Der von Dr. Bozena Anna Badura, Janine Hasse und Sarah Jäger geführte Blog „Das Debüt“ hat zum dritten Mal einen Bloggerpreis Das Debüt 2018 ausgeschrieben. 69 Romane wurden von den Verlagen eingereicht. Aus einer von „Das Debüt“ zusammengestellten Shortlist sollten 13 Blogger und Bloggerinnen ihre drei Favoriten auswählen und mit je fünf, drei bzw. einem Punkt versehen. Daraus geht dann der Titel mit den meisten Punkten als Sieger hervor.
Ich durfte bereits zum zweiten Mal in der Jury mitwirken. Nachdem mich die Shortlist des letzten Jahres ziemlich gefordert hatte, da vier von fünf Titeln so gar nicht meinem Geschmack entsprachen, war ich dieses Jahr recht glücklich über die Auswahl. Sicher habe ich wieder den einen oder anderen Roman vermisst. Aber alle fünf Bücher konnten mein Interesse wecken und, obwohl ich mir das dieses Jahr ausdrücklich zugestanden habe, habe ich keinen Roman abgebrochen.
Zum Glück waren die meisten Titel auch dieses Jahr relativ schmal, da ich erst recht spät in die Leserunde einsteigen konnte. Insgesamt fiel der Austausch innerhalb der Jury dieses Jahr leider etwas geringer aus als im letzten Jahr, was vielleicht dem Ausscheiden unseres rührigen Kollegen Marc wegen eines Trauerfalls geschuldet war. Meine Zeit war allerdings dieses Jahr auch sehr beschränkt. Mea culpa!
Insgesamt mussten fünf Titel mit insgesamt 1224 Seiten gelesen werden.
Da wir eine Lese- und keine Fachjury sind, gibt mir das die Freiheit, zu entscheiden, welches Debüt mir persönlich am besten gefallen hat, welches mich interessiert, berührt, amüsiert, begeistert hat, kurz, etwas mit mir gemacht hat und das ich gerne gelesen habe. Innovation, Sprachartistik oder literaturkritische Kriterien, abgesehen von einer überzeugenden Sprache und einem schlüssigen Aufbau, waren für mich wie bereits im vergangenen Jahr eher nebensächlich.
Die Titel der Shortlist habe ich bereits hier vorgestellt.
Anders als im vergangenen Jahr habe ich aus Zeitmangel keine Einzelrezensionen zu den Büchern verfasst. Lediglich der Gewinnertitel wird in den nächsten Tagen eine solche erhalten.
Und hier nun mein Urteil zu den gelesenen Romanen:
Relativ bald stand für mich Platz fünf fest. Marie Gamillschegs Roman über ein Bergdorf, dessen Berg durch den vergangenen intensiven Erzabbau regelrecht durchlöchert ist und einzustürzen droht, in dem sich ganz wörtlich ein breitet Riss auftut, dessen leicht verschrobene Bevölkerung aber auch zerrissen ist zwischen denen, die bleiben und denen die möglichst schnell gehen wollen und in die von außen ein „Regionalmanager“ geschickt wird, um die Dinge zu ordnen, konnte mich nicht erreichen. Man könnte von Lakonie sprechen. Für mich blieben die verschiedenen Protagonisten nur etwas schräge Marionetten der Autorin, die in bedeutungsschwerer, symbolaufgeladener Umgebung agieren. Weder Sprache noch Umsetzung des eigentlich interessanten Themas konnten mich überzeugen, so dass hier leider keine Punkte zu vergeben sind.
Marie Gamillscheg gewann mit ihrem Roman den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises.
Autor Christian Y. Schmidt, der langjährige Redakteur der Titanic, legt in seinem Debütroman „Der letzte Huelsenbeck“ rasant los. Auf der Beerdigung von Daniels altem Freund Viktor, mit dem er in den siebziger Jahren als Jugendlicher die neodadaistische Gruppe der „Huelsenbecks“ (nach dem Dadaisten Richard Huelsenbeck) gegründet hatte, kommt es gleich zu Beginn zu einem Zwischenfall. Ronny, ein anderer der „Huelsenbecks“ löst mit dem Wurf eines Lachsacks in das Grab einen Tumult aus, der in eine handfeste Schlägerei mündet. In deren Verlauf bekommt Daniel, der Ich-Erzähler, einen Stein an den Kopf, der zu partiellem Gedächtnisverlust und allerhand Verwirrungen in seinem Kopf sorgt. Gerade nach zwölfjähriger Abwesenheit und der Trennung von seiner chinesischen Frau Sandy aus Hongkong zurückgekehrt in seine Heimatstadt, „die Stadt“, die durch kurze Recherche schnell als Bielefeld identifiziert werden kann, befindet sich Daniel gerade sowieso in einer eher instabilen Lage. Die Kopfverletzung und darauf folgender reichlicher Drogenkonsum führen dazu, dass in seinem Kopf „ständig Karneval“ herrscht. Über viele Erinnerungen herrscht bei ihm plötzlich keine Klarheit mehr. Durch Recherche bei alten Freunden, vorwiegend den ehemaligen „Huelsenbecks“ versucht er, diese wieder zurückzugewinnen. Zum Beispiel über eine Amerikafahrt, an die sich Daniel kaum noch erinnern kann. Und das rätselhafte Verschwinden des Mädchens Claire auf eben dieser.
Ziemlich bald wird der Leserin klar, dass sie mit dem ca. sechzigjährigen Daniel einen äußerst unzuverlässigen Erzähler vor sich hat. Nicht nur die generelle Unzuverlässigkeit von Erinnerungen und der Versuch, sich in den Erinnerungen Dritter zu spiegeln ist dabei Thema. Es werden eindeutige Fährten ausgelegt, dass das Erzählte deutlich darüber hinaus geht und auch nicht nur durch einen im Drogenwahn gefangenen Kopf erklärbar ist. Das fängt mit der Heimatstadt Bielefeld an, die ja bekanntlich nur in Gerüchten existiert, das geht weiter mit der Kindheit und Jugend des Erzählers in „der Anstalt“ (die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, in der Schmidts Vater leitender Arzt war, standen Pate), der Dadaistischen Gruppe der Huelsenbecks und der Leidenschaft von Daniels Psychologen für die Mystery-Serie „Twin-Peaks“. Auch Daniels Leben in der einst als Luxusressort geplanten und nun fast verlassenen und völlig heruntergekommenen „Sea Ranch“ auf der Insel Lantau in Hongkong, hat reichlich surreale Züge. Und so verstrickt sich der Erzähler und mit ihm die Leserin immer mehr in verwirrende bis verstörende Zustände die von „Beziehungswahn“ (der Erzähler nimmt alles um ihn herum als auf ihn bezogen wahr) bis zu manifestem Verfolgungswahn reichen. Das ist eigenwillig und originell, oft überdreht, mit skurrilem Humor und reichlich Selbstironie geschrieben. Zahlreiche autobiografische Parallelen zum Autor legen zumindest nah, dass diese irrsinnige, scheiternde Selbst- und Sinnsuche nicht nur auf Daniel, sondern auf eine ganze Generation von mittlerweile älteren Herren weist, die nun Lebensbilanz ziehen wollen.
Mir hat dieser überdrehte Irrgarten, in den die Leserin gezogen wird, eigentlich recht gut gefallen. Dennoch bleibt das Buch mit Platz vier ohne Punkte.
Nun kommen wir zu einer weiteren österreichischen Autorin, die es auf die Shortlist geschafft hat, Verena Stauffer. In ihrem bildgewaltigen Roman „Orchis“ erzählt sie zunächst eine so klassische wie mitreißende Abenteuergeschichte. Der junge Botaniker Anselm, der auf Orchideen spezialisiert ist, reist im 19. Jahrhundert auf die ferne Insel Madagaskar, um dort die Orchideenart „Stern von Madagaskar“ zu studieren. Die tropische Üppigkeit von Natur, Klima und Menschen lässt ihn in einen Rausch verfallen. Die Orchidee wird zu einer fieberhaften Obsession, auf der Schiffsreise zurück bildet er sich ein, eine solche wüchse auf seiner Schulter. In der Heimat angekommen, sehen seine Eltern keinen anderen Weg, als ihn in eine Heilanstalt einweisen zu lassen, die er erst Jahre später als geheilt verlassen kann. Der zunächst als demütigend folgenden Protektion durch den Vater, auch er angesehener Botaniker, erhält Anselm eine Dozentenstelle. Dem möglichen Durchbruch, den er durch einen Vortrag bei der angesehenen Londoner Botanikergesellschaft schaffen könnte, schlägt er in den Wind, als er vom Vorkommen eines faszinierenden chinesischen Frauenschuhs hört und Hals über Kopf nach China aufbricht. Die Meldung erweist sich als falsch, sein persönliches Paradies mag er dennoch finden. Verena Stauffer ist da nicht so konkret. Sie lässt der Leserin Spielraum, auch in der Interpretation und darin, als was sie das äußerst poetisch und kunstvoll geschriebene Buch lesen mag. Als historischen Abenteuerroman? Als Wissenschaftsgeschichte um die Auseinandersetzung von althergebrachten Ansichten mit den revolutionären Darlegungen Darwins? Als Geschichte eines Wahns und seiner Behandlung im 19. Jahrhundert? Als Geschichte einer Passion? Alles möglich und gleichermaßen bereichernd. Hin und wieder verliert sich die Autorin für mich zu sehr in Sprachspielereien und Beschreibungsrausch. Da geht für mich die Geschichte ein wenig verloren. Dennoch ein ganz beachtliches Debüt, das für mich den 3. Platz erhält.
Der ebenfalls aus Österreich stammende David Fuchs ist nicht nur Autor, sondern auch Arzt, Fachgebiet Onkologie und Palliativmedizin. Mit thematischem Bezug dazu schreibt er einen Roman mit großer Sachkenntnis. Der Medizinstudent Ben ist der Ich-Erzähler. Er leistet gerade ein Praktikum auf der Onkologie ab und arbeitet nebenbei noch im Tierversuchslabor mit Schweinen. Er ist ein Mann, der noch nicht ganz angekommen scheint im Leben. Dieses dreht sich augenscheinlich nur um seine Arbeit. Mit Ironie und zeitweise zynischem Witz hält er sich dessen Leid, das Schicksal der Patienten wie der Versuchsschweine weitgehend fern. Als eines Tages mit Ambros sein verflossener Ex-Freund auf die Station kommt, gelingt ihm das erwartungsgemäß nicht mehr ganz so gut. Fünf Jahre ist es her, dass die beiden damals Siebzehnjährigen eine eher ungelenke Liebesbeziehung verband. Nun erfolgt erneut eine Annäherung, die aber nur auf Zeit sein kann. Denn Ambros Körper ist voller Metastasen, er wird sterben.
David Fuchs führt uns mit sparsamen Rückblenden in die Vergangenheit der Beiden, berichtet knapp und ohne jede Rührseligkeit vom Sterben. Trotz aller Distanz im Erzählen kommt Wärme auf. Hingegen vermeidet er all das, was viele „Sterbebücher“ für mich so unerträglich macht: Drama, Tragödie, überbordendes Leid bei gleichzeitiger Heroisierung von Patienten/Angehörigen/Ärzten. Es ist der stille, präzise beobachtete Krankenhausalltag, Ambros eigenwilliger Versuch, anhand von Polaroids, kurz vor dem Sterben oder Verschwinden von Menschen und Dingen aufgenommen, diesem Verschwinden etwas entgegenzusetzen und die zarte, unaufdringliche Beschreibung des Verhältnisses zwischen Ben und Ambros, die mir sehr gefallen hat an „Bevor wir verschwinden“. Deshalb für mich Platz zwei im Debütpreis.
Und nun – tatatata! – mein Siegertitel, der es relativ unangefochten auf Platz eins geschafft hat. Bettina Wilpert mit „Nichts, was uns passiert“.
Die fast protokollartige Schilderung eines sexuellen Übergriffs aus der Sicht nicht nur der Betroffenen, sondern auch deren Freundes- und Bekanntenkreises, hat mich sehr begeistert. Das liegt nicht unbedingt an der Aktualität des Themas, sondern an der Art, wie Wilpert mich als Leserin in einen Zwiespalt treibt, zwischen selbstverständlicher Solidarität mit dem „Opfer“ und dem Zweifel an ihren Aussagen und Handlungen, mich dazu zwingt, Positionen zu überdenken und immer wieder Standpunkte zu wechseln. Das alles schildert die Autorin so komplex wie offen – sehr stark.
Meine detaillierte Besprechung zum Buch wird in den nächsten Tagen in Form einer Rezension hier auf dem Blog veröffentlicht.
Auf der Frankfurter Buchmesse 2018 wurde Bettina Wilpert für dieses Buch der Aspekte Literaturpreis verliehen.
Meine Wertung im Überblick:
5 Punkte Bettina Wilpert – Nichts, was uns passiert
3 Punkte David Fuchs – Bevor wir verschwinden
1 Punkt Verena Stauffer – Orchis
Ich möchte schon einmal den Damen von „Das Debüt“ für ihre Arbeit, die Idee und ihre Durchführung danken. Es hat wieder viel Spaß gemacht.
Ebenso den beteiligten Verlagen, die sich für das Projekt engagiert haben. Danke!
Die Wertungen der anderen Jurymitglieder möchte ich hier verlinken:
- Eva Jancak von Literaturgeflüster⇒ Link
- Jessika Hädecke von Miss Paperback ⇒ Link
- Ruth Justen von Ruth liest ⇒ Link
- Fabian Neidhardt von mokita ⇒ Link
- Silvia Walter von leckere Kekse ⇒ Link
- Janine Rumrich von Frau Hemingway ⇒ Link
- Louisa Albrecht von Das Bücherregal
- Jennifer Hahn von Lesen in Leipzig ⇒ Link
- Katja Plifke von Zwischen den Seiten: Bücher und Anderes ⇒
- Marina Büttner von literaturleuchtet ⇒ Link
- Angelika Abels von Angelika liest ⇒ Link
- Marc Richter von Lesen macht glücklich ⇒ Link
Ich glaube, unsere Reihenfolge wird ähnlich ausfallen ?
Und nächstes Mal bin ich wieder voll dabei ?
Dann bin ich mal auf die Auswertung gespannt 😉
Sehr toll, bei mir war noch die Marie Gamilscheghttps://literaturgefluester.wordpress.com/2018/11/23/alles-was-glaenzt/ dazwischen und der“ Letzten Helsenbeck“ https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/11/29/der-letzte-huelsenbeck/ hat mir auch sehr gut gefallen, „Orchis“ https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/04/08/orchis/ wahrscheinlich auch.
Habe ich auch ein wenig schade gefunden, daß es dieses Mal so wenig zu hören und zu lesen darüber gab, so daß ich ich Bettina Wilpert https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/12/04/nichts-was-uns-passiert/als Favoritin nur vermuten kann.
Waren alles sehr tolle Bücher, allerdings würde ich auch einige andere auf der Longlist https://literaturgefluester.wordpress.com/2018/11/24/die-shortlist-des-bloggerdebutpreises/ dafür halten, liebe Grüße aus Wien und meine Bewertung gibts hierhttps://literaturgefluester.wordpress.com/2018/12/08/wuerfelspielereien/!
Viele liebe Grüße zurück! Ja, es bleibt spannend!
Na immerhin hat Orchis noch einen Punkt erhalten;-)
Es bleibt spannend!