King Lear in Bollywood – ein spannender Ansatz. Gerade Indien, immer wieder im Fokus durch Raubtierkapitalismus, erschreckenden Umgang mit seiner weiblichen Bevölkerung, das Kastenwesen, die tiefe gesellschaftlichen Spaltung und die Verbundenheit mit Traditionen, Mythen, Religionen bei gleichzeitig rasant fortschreitender Modernisierung bietet einen idealen Schauplatz für eine moderne Fassung des jahrhundertealten Tragödienstoffs von Shakespeare. Immer wieder gibt er mehr oder weniger gelungene Adaptionen des Stücks, unlängst auch im Rahmen des Hogarths Shakespeare Projects ( ). Oft erschöpfen diese sich in einer Nacherzählung mit bloßen Anpassung an moderne Zeiten. Selten gelingen sie so überzeugend wie bei Preti Taneja in Wir die wir jung sind.
Ein moderner King Lear
Bereits Edward St. Aubyn hat König Lear in die Geschäftswelt versetzt und den Konflikt seiner drei Töchter zu einem um das materielle Erbe und die Macht verdichtet. Auch der König Lear in Tanejas Version ist ein Wirtschaftsmagnat. Devraj Bapu ist einer jener Superreichen, die vielleicht nur in aufstrebenden Schwellenländern so denkbar sind, wo soziale und gesellschaftliche Rücksichtnahmen entbehrlich sind, gleichzeitig das Gros der Bevölkerung in großer Armut und ohne großen politischen Einfluss lebt. Auch wenn der Trend in den letzten Jahren in eine andere Richtung geht (die TopTen der Milliardäre teilen sich nun fast ausschließlich US-Amerikaner), stamm(t)en viele der Topverdiener aus Ländern wie Mexiko, China, Russland – oder eben Indien.
Devraj Bapu, der einem breiten Wirtschaftsimperium mit Hotels, Shoppingmalls, Beton, Minen, Kleidung, Autos und Waffen vorsteht, residiert in Luxus und regiert wie ein König. Gerade als er darüber nachdenkt, aus Altersgründen seine Macht und sein Vermögen unter seinen drei Töchtern aufzuteilen und dafür, wie einst Lear einen Liebes- und Loyalitätsbeweis von diesen einfordert, bricht die jüngste und Lieblingstochter Sita aus dem goldenen Käfig aus. Loyalität hätte Sita bewiesen, wenn sie, wie zuvor ihre Schwestern Gargi und Radha, eine dem Vater genehme und der „Company“ nützliche Heirat eingegangen wäre. Sita aber möchte frei sein und ihren Ambitionen als Umweltaktivistin nachgehen. Durch ihr Ausreißen setzt Sita eine schreckliche Ereigniskette in Gang, die durch die dem Vater missliebigen Umstrukturierungspläne der Schwestern befördert wird.
Bollywood wird hyper-real
Was bisher viel von einer Seifenoper, einem Bollywoodschauspiel mit jeder Menge Luxus, detailreichen Schilderungen von Kleidung, Speisen, Interieurs und reichlich Klatsch, Liebe und Intrigen hatte, kippt nun ein wenig ins Irreale, Taneja nennt es „hyper-real“. Devraj Bapu gleitet zunehmend in den Irrsinn ab, führt zusammen mit seiner neunzigjährigen Mutter Nanu einen regelrechten Feldzug nicht nur medialer Art gegen seine „illoyalen“ Töchter, diese misstrauen sich zunehmend, entwickeln Hass, Grausamkeit, Eifersucht, Missgunst. Wie in Shakespeares Stück werden sie dabei unterstützt/behindert von ihren Ehemännern und zahlreichen Gefolgsleuten mit unterschiedlichen Loyalitäten, allen voran Ranjit, ein alter Vertrauter des Vaters und für die Mädchen so etwas wie ein Onkel, und seine Söhne Jeet und Javin. Javin ist ein illegitimer Spross, der gerade nach dem Tod seiner Mutter von seinem Leben in den USA nach Indien zurückgekehrt ist. Jeet dagegen hadert mit seiner Homosexualität und verschwindet als „weiser Mann“ in einen Slum.
Familiendrama
Das Familiendrama schaukelt sich wie die Emotionen und Intrigen hoch und mündet zur geplanten Eröffnung eines neuen „Company“-Hotel in Srinagar/Kashmir in einem gigantischen Sturm. Auch dies natürlich ein Shakespeare-Motiv. Überhaupt ist der Roman voller literarischer und nichtliterarischer Anspielungen, beispielweise auch an Charles Dickens, Virginia Woolf und Dantes Höllenkreise und hat zunehmend etwas Märchenhaftes (mit einem echten vergifteten Apfel!). Eine rein reale Leseweise führt deshalb zu Irritierungen. Zu krude, teilweise auch brutal entwickelt sich das Geschehen. Höhepunkte erreicht es bei Bapus Massaker an der Pfauenkolonie, die seinen Landsitz bevölkern (der Pfau, der heilige Landesvogel Indiens) und dem schrecklichen Sturm, während dessen Bapu, Nanu und Jeet in einem Slumviertel herumirren. Am Ende sind, wie in den Shakespeare-Dramen, die meisten Protagonisten tot.
Reichlich Stoff
Außer den literarischen Anspielungen, auch auf alte indische Texte, findet man auch reichlich geschichtliche und politische Hinweise, auf Globalisierung, erstarkenden Hindunationalismus, den Kashmirkonflikt, Korruption und die gegen sie geführten Demonstrationen etc. Im Mittelpunkt steht mit den drei Töchtern auch immer die Stellung der Frau in der indischen Gesellschaft und Familie, der Generationenkonflikt, Tradition gegen Moderne. Das ist reichlich, vielleicht überreichlich Stoff, größtenteils hält Taneja ihn aber gut zusammen, einige Längen eingeschlossen. Die Protagonisten werden darüber allerdings ein wenig blass, bleiben unzugänglich, fern, reine Statisten, haben teilweise gar etwas Karikaturhaftes.
Das ist aber nicht mein größter Einwand gegen „Wir die wir jung sind“von Preti Taneja. Wie etliche, besonders Englisch schreibende indische Autor*innen, flicht die Autorin Unmengen an Originalbegriffen in Hindi ein, ganze Passagen sind auf Hindi geschrieben und bleiben unübersetzt. Ein angefügtes Glossar beinhaltet nur einen kleinen Bruchteil dieser Begriffe, unter welchen Kriterien sie ausgewählt wurden, blieb mir verborgen. In ihrem Nachwort schreibt die Übersetzerin davon, alle nicht im deutschen Wikipedia vorhanden Begriffe aufgenommen zu haben. Das stimmt leider nicht, außerdem wäre eine endlose Googelei auch nicht sehr leseförderlich. Ich habe dann gar nicht mehr im Glossar nachgeschaut, weil sowieso die meisten Wörter dort nicht zu finden sind – mit einigem Frust. Lesegenuss kann sich nur für denjenigen einstellen, der über diese unzähligen Stellen einfach hinwegzulesen vermag. Mir war das nicht gegeben. Ich frage mich, ob Autor*innen wie Preti Taneja nur für ihre eigene Community schreiben.
Desmond Elliott Prize
In England schien das nicht zu stören. Dort gewann der Roman den hochdotierten Desmond Elliott Prize für ein Debüt. Ich persönlich frage mich, ob solche Romane überhaupt übersetzbar sind. Insgesamt empfand ich die Übersetzung aber auch nicht als nicht wirklich rund und gelungen, besonders im Vergleich mit dem Original. Normalerweise interessieren mich solche Vergleiche nicht, hier hatte ich aber das Gefühl, dass einiges hängt und eiert und dafür die Übersetzung verantwortlich ist.
Diese sprachlichen Probleme, die ich mit dem Text hatte, haben mir die Lektüre des Buchs einigermaßen schwer gemacht. Schade, denn Stoff und Umsetzung sind gleichzeitig äußerst gelungen.
Beitragsbild: Bollywood Poster Detail by Meena Kadri (CC BY-NC-ND 2.0)
_____________________________________________________
*Werbung*
Preti Taneja – Wir, die wir jung sind
Aus dem Englischen von Claudia Wenner.
C.H.Beck Februar 2019, Hardcover , 629 S., 26,00 €