„Aus dem Mund eines Schwarzen klingt das sicher unglaublich, aber ich habe nie geklaut. Habe nie Steuern hinterzogen oder beim Kartenspiel betrogen. Habe mich nie ins Kino gemogelt oder merkantile Gepflogenheiten und die Erwartungen von Mindestlohnempfängern ignoriert, indem ich einer Drugstore-Kassiererin das überschüssige Wechselgeld vorenthalten hätte. Ich bin nie in eine Wohnung eingebrochen. Habe nie einen Schnapsladen ausgeraubt. Habe mich in vollbesetzten Bussen oder U-Bahnen nie auf einen Platz für Senioren gepflanzt, meinen gigantischen Penis rausgeholt und mir lüstern, aber auch leicht zerknirscht einen runtergeholt. Dennoch sitze ich hier, in den Katakomben des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika, auf einem gut gepolsterten Stuhl, der, ähnlich wie das Land insgesamt, nicht ganz so gemütlich ist, wie er aussieht, die Hände in Handschellen auf dem Rücken, mein Recht zu schweigen längst abgehakt und vergessen, während mein Auto ebenso illegal wie ironisch in der Constitution Avenue steht.“
Schon der Beginn des Prologs, mit dem Paul Beatty seinen 2016 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnetem Roman „Der Verräter“ (Original „The Sellout“) beginnt, macht deutlich, mit was für einem Buch man es hier zu tun hat. Keine der von amerikanischen Autoren bekannten, nicht selten großartigen Familiengeschichten oder Gesellschaftspanoramen, in die man bei allen Abweichungen und Differenzen doch immer irgendwie eintauchen kann, teilnehmen kann, Identifikationen aufbauen kann, im positiven oder auch im negativen Sinn.
Hier will keine politische Korrektheit herrschen, sondern Provokation, schon allein durch den inflationären Gebrauch von Wörtern wie „Nigger“ oder „Motherfucker“. Aber hier geht es dem Autor auch um etwas, nämlich um den fortbestehenden Rassismus in den USA, um die schwarze Identität an sich, das Selbstbild der Afroamerikaner. Das gelegentliche Unwohlsein des Lesers, auch seine Verwirrung wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist Programm. Der Autor kommt von der Lyrik her, betätigt sich auch als Poetry-Slammer. Das erklärt den ausgeprägten Rhythmus seiner Sprache, aber auch die teils sehr derbe, sich des Slangs bedienende Sprache. Paul Beatty brennt ein teilweise aberwitziges Ideenfeuerwerk ab, reiht Gag an Gag, Pointe an Pointe, schreckt auch vor dem einen oder anderen Kalauer nicht zurück, und versteckt darunter eine nur allzu bittere Wahrheit: dass auch nach acht Jahren unter der Präsidentschaft Barack Obamas (von Trump war da noch gar nicht die Rede) die Situation der schwarzen Bevölkerung keine grundlegend andere geworden ist, sich in Bezug auf Chancengleichheit, Kriminalitätsrate, Polizeigewalt zu wenig geändert hat.
Der äußerst unzuverlässige Ich-Erzähler, jener „Verräter“, der dem Buch im Deutschen den Titel verliehen hat, ist „Bonbon“ Heros. „Bonbon“ nennt ihn allerdings nur die „Liebe seines Lebens“, die Busfahrerin Marpessa, die leider anderweitig verheiratet ist. Ansonsten bleibt er (vor)namenlos. Aufgewachsen bei seinem alleinerziehenden Vater, einem „nicht ganz unbedeutenden Sozialwissenschaftler“ und Bürgerrechtler, der später aufgrund seiner beruhigenden Wirkung auf angehende Selbstmörder im Viertel „der Niggerflüsterer“ genannt wird, macht er sich nach dessen Tod durch Polizeikugeln diverser Verstöße gegen die Verfassung schuldig, weswegen er am Buchbeginn auf der Anklagebank sitzt. Übrigens völlig bekifft sitzt. Vielleicht der Grund, weswegen so manches vom Erzählten völlig absurd klingt. Die Anklagepunkte heißen „Sklaverei“ und „Rassentrennung“, zwei Dinge, die in den Vereinigten Staaten von Amerika seit 1865 bzw. 1964 abgeschafft sind. Abgeschafft sind? Zumindest bei letzterem beharrt der Ich-Erzähler darauf, dass Rassentrennung lediglich auf dem Papier nicht mehr existiert und plädiert auf unschuldig.
Aber wie kam es eigentlich zu den merkwürdigen Vorwürfen? Alles begann damit, dass der alte und schon etwas tüdelige Hominy Jenkins, einst erfolgreicher Kinderstar in der (nicht nur) unter rassistischen Gesichtspunkten etwas fragwürdigen Kurzfilmserie „Our Gang“ (zwischen 1922 und 1944 gedreht und in Deutschland unter „Die kleinen Strolche“ bekannt) und eine Lokalgröße, beim Ich-Erzähler um Aufnahme als Sklave, inklusive donnertäglichem Auspeitschen, erbittet. Dieser Hominy ist natürlich eine fiktive Figur, aber allen älteren Semestern ist sicher noch der kleine schwarze Junge in Erinnerung, dem in der Kinderbande der „Kleinen Strolche“ eine selten dämliche Rolle als pausenlos hungriger Mitläufer zugedacht war und dem abwechselnd vor Erstaunen, Erschrecken oder auch sonst wie wahlweise die riesigen Augen aus dem Kopf quollen oder die struppigen Haare zu Berg standen, und an den diese Figur angelehnt ist. Um Hominy an seinem Geburtstag eine Freude zu machen, heuert der Ich-Erzähler Marpessas Bus an und nimmt eine „gute alte“ Trennung von weißen und farbigen Passagieren darin vor. Nur für die eine Fahrt gedacht, belässt es Marpessa aber bei der Regelung, und siehe da, die Disziplin im Bus steigt, ebenso der Respekt vor den Mitfahrenden, generell das Benehmen und der Umgangston. Das bringt ihre Freundin Charisma, die Lehrerin ist, auf die Idee, es auch an ihrer Schule mit Rassentrennung zu versuchen. Sie wendet sich an den Ich-Erzähler, der zudem dabei ist, sein Viertel, das (fiktive) Dickens, irgendwo in South-Central Los Angeles, das infolge der Gentrifizierung und um seinen Ruf als Stadtteil mit der höchsten Mordrate auszulöschen, einfach von den Stadtoberen von der Karte getilgt und anderen Stadtteilen zugeschlagen wurde, wiederzubeleben. Mit einem Markierwagen für Sportplätze zieht er eine neue/alte Grenze um sein ursprüngliches Heimatviertel.
Klingt alles ziemlich verrückt? Ist es auch. Es kommen noch der Club der Dum-Dum-Donat-Intellektuellen, absonderliche Erziehungsmethoden des Vaters, die auch vor Konditionierung durch Stromschläge nicht zurückschreckten, psychologische und soziologische Abhandlungen und zahllose Referenzen zu US-amerikanischer Literatur, zu Filmen, Fernsehen, Berühmtheiten hinzu. Gespickt mit jeder Menge lateinischer Zitate und sonstigem Bildungszierat ist das Ganze keine ganz leichte Lektüre. Zumal man sich ständig fragt, „Meint der das jetzt ernst?“. Es ist bis zuletzt unklar, ob da nur einer im Drogenrausch fabuliert, oder ob der Autor hier seine Geschichte satirisch zuspitzt und gehörig übertreibt. Dass Vater und Sohn Heros mitten in L.A. South Central eine ausgedehnte Farm bewirtschaften sollen (Spezialitäten Satsumas, Melonen und Marihuanha) und der Protagonist überall mit dem Pferd vorreitet, macht die Sache auch nicht glaubwürdiger.
Paul Beatty hat ein wahrhaft fulminantes Buch geschrieben, cool, ausufernd, aberwitzig, radikal. Es zeigt die Vielgestaltigkeit von Rassismus, reizt sämtliche Klischees aus und hinterfragt vehement alle Gruppen- und Rassenzugehörigkeiten. Nicht immer ganz leicht zu lesen angesichts der Fülle, aber erhellend, schockierend, anregend und manchmal einfach saukomisch.
Der „Abschluss“ liest sich fast ein wenig wehmütig. Bei allem, was die Präsidentschaft Obamas schuldig blieb, schaut man doch einigermaßen sehnsuchtsvoll darauf zurück.
„Ich weiß noch, dass Foy Chesire am Tag der Amtseinführung unseres schwarzen Kumpels stolz wie Bolle in seinem Mercedes-Coupé durch die Stadt fuhr, hupend und die amerikanische Flagge schwenkend. Er feierte nicht als einziger; die Freude im Viertel war zwar nicht ganz so groß wie nach dem Freispruch von O. J. Simpson oder 2002 nach der Meisterschaft der Lakers, aber fast. Als Foy an meinem Haus vorbeifuhr, saß ich gerade vorn auf dem Hof und schälte Maiskolben. „Warum schwenkst du die Flagge?“ fragte ich. „Wieso ausgerechnet jetzt? Hast du doch noch nie gemacht.“ Er habe den Eindruck, antwortete er, dass dieses Land, die Vereinigten Staaten von Amerika, endlich seine Schuld beglichen habe. „Und die amerikanischen Ureinwohner? Und die Chinesen, die Japaner, die Mexikaner, die Armen, die Wälder, das Wasser, die Luft, der beschissene Kalifornische Kondor? Wann erhalten die ihre Wiedergutmachung?“ wollte ich wissen. Er schüttelte nur den Kopf. Erwiderte sinngemäß, mein Vater würde sich für mich schämen, und ich würde es nie kapieren.
Und er hat recht. Werde ich auch nie.“
Weitere Rezensionen beim Bookster HRO und Letusreadsomebooks
Beitragsbild: by KNewman1 [CC BY-SA 3.0], from Wikimedia Commons
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Paul Beatty – Der Verräter
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Luchterhand Oktober 2018, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, € 20,00
Das klingt spitzenmäßig, werde ich auf alle Fälle lesen!
Ich bin gespannt, was du sagen wirst. Eine guten Rutsch und viele liebe Grüße! Petra