Sarah Moss – Gezeitenwechsel

Die 1975 in Glasgow geborene Autorin Sarah Moss ist hier in Deutschland, auch wenn fast alle ihrer Romane in Übersetzungen von Nicole Seifert vorliegen, nahezu unbekannt und selbst The Times spricht von ihr als wohl eine der am meisten unterschätzten zeitgenössischen Autor*innen Großbritanniens. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich thematisch nicht leicht einordnen lässt. Frauen stehen im Mittelpunkt ihrer Romane, oft mit historischem Hintergrund. Für ihre Promotion beschäftigte Moss sich mit Literatur der englischen Romantik, auch das schlägt sich nieder, und es geht oft um Alltägliches. Mich hat „Gezeitenwechsel“, der jüngst von Sarah Moss auf Deutsch erschienene Roman, sehr neugierig gemacht auf ihre anderen Werke. In Großbritannien ist bereits ein neues Buch, „Ghost Wall“ erschienen, das sehr positive Kritiken erhielt.

Familienalltag

Aber zunächst zu „Gezeitenwechsel“. Hier erzählt Sarah Moss von der Familie Goldsschmidt. Genauer, sie lässt Vater Adam erzählen. Er hat seine akademische Karriere als Spezialist für die englische „Arts and Crafts“ Bewegung für die Familie aufgegeben und kümmert sich um die acht und fünfzehn Jahre alten Töchter und den Haushalt. Hin und wieder ein Lehrauftrag an der Universität und eine wissenschaftliche Arbeit über die Kathedrale von Coventry – für mehr bleibt keine Zeit. Mutter Emma ist eine permanent überarbeitete Ärztin und Adam nimmt seine Aufgaben in Erziehung und Haushalt sehr ernst. Gesundes, biologisches Essen, penible Sauberkeit, Kuchen für den Schulbasar und Kindergeburtstage – hätte Moss hier keinen Mann als Protagonisten gewählt, würde die Leserin vielleicht den Aufwand, der hier betrieben wird, unbedachter hinnehmen, denn ist es nicht das, was gemeinhin von einer „guten Hausfrau und Mutter“ erwartet wird?

Aber ganz ehrlich, schießt Adam nicht ein wenig übers Ziel hinaus? Ertappt! Genau diesen Mechanismus will Sarah Moss in „Gezeitenwechsel“ wahrscheinlich in Gang setzen, indem sie einen Mann als „Familienbeauftragten“ wählt. Und Adam plagen genau die Dinge, über die man in seiner Situation klagen kann: die eintönige, oft stumpfsinnige Arbeit im Haushalt, wenig Anerkennung innerhalb und außerhalb der Familie, eigene Komplexe, denn man selbst würdigt diese Aufgaben schließlich auch viel zu wenig, während der Partner das Geld herbeibringt, Konkurrenzdenken gegenüber dem Partnern um die Gunst der Kinder, denn man selbst tut ja am meisten für sie und und und. Es sind die gleichen Mechanismen wie bei allen nicht gleichberechtigten Partnerschaften. Und welche Partnerschaft ist schon wirklich gleichberechtigt?

 

Reconciliation at Coventry Cathedral by  Ben Sutherland (CC BY 2.0) via Flickr
Eine schlimme Nachricht

In diesen Alltag trifft nun eine der schlimmsten Nachrichten, die sich Eltern vorstellen können. Die Schule ruft an: „Mit Ihrer Tochter ist etwas passiert.“ Die 15jährige Mimi bricht auf dem Pausengelände zusammen und erleidet einen Herz- und Atemstillstand. Ein Lehrer vor Ort kann sie zwar zum Glück wiederbeleben und sie erholt sich auch recht schnell, aber es bleibt die Ungewissheit, was die Ursache dieses Vorfalls war. „Idiopathische, vielleicht belastungsinduzierte Anaphylaxie“ heißt die vorläufige Diagnose. Also ein allergischer Schock, der keinen benennbaren Auslöser hatte. Kann das jederzeit wieder passieren? Ist es genetisch bedingt?

Auch die achtjährige Rose erleidet eine leichte Atemnot im Schwimmbad. Und Adams Mutter, eine ausgezeichnete Schwimmerin, ist in seiner Kindheit unerklärlicherweise im Meer ertrunken. Nach Wochen im Krankenhaus beherrscht eine große Angst die Eltern, vor allem Adam. Zwar sind reichlich Vorsorgemaßnahmen getroffen – Notfallarmband, lebensrettender Epi-Pen in der Tasche -, aber Adam überwacht fortan das Leben seiner Töchter geradezu obsessiv. Ein Verhalten, das besonders bei der pubertierenden, aufsässigen und altklugen Mimi gar nicht gut ankommt und auch die Ehe und den häuslichen Frieden auf die Probe stellt.

Rückkehr ins normale Leben

In die Schilderungen, wie die Familie langsam wieder in ein „normales“ Leben zurückfindet, sind Adams Studien über die Kathedrale von Coventry eingeflochten. Die im November 1940 durch einen deutschen Bombenangriff im „Blitz“ völlig zerstörte Kathedrale wurde unter Beibehaltung der Ruinen als „Garten der Erinnerung“ von Basil Spence neu geplant, errichtet und 1962 eingeweiht.

Ein weiterer Erzählstrang beschäftigt sich mit der Jugendzeit von Adams amerikanischem Vater, die dieser in einigen Hippiekommunen verbrachte. Adams Mutter lernte er dort kennen, bevor er mit ihr, auch um der Rekrutierung für den Vietnamkrieg zu entgehen, nach England ging. Nach ihrem Tod kehrte er für lange Zeit in die USA zurück, lebt nun aber in Cornwall und ist zur Unterstützung der Eltern angereist.

Die beiden Erzählseitenstränge sind sehr organisch und geschickt in die Haupthandlung eingebaut, die Themen wie Sterblichkeit, Elternliebe, Rollen in der Familie und Geschlechterbeziehungen umkreist. Sarah Moss ist dabei eine äußerst genaue Beobachterin und lässt in Mimis rebellischen Statements, Adams Betrachtungen und Emmas Bemerkungen zum „National Health Service“ auch so manchen kritischen Ton über die Zustände in Großbritannien verlauten.

Für mich ist Sarah Moss eine interessante Entdeckung, der ich viele Leser*innen auch hierzulande wünsche.

Lektüre Februar

 

Beitragsbild: Lubbock Heart Hospital by  brykmantra (CC BY-SA 2.0) via Flickr

Eine Rezension findet ihr auch auf nachtundtag.blog

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Sarah Moss - Gezeitenwechsel.

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Sarah Moss – Gezeitenwechsel
OT: The Tidal Zone
Aus dem Englischen von Nicole Seifert
Mare Verlag Februar 2019,gebunden, 368 Seiten, €24,00

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