen sich auf die französischen Originalausgaben.
Wird fortgesetzt!
Patrick Modiano – Place de l’Étoile (1968)
dt. von Elisabeth Edl
„Ein Wurf – und in gewisser Weise Modianos heftigstes, grellstes und lautestes Buch.“ Manfred Papst, NZZ am Sonntag
Nicht nur in gewisser Weise. Dieses erst spät auf Deutsch veröffentlichte Erstlingswerk (1968), eine fingierte Autobiografie über jüdische Lebenswege im besetzten Frankreich hat mir wenig Freude bereitet. Zum Glück hatte ich das Buch erst relativ spät gelesen. Ich konnte allerdings dieser Phantasmagorie, diesem wüsten Traum wenig abgewinnen. Zwar tauchten hier bereits einige Personen, Motive und Orte auf, die Modiano bis heute verfolgt – der Vater, Paris der Besatzungszeit, zwielichtige Typen, Savoyen, Heimatlosigkeit -, die Umsetzung und vor allem die zahllosen Verweise auf Personen und Ereignisse aus der französischen Literatur und Geschichte haben mich dazu gebracht, nur noch über das Erzählte drüber zu fliegen, wohl genau der falsche Ansatz. Eine weitere Beschäftigung mit dem Text hätte mich aber zu sehr genervt – oder sagen wir es versöhnlicher – gefordert. Definitiv kein Buch für mich!
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Pariser Trilogie. Abendgesellschaft, Außenbezirke, Familienstammbuch – Drei Romane
dt. von Walter Schürenberg
Abendgesellschaft (1969)
Nach dem „Place“ zum Glück wieder ein Buch mit dem ich mehr anfangen konnte. Gewisse Ähnlichkeiten bestehen noch, z.B. bzgl. der wüsten, brutalen Atmosphäre rund um die Schieber- Halb- und Unterweltgesellschaft. Auch das Fantastische und Traumhafte ist noch sehr ausgeprägt. Aber es gibt eine Struktur und einen etwas reduzierten Anspruch auf Personenkenntnis. Einige Dinge hat Modiano zumindest in abgeschwächter Form auch heute noch im Programm, z.B. die Fülle an abgedreht-exotischen Namensträgern, anderes kommt hier erstmals auf, z.B. das Streunen durch die Pariser Viertel, die akribischen Ortsangaben usw. Auch das Liedchen „Il était un petit navire“ kommt hier erstmals vor. Also für mich kein absoluter Knüller, aber lesbar und im Hinblick auf nachfolgende Romane interessant.
Die „Außenbezirke“ (1972) haben mich jetzt wieder ganz gefangenen genommen. Thematisch noch an die zwielichtige Gesellschaft von Schiebern, Kollaboranten und Lebedamen der Abendgesellschaft angelehnt, verliert das Fantastische des Erzählens hier vorderhand an Bedeutung. Erzählt wird die Annäherung des vor zehn Jahren verlassenen Sohns an den Vater. Auslöser ist, wie häufig bei Modiano, eine alte Photographie. Der Betrachter imaginiert sich über die Betrachtung in sie hinein – hier wird der Vater mit einigen Bekannten in einer Bar gezeigt. Ein zweiter Abschnitt gibt das Gerede der kleinen Stadt am Rande von Paris über diese leicht zwielichtigen Gestalten wieder. Dann wieder ein Schwenk und der Sohn taucht in der Runde auf. Wundert man sich zu Beginn, dass er sich diesem nicht zu erkennen gibt und noch mehr, dass dieser ihn nicht erkennt, macht die Geschichte dann erneut eine Wendung – ACHTUNG SPOILER – indem man erfährt, dass sich der Sohn auch hier nur an die Seite seines Vaters imaginiert hat, hat er doch zur Zeit der „bedeutsamen Ereignisse“, eine konkrete Zeit wird nicht genannt, es handelt sich aber um die Zeit der deutschen Besatzung, noch gar nicht gelebt. Er konnte seinen Vater, einen Juden, nicht retten. Als Erzähler aber, zumindest im Buch, wird er “ mit dir gehen, bis ans Ende .“ Eine wunderbare Wendung, ich bin ganz begeistert.
Familienstammbuch (1977) – kleine Prosastücke mit autobiografischem Hintergrund, wobei unklar ist, wie viel Wahrheit jeweils tatsächlich dahinter steht. Die Miniaturen sind mehr oder weniger berührend. Besonders gefallen hat mir das vorsichtige Nachspüren von Lebensgeschichten, sei es der der eigenen Großmutter oder der Eltern, sei es einer Zufallsbegegnung im Café. Interessant auch im Hinblick auf immer wieder auftauchende Motive Modianos.
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Patrick Modiano – Villa Triste (1975)
dt. von Walter Schürenberg
Ein kleiner Ferienort am See, irgendwo in Savoyen, nahe der Grenze zur Schweiz (wahrscheinlich Annecy). Ein junger Mann, der sich Victor Chmara nennt, dies aber offensichtlich nicht ist, entzieht sich etwas unklaren Gegebenheiten rund um den Algerienkrieg – es ist Anfang der Sechziger Jahre. Paris scheint ihm nicht mehr sicher, von Bombenattentaten und geheimnisvollen Polizeieinsätzen ist die Rede. Wie so oft bei Patrick Modiano bleibt aber alles im Vagen, Ungewissen. Hier am See macht er die Bekanntschaft der schönen Yvonne, die im besten Hotel am Platz logiert, und des etwas zwielichtigen René Meinthe und verlebt einige traumhafte Wochen. Victor plant eine Zukunft mit Yvonne in Amerika, doch zur Verabredung am Bahnhof erscheint sie nicht und bleibt verschwunden.
Erzählt wird im Rückblick auf die Ereignisse. Später erfahren wir, dass zwölf Jahre vergangen sind und Auslöser der Erinnerungen eine Zeitungsmeldung über den Selbstmord René Meinthes war. Der Erzähler begibt sich zurück an den Ferienort, manches hat sich verändert, ist im Niedergang. Gebrochen wird die Erzählung zudem noch dadurch, dass sich der Erzähler in den zur Selbsttötung entschlossenen Meinthe hinein zu imaginieren sucht, seine letzten Schritte quasi nachempfindet.
Der Ton ist modiano-typisch, melancholisch, tastend, die Geschichte leicht vage und traumhaft. Verfilmt wurde sie 1974 unter dem Titel „Das Parfum von Yvonne“.
Die Gasse der dunklen Läden (1978)
dt. von Gerhard Heller
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Patrick Modiano – Eine Jugend (1981)
dt. von Peter Handke
Das Buch, mit dem Patrick Modiano seinerzeit in der Übertragung von Peter Handke in Deutschland bekannt geworden ist.
Es beginnt in Savoyen, in einem kleinen Ort in der Nähe des Sees, in dem Odile und Louis ein Kinderheim geführt haben, das nun geschlossen wird. Sie sind beide fast 35, es ist ein Tag vor Odiles Geburtstag. Gelegenheit, sich an die Jugend der beiden zu erinnern, die für beide nicht ganz einfach war, die sie auch mit etwas zwielichtigen Geschäften in Berührung brachten. Zunächst wird aus den beiden Perspektiven erzählt, für Modiano eher ungewöhnlich in der dritten Person, bis sich die beiden in Paris treffen und ein Paar werden. Sie treiben fortan durch die Stadt, hier zeigt sich wieder Modianos Liebe zur topografischen Vermesseung seiner Stadt Paris, halten sich mit Jobs über Wasser. Am Ende gelingt ihnen der „große Coup“.
Die Geschichte ist ruhig und recht geradlinig erzählt und zumindest zu Beginn fällt für den Modiano-Leser der etwas ungewohnte Ton der Übersetzung von Peter Handke auf. Sie ist schlichter als gewohnt, während die beiden anderen Übersetzer, Elisabeth Edl und Walter Schürenberg, einen ähnlichen Ton treffen.
Sonntage im August (1986)
dt. von Andrea Spingler
Straferlass (1988)
dt. von Andrea Spingler
Vorraum der Kindheit (1989)
dt. von Andrea Spingler
Hochzeitsreise (1990)
dt. von Andrea Spingler
Ruinenblüten (1991)
dt. von Andrea Spingler
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Patrick Modiano – Ein so junger Hund (1993)
dt. von Jörg Aufenanger
Frühling im Jahr 1992 in Paris, der Erzähler findet ein Foto von sich und seiner damaligen Freundin, aufgenommen in einem ebensolchen Frühling. Bei Modiano ein Anlass hinabzutauchen in jene Vergangenheit des Jahres 1964, der Erzähler ist ein 19jähriger Student und macht Bekanntschaft mit einem Fotograf, Francis Jansen, Freund und Kollege des berühmten Robert Capa, nun sehr zurückgezogen lebend. Der junge Mann macht sich daran, die Unmengen an Fotomaterial, die er in der Wohnung Jansens findet, zu katalogisieren und zu archivieren. Dabei kommt er dem Älteren zwar näher, erfährt einiges aus dessen Leben, lernt Menschen aus seinem Umkreis kennen, aber doch bleibt er ungreifbar, rätselhaft, bis er nach nur wenigen Wochen der Bekanntschaft nach Mexiko abreist und dort verschwindet.
Wie in vielen Modiano-Romanen bewegt sich der Roman auf drei Zeitebenen: der Gegenwart, in der der Erzähler ins Erinnern gerät; den Jugendjahren in den 60ern, Zeit des Aufbruchs, der Cafés, des Existenzialismus und eine noch weiter zurückgehende Ebene in die Zeit der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen. Francis Jansen musste zu dieser Zeit als italienischer Jude Frankreich verlassen.
Es geht wie in allen Büchern Modianos um die Suche nach der verlorenen Zeit. Doch im Gegensatz zu Proust lässt sich diese bei ihm nicht wiederfinden. Man kann sich ihr allenfalls nähern, zu vage und unzuverlässig sind Erinnerungen, zu flüchtig und vergänglich menschliche Begegnungen, ja das Leben selbst. Es liegt eine Art Nebel über dem Erzählten, und der wird sich auch nie ganz heben. Im Gegensatz dazu verortet Modiano seine Geschichte sehr konkret. Immer wieder werden Pariser Straßen, Hausnummern, ja selbst Telefonnummern aufgezählt. Reale Personen werden den fiktiven an die Seite gestellt. Das gibt den Romanen etwas seltsam Flirrendes, Schwebendes. Zusammen mit dem wunderbaren Stilempfinden Modianos und seiner leisen Melancholie entstehen so Bücher mit einer ganz eigenen Atmosphäre, die Suchtpotential haben.
Aus tiefstem Vergessen (1996)
dt. von Elisabeth Edl
Dora Bruder (1997)
dt. von Elisabeth Edl
Unbekannte Frauen (1999)
dt. von Elisabeth Edl
Die Kleine Bijou (2001)
dt. von Peter Handke
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Patrick Modiano – Unfall in der Nacht (2003)
dt. von Elisabeth Edl
„Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte.“
Mit einem dieser typischen Modiano-Anfangssätze beginnt auch „Unfall in der Nacht“, der 2006 auf Deutsch erschienene Roman von Patrick Modiano.
Auch sonst ist der kurze Text wieder eine gekonnte Variation der Themen, die den Autor in all seinen Büchern beschäftigen: das Erinnern und das Vergessen, die Flüchtigkeit menschlicher Beziehungen, die verlorene Zeit, die Schickalshaftigkeit des Lebens.
Hier tauchen viele seiner Motive in besonderer Verdichtung auf. Die meisten lassen sich auf autobiographische Wurzeln zurückführen: die unstete Kindheit mit den häufigen Ortswechseln an der Seite seiner Mutter, einer Schauspielerin, der verschwundene Vater, das Leben in Internaten. Alles Aspekte, die verstehen lassen, warum Modiano mit solcher Leidenschaft und Hartnäckigkeit immer wieder Erzähler auf die Suche schickt nach verschwundenen Personen und Orten und nach Erinnerungsfetzen, ihren Assoziationsketten folgt, Vergangenes dem Vergessen zu entreißen sucht.
„Das Vergessen frisst mit der Zeit ganze Abschnitte unseres Lebens auf und manchmal winzige Verbindungsstücke.“
Dagegen kämpfen Modianos Erzähler und damit auch ihr Autor an. Oft tun sie dies mit Hilfe von Adress- und Tagebüchern oder Fotografien. Der Erzähler blickt in höherem Alter aus der Gegenwart zurück, ganz auf sein typischerweise unzuverlässiges Erinnern angewiesen versucht er einen Teil seines Lebens zu rekapitulieren.
„Ich komme in das Alter,in dem das Leben langsam die Tür hinter sich zuzieht.“
Die zentrale Geschichte spielt wie fast immer in den 60er Jahren in Paris. Ein nächtlicher, recht harmloser Unfall setzt bei dem Ich-Erzähler, einem jungen Studenten Erinnerungen an einen anderen Unfall in seiner Kindheit und an diese Kindheit selbst in Gang. Dabei sind wieder einmal die obskure Gestalt des Vaters, die der junge Mann nur hin und wieder in Cafés trifft und ein großer schwarzer Hund wichtige Motive. Cafés sind wichtige Handlungsorte bei Modiano, genauso wie die rätselhafte Frau, hier die verschwundene Unfallverursacherin, der der Erzähler durch die Straßen Paris nachspürt, eine immer wiederkehrende Figur ist. Die Geschichte beginnt recht kafkaesk und bleibt sehr vage. Es ist eine Schattenwelt in die der Leser abtaucht, voll mit schicksalhaften Zeichen, Déjà-vues und wiederkehrenden Geschehnissen.
„Ich hatte gelesen, dass der Zufall nur eine sehr begrenzte Menge von Begegnungen herbeiführt. Dieselben Situationen, dieselben Gesichter kehren wieder,…“
Dazu kommen lose Rückblicke von der Gegenwart in die jüngere Vergangenheit, auf Begebenheiten, die mit dem Unfall und den damaligen Personen und Ereignissen in Zusammenhang stehen.
Eine Rezensentin sprach einmal von „Zeitlöchern“, die sich im Werk von Patrick Modiano auftun. Punkte, an denen sich die Zeitebenen und mit ihnen die Realitäten und Identitäten vermischen. Beim Leser löst das eine gewisse Art der Verunsicherung, des Zweifels aus. Der Erzähler und sein Leben bleiben nebelhaft und ungreifbar.
Neben dieser vagen, schwebenden Handlungs-, Zeit- und Personenebene steht immer eine geradezu penible Orts- und Detailgenauigkeit. Wie auf einem Stadtplan folgt man dem Autor durch die Straßen von Paris und saugt deren Flair ein.
Das Ganze ist wieder im typisch eleganten, schwerelosen Stil erzählt und bereitet von daher besonders dem mit Patrick Modianos Werk etwas vertrauten Leser großes Lesevergnügen.
Ein Stammbaum (2005)
dt. von Elisabeth Edl
Im Café der verlorenen Jugend (2007)
dt. von Elisabeth Edl
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Patrick Modiano – Der Horizont (2010)
dt. von Elisabeth Edl
„Schwindel erfasste ihn bei dem Gedanken an das, was hätte sein können und nicht gewesen ist“
Davon handeln fast alle Romane Patrick Modianos. Sie sind eine Beschwörung der Vergangenheit, meist durch kleine Zufälligkeiten ausgelöst und in tastenden, kreisenden, oft träumerischen Bewegungen ausgeführt. Es sind meist haltlose Menschen in ihren mittleren oder weiter fortgeschrittenen Jahren, die sich erinnern. Es ist immer das Nachkriegs-Paris, das beschworen wird. Und es geht immer um Menschen mit bis zum Schluss ungelösten Rätseln, oft umgibt sie eine ungeklärte, oft auch düstere Vergangenheit. Es ist das Vieldeutige, das Ungefähre, das Modiano in seinen schwebenden, melancholischen schmalen Romanen beschreibt.
Hier ist es der alternde Jean Bosman, der sich an seine Jugendliebe Marie le Coz erinnert, die vierzig Jahre zuvor spurlos aus seinem Leben verschwand, die eine unerzählte Vergangenheit mit Berlin verband. Ihre Spur aufnehmend, reist Bosman dorthin, ob er die Frau seiner Erinnerung wieder trifft, bleibt offen.
Patrick Modiano schreibt auch dieses Buch in seinem typischen leisen, eindringlichen Stil. Die Filme der Nouvelle Vague stehen ihm nahe. Wer das mag, wird dieses Buch lieben.
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Patrick Modiano – Gräser der Nacht (2012)
dt. von Elisabeth Edl
„Gräser der Nacht“, der neue Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano bietet einen wunderbaren Einstieg in das zahl-, wenn auch jeweils nicht sehr umfangreiche Werk des französischen Schriftstellers.
All seine bekannten und immer wieder virtuos variierten Motive sind vorhanden: Der stark an seinen Autor angelehnte Ich-Erzähler; die Suche nach Episoden aus der Vergangenheit, die flüchtig und ungreifbar bleiben; die rätselhaften, oft recht zwielichtigen Gestalten, an die er sich dabei erinnert; die Sechziger Jahre; die Bars und Cafés; das tastende und zweifelnde Vorgehen und natürlich die große Protagonistin all seiner Romane: die Stadt Paris.
Zugleich erzählt Patrick Modiano seine Geschichte überraschend geradlinig, baut fast eine Art Krimiplot mit einer eigenartigen Spannung.
Es geht um Ereignisse aus dem Jahr 1965, Anspielungen auf ein tatsächliches Ereignis, die Entführung und Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barkas finden sich zuhauf, auch Personen aus Modianos autobiografischem Werk „Ein Stammbaum“ tauchen auf. Anhand von Notizen in einem kleinen schwarzen Büchlein, versucht der Ich-Erzähler Jean, auf diese Ereignisse zurückzublicken, vor allem auf die Person seiner damaligen Freundin Dannie, die darin verstrickt gewesen zu sein scheint und irgendwann spurlos verschwand.
Im Roman wird der Vorgang des Erinnern einmal so geschildert
„Du bist allein, hellwach, als wolltest du Morsezeichen auffangen, die ein unbekannter Korrespondent dir aus weiter Ferne schickt. Natürlich, viele Zeichen sind gestört, und auch wenn du die Ohren spitzt, gehen sie für immer verloren. Doch ein paar Namenlösen sich ganz deutlich aus der Stille und von der weißen Seite…“
Wie immer in Modianos Romanen bleibt die Erinnerung vage, ungreifbar, die Personen und Geschehnisse nebelhaft, flüchtig. Die Zeit, wie sich die Ebenen von Gegenwart und Vergangenheit übereinander lagern, die Grenzen verschwimmen, ein beherrschendes Thema.
„Aber Sonntage, vor allem, wenn du allein bist, reißen eine Bresche in die Zeit.“
„Sie würden nie erfahren, dass die Zeit wogt, sich weitet, dann wieder stillsteht und einem allmählich jenes Gefühl von Ferien und Unendlichkeit gibt, das andere in Drogen suchen, ich aber ganz einfach im Warten fand.“
Und so streift der Erzähler so wie in fast allen Werken Modianos mehr oder weniger ziellos durch die Straßen.
„Seit meiner Jugend – und sogar meiner Kindheit – war ich immer nur gegangen, und stets durch dieselben Straßen, so dass die Zeit durchsichtig geworden war.“
Ebenfalls wie in fast allen Werken begegnet der Autor/Erzähler der Vagheit der Erinnerungen mit einer absoluten Präzision bei Ortsangaben.
„Ich brauchte Orientierungspunkte, Namen von Metrostationen, Hausnummern, Stammbäume von hunden, als fürchtete ich, die Leute und Dinge könnten von einem Augenblick auf den anderen unsichtbat werden oder verschwinden, und ich müsste wenigstens einen Beweis ihrer Existenzaufbewahren.“
Also wieder ein typischer Modiano, der sich einreiht in dieses große Lebensbuch, das der Autor fortschreibt, leise, tastend, in ungeheurer sprachlicher Schönheit.
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Patrick Modiano – Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2014)
dt. von Elisabeth Edl
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Patrick Modiano – Schlafende Erinnerungen (2017)
dt. von Elisabeth Edl
zu meiner ausführlichen Rezension:
Patrick Modiano – Schlafende Erinnerungen
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Patrick Modiano – Unsichtbare Tinte (2019)
dt. von Elisabeth Edl
zu meiner ausführlichen Rezension:
Patrick Modiano – Unsichtbare Tinte
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Patrick Modiano – Unterwegs nach Chevreuse (2021)
dt. von Elisabeth Edl
zu meiner ausführlichen Rezension:
Patrick Modiano – Unterwegs nach Chevreuse
Der Backlist ist reichhaltig. Jetzt gilt nur: Patrick Modiano lesen!
Beitragsbild: Café de la Paix, Boulevard des Capucines by Willem van de Poll / Anefo [CC0], via Wikimedia Commons
Von Modiano habe ich „Ein so junger Hund“ gelesen. Fand ich ansprechend, aber auch nicht einfach. Es blieb alles so vage und undeutlich.
Lieber Gunnar, das „Vage“ und „Undeutliche“ ist Programm. Das ändert sich auch mit dem x. Modiano kaum. 😉 Wenn man dem Zauber erliegt, ist es gerade das, was die Bücher so reizvoll macht. Mag aber nicht jeder. 🙂 Viele Grüße!