Der junge Édouard Louis, Jahrgang 1992, ist in Frankreich und auch bei uns in Deutschland mit seinen bisherigen zwei eher schmalen Romanen ein Bestseller- und fast so etwas wie ein Kultautor geworden. Louis kommt von „ganz unten“, ein Arbeitersohn aus der französischen Provinz, der ähnlich wie sein Kollege Didier Éribon und auch Annie Ernaux versucht, diese Herkunft und ihre Auswirkungen auf die Lebenswege zu untersuchen und zu beleuchten. Dabei ist ihnen nicht nur der autobiografische Hintergrund, sondern auch die soziologisch geprägte, sehr analytische Herangehensweise gemeinsam. Sie alle treibt um, wie die Herkunft und die gesellschaftliche Prägung die Menschen am Fuß der sozialen Leiter – neuerdings spricht man gern von den „Abgehängten“ – in die Arme von Rechtspopulisten, zu rassistischen, frauen- und fremdenfeindlichen Positionen treiben. Nun legt Édouard Louis seinen dritten Roman vor, Wer hat meinen Vater umgebracht.
In seinem Debütroman „Das Ende von Eddy“ schockierte er mit einer drastischen Schilderung seines familiären Hintergrundes, insbesondere seines trunksüchtigen, hasserfüllten Vaters, der ihn, den schöngeistigen, homosexuellen Jugendlichen gequält und verachtet hat.
„An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung“
lautete dort der erste Satz. Eine Kindheit voller Wut, Enge und Gewalt, ein brutaler Bruder, eine gedemütigte, geschlagene und unglückliche Mutter.
Spurensuche oder Pamphlet?
Nun legt Édouard Louis erneut ein schmales autobiografisches Bändchen vor, „Wer hat meinen Vater umgebracht“. Was vielleicht nach einer Spurensuche, einem Herantasten an Hintergründe und Benennung von möglichen Ursachen für dieses Unglück klingen könnte, erweist sich leider recht bald als ein Pamphlet, plakativ und meiner Meinung nach völlig überzeichnet. Da steht bewusst kein Fragezeichen hinter dem Titel, denn dem Autor ist die Antwort völlig klar und mit seinem Buch möchte er die in seinen Augen Verantwortlichen anklagen.
Eine polemische Anklageschrift ist nun nicht unbedingt eine ideale Bedingung für gute Literatur. Aber Édouard Louis geht es vorderhand auch gar nicht um solche Kriterien.
„Literatur muss kämpfen – für all jene, die selber nicht kämpfen können, die zum Stillschweigen verdammt sind.“
Im Schatten des Vaters
Als Kind selbst starker körperlicher Gewalt durch den eigenen Vater ausgesetzt, durch überzogenen Männlichkeitswahn – „Bildung ist was für Schwächlinge oder Schwuchteln“ – zum vorzeitigen Verlassen der Schule gebracht und dadurch zu lebenslanger Armut vorbestimmt, durch einen Betriebsunfall schwer verletzt und eigentlich arbeitsunfähig, aber durch ein Versagen der Sozialsysteme zur Aufnahme erniedrigender und gesundheitsruinierender Arbeit (als Straßenfeger) gezwungen, führt für Édouard Louis ein gerader Weg in die Frustration, in Alkoholismus, Gewalt und Hass. Ein idealer Nährboden für rechtes Gedankengut.
Und die Schuldigen für des Vaters Elend sind auch schnell benannt. Es sind „die da oben.“
„Man muss so schreiben, in Büchern von Dingen so sprechen, dass sie unerträglich werden für die Bourgeoisie.“
Die Gesellschaft, das Bürgertum, die Eliten und vor allem die Politiker haben das Leben von Louis Vater und Millionen anderer vorbestimmt, manifestiert und zerstört. Das steht für ihn fest. Und er nennt auch Namen:
„Hollande, Valls, El Khomri, Hirsch, Sarkozy, Macron, Bertrand, Chirac. Für deine Leidensgeschichte gibt es Namen. Deine Lebensgeschichte ist die Geschichte dieser Figuren, die aufeinandergefolgt sind, um dich fertigzumachen.“
„Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt.“ – weil sie die Erstattung von einigen Arzneimitteln gegen Verdauungsstörungen aufhoben.
„Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller.“ – weil er fünf Euro von der Wohnungsbeihilfe kürzt.
Aufklärung oder Polemik?
Nicht allein, dass eine solche Argumentation einer völligen sozialen Überdeterminierung das Wort redet, ist ärgerlich. Sie lässt auch gegen sie sprechende Argumente völlig weg. So wird zwar der enorme Alkoholkonsum des Vaters, die unzähligen Zigaretten, die er raucht, sein Leben, das nahezu nur noch vor dem Fernseher stattfindet, erwähnt, aber lediglich als Folge einer verfehlten Politik, niemals als Ursache beispielsweise des schlechten Gesundheitszustands des Vaters benannt.
Hier will niemand aufklären, und das unterscheidet ihn auch von einem in dem Zusammenhang gern genannten berühmten Vorgänger der literarischen Anklageschrift, Émile Zolas „J´accuse!“.
Hier geht es nur um Polemik. Und um ein völlig negativ besetztes Politikbild, das Louis so umschreibt:
„Begreift man Politik als die Regierung von Lebewesen über andere Lebewesen, und gehören die Individuen jeweils Gemeinschaften an, denen sie zugewiesen wurden, dann besteht Politik in der Abgrenzung jener Bevölkerungsteile, die ein komfortables, geschütztes, begünstigtes Leben genießen, von solchen, die Tod, Verfolgung, Mord ausgesetzt sind.“
Recht unangenehm und nicht ganz nachvollziehbar war mir auch folgender Absatz:
„Dann füllte Langeweile dein gesamtes Leben aus. Bei deinem Anblick wurde mir klar, dass Langeweile das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Sogar in den Konzentrationslagern konnte man sich langweilen.“
Und das war dann das Schlimmste, was einem dort passieren konnte?
Vereinfachung
Nein, ich will weder Édouard Louis seinen gesellschaftspolitisch aufrüttelnden Impuls absprechen, noch bezweifeln, dass dieses Buch, gerade dadurch, dass es zum Widerspruch anregt, zu einer notwendigen Diskussion beitragen kann. Dass nicht nur in Frankreich durchgreifende soziale Reformen nötig sind, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich unbedingt wieder mehr schließen muss und dass Politik nicht mit Arroganz gemacht werden darf, sind unbestreitbare Tatsachen. Dass sie aber derart simpel argumentierend und stark vereinfachend dargestellt werden, finde ich nicht nur kontrapoduktiv in einer Gesellschaft, die gerade mehr Zusammenhalt und Einigkeit statt Polarisierung und verhärtete Fronten braucht, sondern regelrecht gefährlich. Statt zu Simplifizieren, wie es Populisten aller Couleur tun, sollte man lieber versuchen, komplexe Vorgänge als solche zu benennen und sie möglichst einfach und einleuchtend darzustellen. Aber diesen schwierigen Weg geht der Autor nicht.
Die Gelbwestenbewegung
Es verwundert nicht, dass sich Édouard Louis zu Hundertprozent solidarisch mit den „Gilets jaunes“ erklärt hat, selbst als diese sich rassistisch und homophob äußerten. Berichterstattern darüber sprach er sogleich die Kompetenz dazu ab.
„Natürlich haben sich Gelbwesten rassistisch und homophob geäußert oder verhalten. Doch seit wann sorgen sich die Kommentatoren, die das beklagen, um Rassismus und Homophobie? Was haben sie bisher gegen Rassismus getan?“
So sieht er auch in der Bewegung nur Leidensgenossen seines Vaters:
„Auf den Fotos zu den vielen Artikeln sah man Körper, die im medialen und öffentlichen Raum fast immer unsichtbar bleiben. Leidende Körper. Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind, die gezeichnet sind von räumlicher und sozialer Ausgrenzung. Ich blickte in ausgemergelte Gesichter, sah gebeugte, gebrochene Menschen, schaute auf erschöpfte Hände.“
„Wer die Gelbwesten beleidigt, beleidigt meinen Vater.“
Édouard Louis hat mit seiner radikalen Anklageschrift Wer hat meinen Vater umgebracht einen Nerv getroffen, gerade auch bei der von ihm so angeklagten Bildungsbürgerschicht. Die fast durchweg wohlwollenden Kritiken sprechen Bände. Mir macht der Text eher ein wenig Angst, wenn er mit den (dem Vater in den Mund gelegten, aber nicht widersprochenen) Worten schließt:
„Recht so, ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.“
Quelle: Édouard Louis – Gelbwesten : Wer sie beleidigt, beleidigt meinen Vater, Die Zeit Online (https://www.zeit.de/kultur/2018-12/gelbwesten-frankreich-gesellschaft-sozialitaet-klassen-gewalt-edouard-louis)
Beitragsbild: Manifestation des gilets jaunes, au carrefour des Errues, à Menoncourt, le 25 novembre 2018 by Thomas Bresson [CC BY 4.0] via Wikimedia Commons
Eine begeisterte Besprechung findet ihr bei Travel without moving
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Édouard Louis – Wer hat meinen Vater umgebracht
Übersetzt von: Hinrich Schmidt-Henkel
S. FISCHER Januar 2019, 80 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, €16,00
Liebe Petra,
aus deiner Besprechung habe ich viel Differenziertes herausgelesen: das Verständnis einerseits dafür, dass „Sozial“ noch einmal neu gedacht werden muss, dass manches in der Politik der letzten Jahre, das gilt sicherlich in vielen Ländern so, dafür gesorgt hat, sozial Schwache zu sehr in eine Ecke zu drängen, in eine Ecke, aus der sie selbst kaum mehr herauskommen. Die Kritik aber auch daran, dass Louis eben auch sehr einseitig argumentiert, die eigenen Anteile des Vaters nicht berücksichtig. Dass er sich hinreißen lässt zu einer unkritischen Akzeptanz der Gelbwesten-Bewegung, dass er gar einer Revolution das Wort redet. Das macht tatsächlich Angst.
Problematisch ist ja vor allem die einseitige Sicht. Ich habe mich – aus anderem Anlass – ein bisschen mit dem Populismus beschäftigt, der im Moment natürlich so deutlich auf der rechten Seite aufscheint. Es ist aber in den Artikeln der Bundeszentrale für politische Bildung von Kriterien zur Identifikation von Polulismus zu lesen, die zur Analyse von Entwicklungen auf der linken Seite ebneso genutzt werden können. Tendenzen gibt es da wohl auch.
So gut es ist, Probleme anzusprechen, so problematisch sind eben immer die Vereinfachungen und die einfachen Schuldzuweisungen.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, exakt so habe ich es gemeint. Ich finde Populismus und Vereinfachungen sehr gefährlich, egal von welcher Seite. Unsere Welt ist zu komplex, um Probleme so zu lösen oder Menschen so auf die eigene Seite zu ziehen. Oft ist es das Unvermögen oder der Unwillen, schwierige Zusammenhänge darzulegen und auch mal zuzugeben, dass es einfache Lösungen oft nicht gibt. Gerade dadurch macht es Louis Gegnern auch zu einfach, die dann zu recht seine Kritik abtun können („Chirac hat deine Verdauung zerstört“ – absurd). Statt Bildung und „Eliten“ zu verteufeln, was Populisten jeglicher Couleur (siehe Trump; wie sehr sich doch die Lager gleichen) gerne tun, sollte man die Bildungschancen erhöhen und das soziale Gefüge deutlich durchlässiger machen. Davon leider keine Rede. Liebe Grüße, Petra