Lektüre Februar 2019

Wie immer, war der Februar viel zu kurz und verging wie im Fluge. Dennoch habe ich neun wunderbare Bücher gelesen, war auf zwei sehr gelungenen Lesungen – T.C. Boyle und Volker Kutscher und durfte auf der Verleihung des Bloggerpreises „Das Debüt“ an Bettina Wilpert für „Nichts, was uns passiert“ in Essen als Vertreter der Jury dabei sein. Und es gab wunderbare Lektüre Februar 2019

 

Alice Zeniter - Die Kunst zu verlierenMit Alice Zeniters Roman „Die Kunst zu verlieren“ halte ich das erste Lesehighlight des noch jungen Jahres in Händen. Ein Familienroman, ein Roman über Algerien, über den Algerienkrieg und dessen schmerzvolle Trennung von Frankreich, besonders für diejenigen Algerier, die sich mit ihrem „Mutterland“ verbunden gefühlt, ihm gar als sogenannte „Harkis“ gedient haben. Großvater Ali war ein solcher Harki, dem 1962 die Flucht übers Mittelmeer gelang und der so sich und seine Familie vor der Vergeltung der Front de libération nationale rettete. Doch es fällt schwer, in Frankreich Fuß zu fassen, besonders der älteren Generation. Sohn Hamid gelingt es schon viel besser, er heiratet eine Französin, gründet eine Familie. Für dessen Tochter Naima ist Algerien lange nur ein Wort, bis sie sich ihrer Herkunft und der lange verschwiegenen Geschichte ihrer Familie stellt. Ein herausragender, wunderbarer Roman!

 

Susan Hill - Stummes Echo

Colin, Frank, May und Berenice wachsen in den Vierziger und Fünfziger Jahren auf einer Farm in Nordengland auf. Eine bescheidene, aber glückliche Kindheit. Oder nicht? So still und zurückhaltend die Geschichte erzählt ist, so unerbittlich und soghaft zieht sie die Leserin doch hinein und weiß zu verunsichern. Was sind die Beweggründe der Geschwister? Warum klaffen die Erinnerungen so weit auseinander? Was ist wahr? Gibt es so etwas wie „emotionale Wahrheit“ neben der faktischen?Daneben schildert Susan Hill die raue, spröde nordenglische Landschaft und das Landleben beeindruckend. Auch das etwas, was „Stummes Echo“ aus den vielen Geschichten über dysfunktionale Familien und trügerische Erinnerungen heraushebt.

 

Sarah Moss - GezeitenwechselEin Anruf, vor dem sich jeder fürchtet: „Es ist etwas passiert!“ Die 15jährige Mimi Goldschmidt erleidet überraschend einen Herz- und Atemstillstand auf dem Gelände ihrer Schule. Die Eltern, besonders Vater Adam, der sich um alles Familiäre kümmert, während Mutter Emma als Ärztin völlig überlastet ist, plagt fortan die Ungewissheit, ob und wann ein solcher Vorfall sich wiederholen könnte. „Idiopathische Anaphylaxie“ heißt die Diagnose. Sarah Moss ist eine genaue Beobachterin. Sie lässt den Roman um Themen wie Sterblichkeit, Elternliebe, Rollen in der Familie und Geschlechterbeziehungen kreisen, flicht Kritik an den aktuellen Zuständen in England, besonders dem National Health Service, und die Geschichte der Kathedrale von Coventry ein und präsentiert damit ein äußerst gelungenes Buch. „Gezeitenwechsel“ – eine Leseempfehlung!

 

Pierre Lemaitre - Die Farben des Feuers

Endlich habe ich Pierre Lemaitres mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wir sehen uns dort oben“ gelesen. Lange schon stand er im Regal. Nun, da mit „Die Farben des Feuers“ ein Quasi-Nachfolger erschienen ist, wurde es Zeit. Ich war zunächst mal wieder überrascht, wie nah an guter Unterhaltungsliteratur sich der französische Literaturpreis  bewegt und davor auch keine Scheu zu haben scheint. Denn das ist es, was Lemaitre kann: gut unterhaltende Romane schreiben. Erzählt er in „Wir sehen uns dort oben“ die Geschichte zweier durch ein tragisches Fronterlebnis zusammengeführter junger Männer nach dem Ersten Weltkrieg, bleibt er mit dem neuen Roman in der Familie eines der beiden. Hier ist nun die Schwester von Édouard Péricourt die Hauptprotagonistin, die 1927 nach dem Tod ihres Vaters dessen Bankimperium erbt. Für sie als Frau der damaligen Zeit kein leichtes Unterfangen, zumal ihr kleiner Sohn just am Tag der Beerdigung schwer verunglückt und fortan auf den Rollstuhl angewiesen ist. Auch der Prokurist Gustave Joubert, die Gesellschafterin Léonce, der Onkel Charles und ihr Liebhaber Alain spielen dabei ein nicht faires Spiel, das Madeleine in den Bankrott treibt. Doch ihre Rache lässt nur kurz auf sich warten. Viel Plot, zahlreiche Wendungen, Spannung und reichlich Intrigen – man merkt Pierre Lemaitre den versierten Krimi- und Thrillerautoren, der er ist, auch in seinen historischen Romanen an.

 

James Baldwin Von dieser Welt

James Baldwin ist zur Zeit in aller Munde. Das liegt sicher zumJames Baldwin - Nach der Flut das Feuer einen an der Verfilmung seines Romans „Beale Street Blues„, der aktuell in die Kinos kommt. Zum anderen spielt sicher auch die Situation in den USA unter Präsident Trump, aber auch die vielen rassistischen Vorfälle, gerade auch die Gewalt, die die US-amerikanische Polizei immer wieder gegen schwarze Bürger verübt, der letzten Jahre eine Rolle, dass dieser bisher in Deutschland wenig bekannte große Autor wiederentdeckt wird. „I´m not your Negro“, der herausragende Film von Raoul Peck war im Jahr 2017 der Auftakt und es ist großartig, dass DTV nun nach und nach das Werk Baldwins wieder auflegt. Begonnen wurde mit „Von dieser Welt“, einem sprachmächtigen, furiosen Roman mit autobiografischem Hintergrund. John Grimes, ein hoffnungsvoller schwarzer Jugendlicher aus Harlem, leidet unter der Strenge seines Prediger-Vaters, dem Rassismus seiner Umwelt, der Aussichtslosigkeit und gerät in den Bann der Kirche und des Glaubens. Nun sind auch Baldwins bahnbrechende Essays in dem schmalen Band „Nach der Flut das Feuer“ erschienen. Diese lege ich jedem ans Herz, der wirklich etwas von der Situation der Afroamerikanischen Bevölkerung und dem tiefen Riss durch die amerikanische Gesellschaft verstehen will. Einfach brillant, erschütternd aktuell, auch 35 Jahre nach der Entstehung und sehr hellsichtig! Ein Muss! Ich bin sehr glücklich, dass ich die herausragende Übersetzer der Werke James Baldwins, Miriam Mandelkow, in Leipzig treffen werde und einige Fragen stellen darf. Ein ausführlicher Beitrag über die beiden Werke wird dann erscheinen. Bis dahin: Unbedingt lesen!

 

Marko Dinic Die guten TageAuch ein Debütroman stand auf meiner Februar-Leseliste: „Die guten Tage“ von Marko Dinić.  Dinić stammt aus Serbien, lebt in Österreich und schreibt auf Deutsch. Autobiografische Bezüge können sicher vorausgesetzt werden in seiner Geschichte von einer Rückkehr nach Belgrad angesichts der Beerdigung der geliebten Großmutter. Die Reise geht mit einem „Gastarbeiterexpress“ quer durch die ungarische Tiefebene. Der Ich-Erzähler geht mit Heimatland und Landsleuten hart ins Gericht. Gewalt, Stumpfsinn, Perspektivlosigkeit – Dinge, die er auch bei seinem verhassten Vater beobachtet. Zerrissen ist er dennoch, denn auch nach zwanzig Jahren im Ausland, in das er nach den Jugoslawienkriegen floh, fühlt er doch noch Verbundenheit. Eine überzeugende, kraftvolle neue Stimme!

 

FATIMA FARHEEN MIRZA - Worauf wir hoffen

Und dann zum Ende des Monats noch einmal ein Buch, das zu meinen Jahreshighlights zählen könnte. Wieder eine Stimme der Migration, genauer gesagt, der zweiten Generation, wie bereits die von Alice Zeniter. In „Worauf wir hoffen“ von Fatima Farheen Mirza wird die Geschichte der Familie — erzählt, einer indischen Familie muslimischen Glaubens, die in Kalifornien eine neue Heimat gefunden hat. Es sind die Konflikte, die sich besonders in der Kindergeneration auftun zwischen den Ansprüchen der Eltern, die streng auf die Einhaltung der Glaubensvorschriften und der Traditionen achten, und den beiden Töchtern, die den Spagat zwischen modernem Leben und Familie irgendwie schaffen, und dem Sohn, der den Erwartungen besonders des Vaters nicht entsprechen kann. Ein berührendes, ja aufwühlendes Buch über falsche Hoffnungen, Ansprüche, Enttäuschungen, Verrat, über tiefe Liebe und die Fehler, die dennoch gemacht werden. Großartig!

Insgesamt war der Februar ein herausragender Lesemonat!

Der März wird im Zeichen der Leipziger Buchmesse und weiterer toller Neuerscheinungen stehen, die mittlerweile eingetroffen sind. Ich hoffe natürlich, viele von euch dort auf der Messe zu treffen und freue mich schon wie der berühmte Schneekönig!

 

 

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