Frühjahr und Sommer 1969 – Mondlandung, Kalter Krieg, Nachwehen der Studentenproteste, fortdauernder Vietnamkrieg, Woodstock und ein wenig ziehen auch Nachbeben des Summer of love hinein ins BRD-Biedermeier. Wie oft hat man nicht schon darüber gelesen. Besonders über Kinder, vornehmlich Jungs, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden standen. (Unlängst schrieb Matthias Brandt mit „Raumpatrouille“ einen beglückenden Roman darüber). Und doch schreibt Ulrich Woelk mit Der Sommer meiner Mutter die Geschichte auch neu.
Die Autoren greifen dabei oft tief in die Mottenkiste der Schwarz-Weiß-Fernseher und Samstagabendshows, zu Nylonkleidern und Batikblusen, zu E605 und fröhlicher Zigarettenwerbung, zur Panorama-Fensterfront und abwaschbaren Einbauküchen. Dazu singen die Doors und Janis Joplin.
Auch Ulrich Woelk greift in „Der Sommer meiner Mutter“ auf dieses Szenario zurück und spart nicht an nostalgischen Reminiszenzen. Aber sein Rückblick ist nicht nur von der typischen Wehmut durchzogen – Ende der Kindheit, oft gepaart mit einem Zerfall der Familie -, obwohl das auch hier zum Tragen kommt. Aber der Sommer des elfjährigen Tobias verläuft um einiges tragischer. Und das verrät uns der Autor bereits im ersten Satz.
„Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“
Aufbruchsstimmung
Dabei beginnt alles so aussichtsreich und hoffnungsvoll. Tobias wünscht sich zum Geburtstag eine richtige Jeans. Endlich keine gebügelten Stoffhosen und Nickis mehr, sondern in richtig lässiges Outfit. Passend dazu hat in Köln der erste Jeans-„Store“ eröffnet, ein Laden mit Selbstbedienung! Selbst die Mutter Eva, ihres Zeichens Hausfrau, an der typischerweise bisher alle Errungenschaften und neuen Ideen von 1968 spurlos vorbeigegangen sind, probiert diese neuartige Mode an. Schließlich entscheidet sie sich dagegen. „So eine Hose ist dann doch nichts für mich.“ Wie tief die Durchschnittsfrau doch noch selbst in reaktionären Denkmustern steckte, das macht Woelk sehr schön deutlich.
Eine Jeans und die Apollo-Weltraummission, das ist für den von Astronomie und Wissenschaft begeisterten Tobias der Aufbruch. Gebannt verfolgt er mit seinem Vater vor dem Fernseher die Expeditionen ins All – während die Mutter in der Küche steht.
Wie aufregend, dass gerade nun eine junge Familie statt des verstorbenen griesgrämigen Nachbars ins Haus nebenan am Stadtrand von Köln zieht. Familie Leinhard ist so ganz anders als die Ahrens, das sieht Tobias sofort.
Zeitkolorit
Auch hier wird kräftig mit dem Zeitkolorit gespielt: Vater Leinhard ist Unidozent, fährt Volvo, trägt eine randlose Brille und raucht Gitanes, Mutter Uschi ist Übersetzerin, selbstbewusst und trägt Jeans und Batikbluse. Dann ist da noch die frühreife Rosa, zwei Jahre älter als Tobias, politisch interessiert und schon ein wenig sexuell erfahren. Bieder-bürgerlich trifft auf links-intellektuell. Dazu gesellt sich oft noch Onkel Hartmut, ehemaliger Stuka-Pilot mit recht reaktionären Ansichten. Aber, man versteht sich, trinkt Bier, grillt und schaut zusammen Fußball. Unweigerlich kommt es auch zu ersten sexuellen Erfahrungen zwischen Tobias und seiner neuen Freundin.
Insgesamt mischen die Leinhards, die einige Jahre in Griechenland gelebt haben und solch exotische Speisen wie Moussaka zubereiten können, ihre Nachbarn ganz schön auf. Eva beginnt sogar gegen den Willen ihres Mannes ebenfalls eine Übersetzungstätigkeit. Dass aber auch die Leinhards, genauer gesagt Herr Leinhard, nur Kinder ihrer Zeit sind, viele der „modernen“ Überzeugungen einer Prüfung nicht standhalten, zeigen die weiteren tragischen Ereignisse, die am Ende zum Anfangssatz des Romans führen.
Das, worüber Ulrich Woelk schreibt, ist wahrlich nicht neu. Und er tut es auf die bewährte Art, verwendet die bekannten Versatzstücke, baut immer auch ein wenig Zeitgeschichte fürs Kolorit ein. Annähernde Altersgenossen, wie ich, fühlen sich schon von daher wohl im Roman. Aber es gelingt ihm auch, neue Funken aus der Geschichte zu schlagen, er erzählt routiniert und unterhaltsam. Deshalb sei dieses Buch auch all jenen empfohlen, die den „Summer of 69“ nur von einem Popsong kennen.
Eine weitere Besprechung bei Letteratura. Ganz schön hart ins Gericht geht Marius von Buchhaltung mit dem Roman, den er für das Buchpreisbloggen gelesen hat.
Zu meiner großen Freude wurde Der Sommer meiner Mutter für die Longlist des Deutschen Buchpreis nominiert.
Beitragsbild: Bundesarchiv, Bild 183-H0812-0031-001 / [CC BY-SA 3.0] via Wikimedia Commons
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Ulrich Woelk – Der Sommer meiner Mutter
C.H.Beck Januar 2019, 189 S., Hardcover, €19,95
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