Alice Zeniter – Die Kunst zu verlieren

Als „Harki“ werden die Algerier bezeichnet, die einst im (Militär)Dienst der französischen Regierung standen. Sie gelten in Algerien als Kollaborateure. Denn nach der Entlassung in die Unabhängigkeit 1962, nach acht Jahren blutigem Krieg mit der FLN, der Front de Libération Nationale, der in Frankreich lange Zeit nur als „Konflikt“ bezeichnet wurde und dessen Aufarbeitung erst in den Neunziger Jahren begann (seit 1999 ist offiziell von „Krieg“ die Rede), galten die Harkis als Landesverräter, die verfolgt, gefoltert und massenweise getötet wurden. Die sehr disparaten Zahlen gehen von 150.000 bis 200.000 Harkis aus, von denen geschätzt mehrere Zehntausend getötet wurden – oft auf unvorstellbar grausame Weise. Von ihnen erzählt Alice Zeniter in „Die Kunst zu verlieren“.

Das Schicksal der Harkis

Nach dem Vertrag von Evian, der die Unabhängigkeit Algeriens beschloss, sicherte dieses zwar die Unversehrtheit der Harkis zu, die Einhaltung dieser Vereinbarung wurde von Frankreich aber nicht durchgesetzt. Stattdessen wurden die Harki-Verbände entwaffnet und ihrem eigenen Schicksal überlassen. Auch die Aufnahme in Frankreich wurde den einstigen Mitstreitern meistenteils verwehrt, und zwar auf ausdrücklichen Befehl von Präsident Charles de Gaulle, der schon den Ansturm der einst in Algerien angesiedelten und nun zurückkehrenden Franzosen, der sogenannten „Pieds noirs“, als schwer zu bewältigen ansah. Für die ehemaligen Gefolgsleute Frankreichs ein herber Schlag. Galten die zwischen 1830 und 1847 eroberten algerischen Gebiete in Frankreich doch nicht nur als Kolonie, sondern als richtige Départements, als feste Teilregionen des Mutterlandes. „Das Mittelmeer teilt Frankreich und Algerien so, wie die Seine durch Paris fließt“ war das Motto.Harkis 1960 Alice Zeniter - Die Kunst zu verlieren

View of armed Harkis d’Inesta ca. 1960 by Richard M. Hunt Papers CC0 via FlickrDoch nun waren die Harkis auf sich gestellt, nur wenige direkte Truppenangehörige wurden mit den „weißen“ Franzosen evakuiert. Aber in Frankreich angekommen, wurden sie noch lange Zeit wie Bürger zweiter Klasse behandelt und in Internierungslagern gepfercht, deren letzte erst in den Siebziger Jahren aufgelöst wurden. Es dauerte schließlich bis nach der Jahrtausendwende, dass das Unrecht, dass an den Harkis begangen wurde, staatlich anerkannt wurde.

Nicht nur in Frankreich fast vergessen, sondern auch hierzulande weitgehend unbekannt, ist nun auch auf Deutsch ein Buch erschienen, das das Schicksal der Harkis und ihrer Nachkommen in Frankreich bis in unserer Zeit zum Thema hat.

Die Nachkommen der Harkis

Naïma, die Hauptprotagonistin, ist wie die Autorin Alice Zeniter Enkelin eines Harki. Ausgehend von ihrem Gefühl, „es nicht zu schaffen“, das sie immer wieder befällt, diesem unvermeidlichem Scheitern, das sie verfolgt, und einem Ausspruch ihres Onkels Mohamed
„Was glaubt ihr, machen eure Töchter in den großen Städten? Sie sagen, sie gehen studieren. Aber schaut sie auch an: Sie tragen Hosen, sie rauchen, sie trinken, sie führen sich auf wie Huren. Sie haben vergessen, woher sie kommen“
macht sie sich auf die Suche nach dem Land ihrer Herkunft, nach der Vergangenheit ihrer Familie und, wenn auch eher zögerlich, auch auf eine Reise nach Algerien,

„das Land, (…) das für sie erst viel später zu existieren begonnen (hatte), in dem Jahr, in dem sie neunundzwanzig wurde.“

Erzählt wird diese Geschichte von einem nicht näher identifizierten „Ich“, vielleicht der Autorin, vielleicht einer Erzählerin.

„Wenn ich Naïmas Geschichte aufschriebe, begänne sie natürlich nicht in Algerien. Naïma wurde in der Normandie geboren. Davon wäre zu berichten. Von Hamids und Clarisse` vier Töchtern, die im Garten spielten. Den Straßen von Alençon. Den Ferien auf dem Cotentin. (…) Es ist langwierig, ein Land dem Schweigen zu entreißen, vor allem, wenn es sich um Algerien handelt. Seine Fläche beträgt 2.381.741 Quadratkilometer, was es zum zehntgrößten Land der Erde macht, dem ersten auf dem afrikanischen Kontinent und der arabischen Welt. Achtzig Prozent dieser Fläche werden von der Sahara eingenommen. Das hat Naïma aus Wikipedia, nicht aus Familienerzählungen und nicht aus Erfahrung – sie hat die Weiten nicht selbst durchmessen. Wenn man gezwungen ist, sich die Informationen über das Land, aus dem man angeblich stammt, aus Wikipedia zusammenzusuchen, dann gibt es vermutlich ein Problem. Vielleicht hat Mohamed Recht.“

Hat Naïma tatsächlich vergessen, woher sie kommt? Kommt von diesem Verlieren auch ihr stetes Gefühl des Scheiterns?

Camps de Rivesaltes Alice Zeniter - Die Kunst zu verlieren
Camps_de_Rivesaltes by  Meria Geoian [CC BY-SA 4.0] via Wikimedia Commons
Familiengeschichte

Die bisher nie erzählte Familiengeschichte ist im Roman in drei Abschnitte geteilt: „Papas Algerien“ erzählt von den Wurzeln der Familie in der Kabylei, jener Küsten- und Bergregion östlich von Algier, in der sich Nachfahren verschiedener Berberstämme angesiedelt haben. Die Familie fühlte sich lange ganz selbstverständlich als algerische Franzosen, kamen als Olivenbauern zu einigem Wohlstand und Ansehen. Auch Großvater Ali diente bereits im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Franzosen, stand einst vor Monte Cassino, war hochdekoriert. Mit Beginn der Unabhängigkeit sind sein Leben und das seiner Familie plötzlich bedroht, mit viel Glück gelingt ihnen die Flucht nach Frankreich.

Der zweite Teil ist „Kaltes Frankreich“ betitelt und beschäftigt sich mit der Zeit im Lager, im Camp Rivesaltes nahe Perpignan, und der schwierigen Eingewöhnung in Frankreich. Während diese für Ali und seine Frau Yema sehr schwer fällt, sie aber gleichzeitig ihr Heimatland Algerien gänzlich verdrängen, gelingt es dem Sohn Hamid recht schnell, in Frankreich Fuß zu fassen und sich, wie es heißt, „perfekt zu integrieren“. Er heiratet eine Französin und bekommt vier Töchter. Algerien spielt für ihn keine Rolle mehr. Gleichzeitig ist an eine Rückkehr oder auch nur einen Besuch nicht zu denken. Harkis und ihre Nachlommen werden im Mutterland immer noch verfolgt und bedroht.

Algier by Noreedine Maamri via Pexels
Die Kunst zu verlieren

Für seine Tochter Naïma schließlich ist Algerien nur noch ein Wort, ein unbestimmtes Gefühl der Zugehörigkeit, die Tage bei der Großmutter oder dem Onkel in Südfrankreich, Klänge, Gerüche und vor allem ihr Aussehen, das ihre Herkunft verrät. Der letzte Abschnitt, „Paris, ein Fest fürs Leben“, gehört ihr. In ihm verortet sich die junge Frau als Franko-Algerierin, als Frau, als Teil des Kunstbetriebs in Paris. Ein Auftrag für die Galerie, in der sie arbeitet, führt sie schließlich zum ersten Mal ins Land ihrer Vorfahren und ins Dorf ihres Großvaters.

The art of losing isn’t hard to master;
so many things seem filled with the intent
to be lost that their loss is no disaster.
One Art by Elisabeth Bishop

„Die Kunst zu verlieren“ von Alice Zeniter ist ein ganz wunderbarer Roman. Er erzählt die jüngere Geschichte Algeriens, die der Harkis, die einer Familie, zerrissen zwischen zwei Ländern. Er erzählt von Herkunft und Flucht, von Loyalität und Verrat, vom Weggehen und (Nicht)Ankommen. Daneben erzählt er von Identität, der Rolle der modernen Frau, von Rassismus, misslingender und gelingender Integration und Terrorismus, vom Kunstbetrieb, dem Schreiben und von vielem mehr. Das alles aber niemals angestrengt, sondern mit großer Nähe zu seinen Figuren. Die Sprache ist unangestrengt und auch in der deutschen Übersetzung von Hainer Kober wunderbar zu lesen. Für mich ein erstes Lesehighlight des Jahres und eine unbedingte Leseempfehlung!

 

Beitragsbild: habib kaki [CC BY 3.0] via Wikimedia Commons

Eine weitere begeisterte Besprechung bei Zeichen und Zeiten

 

Lektüre Februar

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Alice Zeniter - Die Kunst zu verlieren.

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Alice Zeniter – Die Kunst zu verlieren

Übersetzt von Hainer Kober

Berlin Verlag Februar 2019, 560 Seiten, Hardcover, € 25,00 

6 Gedanken zu „Alice Zeniter – Die Kunst zu verlieren

  1. Da hätten wir doch parallel lesen und schreiben können. Es freut mich, dass Dir dieses Buch ebenfalls so gut gefallen hat. Ich bin gespannt, welche Titel uns im Laufe des Jahres noch gemeinsam gefallen. Ich hoffe, der Roman findet viele Leser, weil es auch die Geschichte mit der Gegenwart verbindet und auch gut in unsere Zeit passt. Viele Grüße

        1. Sehr gern! Ich bin Donnerstag und Freitag auf der Messe. Hast du schon „Verlagstermine“ oder andere Veranstaltungen eingeplant (zu denen wir uns treffen könnten). Ich überlege, ob ich donnerstags nochmals zur Norwegenpräsentation gehe, habe aber um 15.30 einen Termin… LG

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