Patrick Modiano – Schlafende Erinnerungen

Was macht eigentlich den Reiz der Romane von Patrick Modiano aus? Was bewirkt, dass der Leser – zumindest der Modiano-Leser, es soll auch solche geben, die diese Prosa schlichtweg langweilig finden – dem Autor Buch für Buch durch seine Erinnerungen folgt? Erinnerungen, die jedes Mal nur variieren, zudem ausgesprochen vage bleiben, nie wirklich enthüllen, ob sie nun echt oder ausgedacht sind, was aber letztlich keine Rolle spielt. Modiano wird nachgesagt, stets nur das gleiche Buch zu schreiben und tatsächlich fügen sich die stets sehr schmalen Romane, immerhin sind über zwanzig davon auch auf Deutsch erschienen, zu einer großen Suche nach der verlorenen Zeit, um mal einen anderen großen französischen Autor zu zitieren. Nach der verlorenen Zeit, die sich vornehmlich in der Kindheit und vor allem Jugend des 1945 geborenen Autors konzentriert, also in den Fünfziger und Sechziger Jahren, und oft zurückgreift auf die dunkle Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Nun erscheint „Schlafende Erinnerungen“ von Patrick Modiano.

Es muss eine seltsame, eine letztlich verstörende Zeit gewesen sein, dass sie ein derart allumfassendes Gefühl der Unsicherheit und auch der Leere zurückließ, wie es in allen Büchern Modianos zu finden ist.

Es ist stets ein Ich-Erzähler, oft das Alter Ego des Autors, Jean D., der auf der Suche nach Erinnerungen, die meist flüchtig, wenig konkret sind, die Straßen von Paris durchstreift, manchmal auch in eine abgelegene Region in Hochsavoyen führt, wo Modiano einst Jahre im Internat verbrachte. Ein sehr unzuverlässiger Erzähler, der seinen eigenen Erinnerungen meist selbst nicht vertraut.

Schlafende Erinnerungen an das Paris der 1960er Jahre
Rue de la Paroisse Années 1960 by KKB [CC BY-SA 4.0], from Wikimedia Commons
In seiner Nobelpreisrede von 2014 sprach Modiano davon, dass er ohne die verwirrenden und verstörenden Kriegs- und Besatzungsjahre wohl kaum auf der Welt wäre. Seine Eltern, die sich in ihnen gefunden hatten, hat wohl wenig verbunden und auch ihrem Sohn haben sie nie eine Familie bieten können. Beide tauchen in den Romanen immer wieder auf, der Vater mit jüdisch-sephardischen Wurzeln war stets in zwielichtigen Geschäften unterwegs, von Kollaboration ist ebenso immer wieder die Rede wie von Schwarzmarktgeschäften. Vor allem bildet er aber durch seine stete Abwesenheit eine große Leerstelle. Eine Leerstelle, die auch die Mutter nicht füllen konnte und wollte. Die Schauspielerin war häufig auf Theatertourneen unterwegs, ein flirrendes und ein wenig halbseidenes Künstlermilieu umgab sie.

“ … eine von diesen Müttern, die sich heimlich für ihren Sohn opfern und ihm beistehen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Zwischen elf und achtzehn habe ich sie vielleicht zwei- oder dreimal gesehen, und immer nur eine knappe Stunde. Sie hatte schnell genug.“

Wo der kleine Sohn in der Zwischenzeit blieb, wird nicht recht deutlich, von dubiosen, oft auch kleinkriminellen Kreisen ist die Rede. Vermutlich suchte er sich schon früh eine Heimat auf den Pariser Straßen, die auch sein Alter Ego in all seinen Büchern ausgiebig durchstreift. Die Abfolge von Straßennamen ist charakteristisch für die Texte Modianos. Auf einer Karte könnte man die Strecken ablaufen, aber es ist natürlich kein konkretes Paris, das hier erscheint, sondern eines der verschwommenen Erinnerungen, der Vergangenheit, einer Traum- und Schattenwelt. Immer herrscht ein wenig Zwielicht, etwas Schwebendes, schwer Greifbares. Namen nicht nur von Straßen und Plätzen tauchen auf, werden ständig beschworen, sondern auch Namen von Personen, die teilweise nur spotlichtartig erscheinen, teilweise immer wieder über das Werk verteilt eine Rolle spielen. Gern wird ihnen die Bezeichnung „ein gewisser/eine gewisse“ zugeordnet. Etwas, das die Personen noch schwerer fassbar macht. Oft umgibt sie ein Geheimnis, meist etwas Düsteres. Okkultem sind sie oft zugeneigt, mehrmals spielt eine esoterische Buchhandlung eine zentrale Rolle.

Straßen von Paris
Paris 1967  by John Atherton (CC BY-SA 2.0) via Flickr

Überhaupt tauchen die Motive genauso wie einige Personen und vor allem die vage melancholische Stimmung, das Ungewisse, das Haltlose, das Getriebene immer wieder auf.

So auch in „Schlafende Erinnerungen“, dem ersten Buch von Patrick Modiano nach der Verleihung des Nobelpreises im Jahr 2014.

„Eines Tages auf den Quais hat ein Buchtitel mein Interesse geweckt, Die Zeit der Begegnungen. Auch für mich gab es eine Zeit der Begegnungen, in einer fernen Vergangenheit. Damals hatte ich oft Angst vor der Leere. Dieses Schwindelgefühl spürte ich nicht, wenn ich allein war, sondern bloß mit gewissen Personen, denen ich gerade begegnet war. Um mich zu beruhigen, sagte ich mit: Es wird schon eine Gelegenheit kommen, dann mache ich mich aus dem Staub. Bei einigen dieser Personen wusste man nicht, bis wohin sie einen vielleicht mitzogen. Der Hang war rutschig.“

Bücher spielen eine wichtige Rolle im Text. Sie alle könnten dem Werk des Autors entstammen, mit ihren Titeln wie „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“ oder „Die Träume und die Mittel, sie zu dirigieren“ scheint der Autor ein wenig damit zu spielen.

„(…) ein Double oder ein Doppelgänger, wie sie vorkommen in Die Ewigkeit durch die Gestirne, einem meiner Lieblingsbücher. Tausend und abertausend Wege, die du an den Kreuzungen deines Lebens nicht genommen hast, und du selbst hast geglaubt, es gäbe nur einen einzigen.“

Mir scheint, dass Modiano in diesem Text, der ganz auf eine Gattungsbezeichnung verzichtet, nicht nur seine Erinnerungsarbeit wiederaufnimmt, sondern auch auf konzentrierte, episodenhafte Art das Programm und die Methodik seines Schreibens darlegt.

„Ich versuche Ordnung in meine Erinnerungen zu bringen. Jede von ihnen ist ein Puzzleteilchen, viele fehlen jedoch, sodass die meisten verstreut daliegen. Manchmal gelingt es mir, zwei oder drei zusammenzufügen, mehr aber nicht. Dann notiere ich Bruchstücke, die mir bunt durcheinander einfallen, Listen mit Namen oder ganz kurzen Sätzen. Ich wünsche mir, dass diese Namen so wie Magnete neue an die Oberfläche heraufziehen und dass diese Satzfetzen schließlich Absätze bilden und Kapitel, die sich aneinanderreihen.“

Café de Flore Paris
Café de Flore 1965  by Willem van de Poll / Anefo [CC0], via Wikimedia Commons
Aus der Schreibgegenwart des Jahres 2017 erinnert sich der Ich-Erzähler anhand von Tage- und Notizbüchern, von Listen an die Zeit der Sechziger Jahre. Die Kriegsjahre sind noch nicht vergessen, alte Vorkriegshäuser rotten vor sich hin, im Hotel sind noch die alten Verdunklungsvorhänge angebracht. Zeitebenen überlagern sich und Menschen, vor allem Frauen, tauchen in der Erinnerung auf. Sie heißen Martine Hayward, Geneviève Dalame oder Mireille Ourosov. Im Zentrum steht aber die Frau, deren Namen er nicht nennen will und die beim Hantieren mit einem Revolver einen Mann erschossen hat. Bei der Beseitigung der Leiche hilft der Ich-Erzähler. Aber ist das wirklich so geschehen? Am Ende findet er tatsächlich alte Polizeiakten, die von einem „undurchsichtigen Kriminalfall“ berichten, in die „ein gewisser“ Jean D. verwickelt war.

Es gibt wie immer kaum Handlung in Modianos Text, am Ende stehen mindestens so viele Fragen wie Antworten, es ist kaum Licht ins Dunkel gedrungen.

Und doch ist die Leserin nicht nur für weit länger als die kurze Lektürezeit von „Schlafende Erinnerungen“ dem Zauber der Prosa von Patrick Modiano verfallen, sondern meint, dem Schreiben des Autors wieder ein Stück näher gekommen zu sein, ein weiteres Puzzlestück in Händen zu halten. Und ist überwältigt von der Dringlichkeit dieses Schreibens, das doch so leise und persönlich ist. Ein Kind, dem jeglicher Halt in seiner Welt verwehrt wurde, das ohne elterliche Liebe aufwuchs und ohne familiäre Geschichte, ein Mann, der sich seiner Vergangenheit immer wieder fast obsessiv vergewissern muss, seine unsicheren und flüchtigen Erinnerungen immer wieder sammelt und ordnet, um doch noch etwas zum daran festhalten zu haben.

„Wenn man in denselben Stunden, an denselben Orten und unter denselben Umständen noch einmal erleben könnte, was man bereits erlebt hat, es aber viel besser erleben würde als beim ersten Mal, ohne die Fehler, Hindernisse und Leerläufe…das wäre so, wie ein Manuskript voller Streichungen ins Reine schreiben…“

Einen Blick auf meine Modiano Backlist findet ihr hier.

Beitragsbild: Seineufer CC0 via Pixabay

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Patrick Modiano - Schlafende Erinnerungen.

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Patrick Modiano – Schlafende Erinnerungen

übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag August 2018, 112 Seiten, Fester Einband, 16,00 €

 

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