„Aus dem Mund eines Schwarzen klingt das sicher unglaublich, aber ich habe nie geklaut. Habe nie Steuern hinterzogen oder beim Kartenspiel betrogen. Habe mich nie ins Kino gemogelt oder merkantile Gepflogenheiten und die Erwartungen von Mindestlohnempfängern ignoriert, indem ich einer Drugstore-Kassiererin das überschüssige Wechselgeld vorenthalten hätte. Ich bin nie in eine Wohnung eingebrochen. Habe nie einen Schnapsladen ausgeraubt. Habe mich in vollbesetzten Bussen oder U-Bahnen nie auf einen Platz für Senioren gepflanzt, meinen gigantischen Penis rausgeholt und mir lüstern, aber auch leicht zerknirscht einen runtergeholt. Dennoch sitze ich hier, in den Katakomben des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika, auf einem gut gepolsterten Stuhl, der, ähnlich wie das Land insgesamt, nicht ganz so gemütlich ist, wie er aussieht, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, mein Recht zu schweigen längst abgehakt und vergessen, während mein Auto ebenso illegal wie ironisch in der Constitution Avenue steht.“
Schon der Beginn des Prologs, mit dem Paul Beatty seinen 2016 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnetem Roman „Der Verräter“ (Original „The Sellout“) beginnt, macht deutlich, mit was für einem Buch man es hier zu tun hat. Keine der von amerikanischen Autoren bekannten, nicht selten großartigen Familiengeschichten oder Gesellschaftspanoramen, in die man bei allen Abweichungen und Differenzen doch immer irgendwie eintauchen kann, teilnehmen kann, Identifikationen aufbauen kann, im positiven oder auch im negativen Sinn.
Der äußerst unzuverlässige Ich-Erzähler, jener „Verräter“, der dem Buch im Deutschen den Titel verliehen hat, ist „Bonbon“ Heros. „Bonbon“ nennt ihn allerdings nur die „Liebe seines Lebens“, die Busfahrerin Marpessa, die leider anderweitig verheiratet ist. Ansonsten bleibt er (vor)namenlos. Aufgewachsen bei seinem alleinerziehenden Vater, einem „nicht ganz unbedeutenden Sozialwissenschaftler“ und Bürgerrechtler, der später aufgrund seiner beruhigenden Wirkung auf angehende Selbstmörder im Viertel „der Niggerflüsterer“ genannt wird, macht er sich nach dessen Tod durch Polizeikugeln diverser Verstöße gegen die Verfassung schuldig, weswegen er am Buchbeginn auf der Anklagebank sitzt. Übrigens völlig bekifft sitzt. Vielleicht der Grund, weswegen so manches vom Erzählten völlig absurd klingt. Die Anklagepunkte heißen „Sklaverei“ und „Rassentrennung“, zwei Dinge, die in den Vereinigten Staaten von Amerika seit 1865 bzw. 1964 abgeschafft sind. Abgeschafft sind? Zumindest bei letzterem beharrt der Ich-Erzähler darauf, dass Rassentrennung lediglich auf dem Papier nicht mehr existiert und plädiert auf unschuldig.
Klingt alles ziemlich verrückt? Ist es auch. Es kommen noch der Club der Dum-Dum-Donat-Intellektuellen, absonderliche Erziehungsmethoden des Vaters, die auch vor Konditionierung durch Stromschläge nicht zurückschreckten, psychologische und soziologische Abhandlungen und zahllose Referenzen zu US-amerikanischer Literatur, zu Filmen, Fernsehen, Berühmtheiten hinzu. Gespickt mit jeder Menge lateinischer Zitate und sonstigem Bildungszierat ist das Ganze keine ganz leichte Lektüre. Zumal man sich ständig fragt, „Meint der das jetzt ernst?“. Es ist bis zuletzt unklar, ob da nur einer im Drogenrausch fabuliert, oder ob der Autor hier seine Geschichte satirisch zuspitzt und gehörig übertreibt. Dass Vater und Sohn Heros mitten in L.A. South Central eine ausgedehnte Farm bewirtschaften sollen (Spezialitäten Satsumas, Melonen und Marihuanha) und der Protagonist überall mit dem Pferd vorreitet, macht die Sache auch nicht glaubwürdiger.
Der „Abschluss“ liest sich fast ein wenig wehmütig. Bei allem, was die Präsidentschaft Obamas schuldig blieb, schaut man doch einigermaßen sehnsuchtsvoll darauf zurück.
„Ich weiß noch, dass Foy Chesire am Tag der Amtseinführung unseres schwarzen Kumpels stolz wie Bolle in seinem Mercedes-Coupé durch die Stadt fuhr, hupend und die amerikanische Flagge schwenkend. Er feierte nicht als einziger; die Freude im Viertel war zwar nicht ganz so groß wie nach dem Freispruch von O. J. Simpson oder 2002 nach der Meisterschaft der Lakers, aber fast. Als Foy an meinem Haus vorbeifuhr, saß ich gerade vorn auf dem Hof und schälte Maiskolben. „Warum schwenkst du die Flagge?“ fragte ich. „Wieso ausgerechnet jetzt? Hast du doch noch nie gemacht.“ Er habe den Eindruck, antwortete er, dass dieses Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, endlich seine Schuld beglichen habe. „Und die amerikanischen Ureinwohner? Und die Chinesen, die Japaner, die Mexikaner, die Armen, die Wälder, das Wasser, die Luft, der beschissene Kalifornische Kondor? Wann erhalten die ihre Wiedergutmachung?“ wollte ich wissen. Er schüttelte nur den Kopf. Erwiderte sinngemäß, mein Vater würde sich für mich schämen, und ich würde es nie kapieren.
Und er hat recht. Werde ich auch nie.“
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Beitragsbild: by KNewman1 [CC BY-SA 3.0], from Wikimedia Commons
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Paul Beatty – Der Verräter
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Luchterhand Oktober 2018, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, € 20,00
Das klingt spitzenmäßig, werde ich auf alle Fälle lesen!
Ich bin gespannt, was du sagen wirst. Eine guten Rutsch und viele liebe Grüße! Petra