Es ist eine in vieler Hinsicht merkwürdige Geschichte, die da erzählt wird. Ob sie auch die „allertraurigste“ ist, wie der Titel ankündigt und der Erzähler beteuert, muss am Ende der Leser entscheiden. Ein zu Unrecht ein wenig vergessener moderner Klassiker ist Die allertraurigste Geschichte von Ford Maddox Ford auf jeden Fall.
„Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe. Neun Jahre hindurch hatten wir während der Kursaison in Bad Nauheim mit den Ashburnhams in der größten Vertrautheit verkehrt – oder vielmehr in einem Verhältnis zu ihnen gestanden, das so lose und unbeschwert und doch so eng war wie das eines guten Handschuhs mit Ihrer Hand. Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs. Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wussten wir auch wieder gar nichts von ihnen.“
Viele namhafte Schriftsteller, wie Graham Greene, William Carlos Williams, Ian McEwan und Julian Barnes, von dem ein kurzer Essay der vorliegenden Ausgabe als Nachwort beigefügt wurde, nennen den 1915 veröffentlichten Roman „Die allertraurigste Geschichte“ (Original „The Good Soldier“) einen der bedeutendsten und gleichzeitig fast vergessenen, zumindest zu gering geachteten englischen Romane des 20. Jahrhunderts. Genauso wie seinen Autoren Ford Maddox Ford (1873-1939).
Merkwürdig an der Geschichte ist in erster Linie der Erzähler, der sie vor uns in einer Art Plauderton ausbreitet. Er spricht uns direkt an, auch wenn wir erfahren, dass er, John Dowell, seinerseits beschäftigungsloser Amerikanischer Millionär, sie niedergeschrieben hat, fühlt man sich als Leser, als würde einem vor dem Kamin, in der Hand einen Drink berichtet. Eine Geschichte, die der Erzähler keineswegs nur „gehört“ hat, sondern eine, in die er unmittelbar verwickelt und von der er direkt und aufs schärfste betroffen ist.
Gleich von Beginn an weckt dieser John Dowell größte Zweifel an der Redlichkeit und Zuverlässigkeit seines Erzählens. In erster Linie geschieht das durch die unzähligen Widersprüche, in die er sich verstrickt, die manchmal diametral entgegen stehenden Behauptungen und Charakterisierungen, die er abgibt. Im oben zitierten Abschnitt ist das Verhältnis der beiden Paare „lose und unbeschwert“ (was allein durch den Fortgang der Geschichte widerlegt wird) und gleichzeitig „so eng“. Sie kannten die Ashburnhams „so gut, wie man jemanden nur kennen kann“ und „wussten auch wieder gar nichts von ihnen“. Und so widersprüchlich geht es den ganzen Roman hindurch.
Gleichzeitig ist John Dowell alles andere als ein begnadeter Erzähler. Er schildert wirr, oftmals konfus, springt hin und her in Zeit, Ort und Handlung und will sich eine Spur zu deutlich als der gutherzige, harmlose, naive Verlierer der Geschichte darstellen.
Dabei erscheint er mir von Beginn an nicht nur sehr unsympathisch, besonders durch die Art seiner Charakterisierung seiner Mitmenschen, sondern auch extrem verlogen. Seine Geschichte geht so:
Er heiratet 1903 in den USA die reiche Erbin Florence und geht mit ihr auf deren Wunsch nach Europa. Die stürmische Überfahrt „erschreckt“ seine Frau derart, dass sie eine bleibende Herzschwäche erleidet, die fortan einen regelmäßigen Besuch von Kurbädern, namentlich Bad Nauheim, das in der Belle Epoque durch sein Sprudelbad weltweiten Ruhm besaß, erforderlich macht. Weiterhin stehen Reisen nach Südfrankreich auf dem Programm. Nur die Überfahrt ins eigentlich anvisierte England, die gilt als herzbedrohend, ebenso wie jegliche körperliche Annäherung zwischen den Eheleuten. Erst sehr viel später will John von einer Affäre seiner Frau, die sie nach Europa geführt habe, erfahren haben. Bei den Kur- und Urlaubsaufenthalten kommt es zu der Bekanntschaft zu den ebenfalls sehr begüterten Engländern Edward und Leonora Ashburnham. Diese sind unlängst von einem Dienstaufenthalt des Hauptmanns in Indien nach Europa zurückgekehrt. Ähnlich wie bei Florence scheint es sich bei Edward Ashburnhams Herzschwäche aber auch nur um ein eingebildetes Leiden zu handeln.
Hier taucht das Hauptmotiv von Ford Maddox Fords Roman auf: Sein und Schein. Scheint nämlich vorderhand alles perfekt, entspinnen sich im Hintergrund Ränke, Intrigen und Dramen riesigen Ausmaßes. Von denen Erzähler John Dowell merkwürdig emotions- und teilnahmslos (auch wenn er immer wieder die Adjektive „die arme“, „der bemitleidenswerte“ etc. benutzt) berichtet. Zwischen Edward, der bereits etliche Affären, gerne auch mit jungen unschuldigen Mädchen, hinter sich hat, und Florence entbrennt offensichtlich eine Liebesbeziehung. Oder etwa doch nicht? Man weiß es nicht so wirklich, denn wir hören nur Johns äußerst unzuverlässige Version der Geschichte. In seinem Reigen spielt noch eine von den Ashburnhams aus Indien mitgebrachte junge Frau, Maisie Maidan, und das Mündel von Leonora, Nancy, eine Rolle. Wer hier wen mit wem betrügt und wer von was etwas wusste – eine etwas undurchschaubare Angelegenheit, die durch Johns sprunghafte und unredliche Erzählweise nicht ganz klar wird. Am Ende sind jedenfalls drei der Beteiligten tot, zwei davon durch eigene Hand, eine verfällt dem Wahnsinn, Leonora, die als überzeugte Katholikin stets zu ihrem Mann gestanden, ja seine Affären offensichtlich sogar gefördert hat, ist mit guter Partie erneut verheiratet und auch John Dowell steht sich als vermögender Witwer nicht schlecht.
„Die allertraurigste Geschichte“ – so ganz nimmt man das dem Erzähler nicht ab. Dass vieles nicht so war, wie er es gerne darstellen möchte, kann man nur vermuten. Der Text lädt ein, auf ihn von den unterschiedlichsten Perspektiven zu schauen, ihm nicht zu trauen, ihn zu hinterfragen und bietet eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten an. Das macht ihn so interessant und modern. In John Dowells merkwürdig pathetischer und doch so kühler Erzählung steckt auch einiges an Witz und Ironie. Und letztlich, sie endet 1913, erahnt man darin auch ein wenig den Untergang einer Gesellschaft, der sich dann im „Großen Krieg“ manifestieren sollte.
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Beitragsbild: bad_nauheim_the_great_fountain CC0 via Wikimedia Commons
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Ford Maddox Ford – Die allertraurigste Geschichte
Aus dem Englischen von Fritz Lorch und Helene Henze. Mit einem Nachwort von Julian Barnes
Diogenes November 2018, Hardcover Leinen, 320 Seiten
erschienen am 28. November 2018, € 29.00
Hallo Petra! Obwohl ich in Bad Nauheim lebe, habe ich bis jetzt von dem Roman noch nichts gewusst…Danke für Deine schöne Rezi, ich werde in Zukunft Ausschau nach dem Buch halten. Für die Spielbank ist übrigens Bad Homburg vor der Höhe berühmt, hier hat schon Fjodor Dostojewski gespielt und ihr sogar einen Roman gewidmet (Der Spieler). In Bad Nauheim gibt es jede Menge Kurbetriebe, aber keine Roulettetische. Bin auf Deine nächsten Rezis gespannt. Gruß, Justus
Hallo Justus! Bad Nauheim spielt in dem Buch eigentlich keine wirklich große Rolle, ist nur der Schauplatz für eine mondäne, reiche Kurgesellschaft. Trotzdem ist es natürlich interessant, wenn die eigene Stadt in einem Roman vorkommt (wir sind ja nicht so damit verwöhnt wie dir Berliner, Hamburger, Münchner…). Ich habe nochmal nachgelesen, und tatsächlich hatte Bad Nauheim von 1854 bis 1872 eine Spielbank, deren Gewinne erheblich zum Bau der Kuranlagen beigetragen hat. ( Quelle: http://www.giessener-zeitung.de/hungen/beitrag/102851/spielbank-in-bad-nauheim-aber-ja-allerdings-nur-18-jahre-lang/) Zur Zeit der Romanhandlung war sie allerdings Geschichte, das stimmt. Viele Grüße, Petra