Dörte Hansen – Mittagsstunde

Dörte Hansen ist mit Mittagsstunde ein hinreißender Dorfroman gelungen, spöttisch, liebevoll, berührend.

„Der erste Sommer ohne Störche war ein Zeichen, und als im Herbst die Stichlinge mit weißen Bäuchen in der Mergelkuhle trieben, war auch das ein Zeichen. »De Welt geiht ünner«, sagte Marret Feddersen und sah die Zeichen überall. Die alten Ulmen starben einen Sommer später, am Westerende, wo sie seit hundert Jahren Ast in Ast gestanden hatten. Ihre Blätter wurden plötzlich gelb, die Kronen kahl, im Juni schon. Sie standen noch ein Jahr wie abgedankte Könige. Dann kam Karl Martensen mit seinen Leuten, und ihre Motorsägen kreischten lange, bis sie die Ulmenstämme auf dem Wagen hatten. Hartes Holz, das ewig trocknen musste, bis man es hobeln oder fräsen konnte. Marret kam, sie holte sich ein Stück der grauen Borke ab und eine Handvoll Ulmenfrüchte, dann ging sie wieder durch das Dorf, von Tür zu Tür, wie sie es immer tat, wenn sie ein Zeichen sah: »De Welt geiht ünner.«“

Wenn auch ganz anders als von der leicht ver-rückten Marret immer wieder angekündigt, geht im Roman von Dörte Hansen „Mittagsstunde“ tatsächlich eine Welt unter. Es ist der Untergang des Dorfes in Deutschland, hier des fiktiven nordfriesischen Dorfs Brinkebüll, der damit verbundenen Verlust von dörflichem Leben und der gesellschaftliche Wandel, der damit einhergeht, von dem die Autorin, die aus einem ebensolchen Dorf in Norddeutschland stammt, hier erzählt.

Bereits ihr 2015 sowohl zum bestverkauften deutschsprachigen Roman als auch zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen gekürter Erstling „Altes Land“ hatte den ländlichen Raum zum Schauplatz, hier allerdings als Rückzugsort heutiger gestresster Städter. In „Mittagsstunde“ setzt die Autorin viel früher an. Eine Handlungsebene führt in die Jahre 1965/66 zurück, die andere wechselt zu 2013/14.

Im Rahmen der mit dem 1953 verabschiedeten gleichnamigen Gesetz beschlossenen Flurbereinigung kommen gewaltige Veränderungen auf Brinkebüll zu. Jahrhundertelang gewachsene Strukturen, Ordnungen und Traditionen werden durchgerüttelt und verlieren sich mit der Zeit. Das sind zunächst die kleinen Parzellen, die zur effektiveren Bearbeitung, auch durch die modernen, immer gigantischer werdenden Landwirtschaftsmaschinen, zusammengelegt werden, die Hecken und Gehölze, die gerodet werden, die Bäume und Findlinge, die weichen müssen. Zunächst freuen sich die Bewohner von Brinkebüll, dass ihre Straße begradigt und schön glatt geteert wird, auch wenn die uralten Kastanien dafür weichen müssen. Dafür lässt es sich nun formidabel Rad und Rollschuh laufen auf der neuen Wegdecke. Bis das erste Kind unter die Räder eines Lastwagens gerät.

Norddeutsches Dorf Dörte Hansen Mittagsstunde
Bauernhof im Heidenberger Weg 20 in Ottendorf Kiel by Stadtarchiv Kiel [CC BY-SA 3.0] via Wikimedia Commons
Mit der Flurbereinigung kommen auch die Landvermesser aus der Stadt ins Dorf. Einer davon macht der labilen, 17 jährigen Marret wohl „schöne Augen“, jedenfalls wird neun Monate nach den Vermessungsarbeiten der kleine Ingwer Feddersen geboren, der Hauptprotagonist des Romans.

Mangels eines Vaters und angesichts der zunehmenden Verwirrtheit seiner jugendlichen Mutter, nehmen sich die Großeltern, das Wirtsehepaar Ella und Sönke, seiner an. Ihre Dorfkneipe bleibt lange, auch lange nachdem der Dorfladen der strengen Ella Koopmann und die Dorfschule geschlossen worden sind, das eigentliche Herz des alten Weilers. Hier treffen sich die Männer, wenn sie den Gottesdienst bei Pastor Ahlers überstanden haben, hier feiert das ganze Dorf Taufe, Konfirmation, Hochzeit, silberne und goldene, und schließlich Beerdigung, all die Bahnsens, Martensens, Hamkes, Ketelsens und anderen „Dörpsminschen“. Mit großer Liebe und Sorgfalt charakterisiert Dörte Hansen eine Dorfgemeinschaft, ohne in die Kitsch- oder Stereotypenfalle zu tappen.

Ein wenig Nostalgie und Sentimentalität ist schon dabei, wenn Dörte Hansen von ihrer  Mittagsstunde erzählt, aber auf die angenehmste Art, und wie sollte auch nicht, wenn man vom Verschwinden etwas lange Gewachsenen erzählt. Niemals verschweigt der Roman aber, dass sich das Leben im Dorf wandeln musste, dass die Beschränktheit der Möglichkeiten, die soziale Kontrolle und Engstirnigkeit dort auch zur Last werden konnten. Es ist schon schwindelerregend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie rasant die Veränderungen in den letzten fünfzig Jahren waren. Haben sich die Strukturen in den Jahrhunderten zuvor nur geringfügig verschoben, wird nun alles umgekrempelt. Neben der Flurbereinigung und damit unmittelbar verbunden der Konzentrierung im Agrarsektor – die „Großen“ können die riesigen Flächen immer gewinnbringender bewirtschaften, die „Kleinen“, die sich die modernen Maschinen nicht leisten können, geben auf und verkaufen an „die Großen“ -, ist es vor allem die wachsende Mobilität der Bewohner, die das Leben im Dorf so grundlegend verändert. Nicht nur die Hausfrauen werden von Dora Koopmann dabei erwischt, bei Aldi auf der grünen Wiese statt bei ihr einzukaufen, auch die Jugend flieht, zumindest Samstagnacht. So ist die Dorfdisko bei Ella uns Sönke nicht länger angesagt. Einige der Jugendlichen verlieren ihr Leben an der langgezogenen Kurve kurz hinter dem Dorfausgang.

Gleichzeitig kommen die Städter nach Brinkebüll, besiedelt eine Künstlergruppe die alte Mühle, werden Alpakas gezüchtet, ein Dorfkulturverein gegründet und in der Kneipe probt die Line Dance-Gruppe. Nur Hanni Thomsen knattert immer noch mit seinem Mofa durch die Gegend.

Hay  via Pixabay

Damit befinden wir uns auf der zweiten, der gegenwärtigen Handlungsebene, die in unregelmäßigen Perspektivwechseln immer wieder gegen die Kindheit und Jugend Ingwer Feddersens geschnitten wird.

Marret ist schon lange aus dem Dorf verschwunden, keiner weiß wohin. Und auch Ingwer hat sich nach dem Studium in Kiel niedergelassen. Hier lehrt er an der Universität Frühgeschichte und lebt in einer etwas unentschiedenen Ménage à trois in einer Wohngemeinschaft mit Ragnild und Claudius. Nun hat sich Ingwer ein Sabbatjahr genommen, um seine greisen Großeltern im Dorf zu pflegen. Ella ist dement und Sönke lebt mit der Sorge, dass sie die bald bevorstehende Gnadenhochzeit, die sie natürlich bei sich in der Kneipe feiern wollen, nicht mehr erleben könnte.

Auf anschauliche, leise melancholische Weise schildert Dörte Hansen die Entwicklungen im Dorf, erzählt von den Menschen und lässt darüber nachdenken, wie uns unsere Herkunft prägt, was uns Zugehörigkeit bedeutet. Neben dem von ihr selbst so bezeichneten „Ende der Sesshaftigkeit“ stehen Themen wie Verlust von sozialen Bindungen, Verödung von ländlichen Gemeinden, aber auch Gegenentwürfe dazu, zudem die Sorge um die alternden Eltern völlig unangestrengt auf der Agenda des Romans.

Dörte Hansen schreibt nicht nur wunderbar, sie konstruiert ihren Roman auch äußerst geschickt und spannend, lässt genau so viel Nostalgie hinein, dass es nicht sentimental zu werden droht und es dem Leser doch ordentlich warm ums Herz wird.

Alle Kapitel tragen Titel von Liedern, von Schlagern, gerne auch vom von Schriftstellern aller Art offensichtlich sehr geschätzten Neil Young. „Junge, komm bald wieder“ und „Wir wollen niemals auseinander gehen“ schallen durch die Dorfkneipe. Es fällt tatsächlich schwer, sich von diesem wieder äußerst gelungenen und auch bereits die Bestsellerlisten stürmenden Roman zu trennen. Und dass sehr bald ein neues Buch von Dörte Hansen kommen wird, darauf darf man hoffen.

Weitere Besprechungen finden sich bei letteratura, Frau Lehmann liest, Booksnotdead, Der Buchbloggerin und Lesen in vollen Zügen

 

Beitragsbild: via pexels

Lektüre Januar

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Dörte Hansen – Mittagsstunde
Penguin Oktober 2018, Hardcover, 320 Seiten, €22,00

Ein Gedanke zu „Dörte Hansen – Mittagsstunde

  1. Ich habe „Altes Land“ verschlungen, mit „Mittagsstunde“ hatte ich es etwas schwerer – ein paar kleine Kritikpunkte habe ich da sprachlich, auch fand ich den Handlungsfortgang etwas zäh. Aber dennoch: Es sind beides schon sehr gute unterhaltende Romane.

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