1942 in Siena, Italien befindet sich seit zwei Jahren an der Seite des Deutschen Reichs im Weltkrieg, von dem man zunächst recht wenig mitbekommt. Zwar sind Lebensmittel rationiert, doch man kommt zurecht. Und weite Teile der Bevölkerung erleben die Siege der Achsenmächte wie im Rausch, Benito Mussolini ist noch der fast gottgleiche Führer, Italien das strahlende Mutterland, für das man gerne in den Krieg zieht.
So sieht es auch der zwölfjährige Lorenzo, ein fleißiger und eifriger Balilla, Mitglied der Jugendorganisation der Nationalen Faschistischen Partei. Auch in Italien wurden die Kinder von klein auf auf die richtige ideologische Schiene gesetzt.
Doch es gibt auch Andersdenkende. Lorenzos Tante, Zia Chiara, steht dem faschistischen Treiben skeptisch und ablehnend gegenüber. Sie macht sich Sorgen um ihren Bruder, Lorenzos Vater, der trotz Einstufung als kriegsuntauglich an die ägyptische Front geschickt wurde. Während der Junge stolz und begeistert auf den an der Seite des Helden jener Zeiten schlechthin, den „Wüstenfuchs“ Erwin Egon Rommel, blickt, ahnt sie, dass die Tage eines erfolgreichen Afrikafeldzuges gezählt sind. Die Erfolge der Briten dort haben bereits dafür gesorgt, dass Lorenzo und seine Mutter aus der Kolonie Libyen, wo sie in Tripolis lebten, zu Großvater und Tante ins Mutterland Italien evakuiert wurden. Lorenzos Mutter kehrt allerdings nach Libyen zurück, um gegen die Einberufung ihres Mannes vor Ort zu protestieren und wird dort festgehalten. Lorenzos bleibt allein zurück, fühlt sich verraten.
Dabei lebt es sich ganz gut bei Nonno und Zia und ihrer alten Haushälterin Cesarina im alten Palazzo der Familie in Siena. Neue Freunde und Klassenkameraden sind schnell gefunden. Franco Tacconi, der Nachbarsjunge ist zwar ein wenig grob, aber ein ebenso glühender Balilla wie Lorenzo und zudem besitzt er als Krämerssohn noch Zugang zu etlichen Leckereien, die es für die normale Bevölkerung allmählich nicht mehr gibt. Und seine Cousine Ilaria übt auf Lorenzo eine große Anziehungskraft aus.
Doch die Zeiten werden allmählich rauer, je mehr sich die Niederlagen der Achsenmächte häufen. Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung wird intensiver und bei Lorenzo treten die ersten Zweifel auf. Denn auch sein Freund Daniele Neri und seine Eltern sind Juden. Genauso wie viele deutsche Juden, können sie sich nicht vorstellen, dass sie in Gefahr sind, sie, die gute Patrioten, der Vater Kriegsveteran. Doch eines Nachts stehen deutsche Offiziere und ihre italienischen Helfershelfer, vorneweg die Brüder Tacconi, vor der Tür der Neris. Daniele gelingt die Flucht und Lorenzo wird ihn fortan in seiner Dachkammer verstecken. Ein gefährliches Geheimnis, das schwer zu wahren ist, besonders, da seine Tante Kontakt zu den Partisanen zu haben scheint und unter Beobachtung steht und die Lebensmittel langsam knapp werden. Bis im Sommer 1943 die Alliierten Sizilien erobern und endlich nach den aufreibenden Schlachten am Monte Cassino im Juli 1944 auch Siena befreit wird, ist eine lange und gefährliche Zeit zu überstehen.
Nicolette Giampietros Vater stammt aus Siena, die Autorin selbst ist in Mailand aufgewachsen und lebt schon seit 1986 in Deutschland. „Niemand weiß, dass du hier bist“ hat Nicoletta Giampietro auf Deutsch verfasst. Es ist recht konventionell gehalten, greift auch zu dem einen oder anderen Klischee, weiß aber durch eine sehr liebevolle und differenzierte Charakterbeschreibung und einen souveränen Stil und Aufbau zu gefallen. Man folgt den Wegen Lorenzos sehr gerne, auch wenn er manchmal solche beschreitet, für die er eigentlich zu jung ist. Da er aber der einzige Ich-Erzähler ist, liegt auf ihm die alleinige „Last“ der Handlung. Über diese etwas gezwungene Konstruktion habe ich gerne hinweg gesehen, erfährt man doch so einiges über die italienische Gesellschaft jener Jahre, den italienischen Faschismus, die Besatzungszeit und den Kriegsverlauf dort.
Gegen Ende erliegt Giampietro leider der Versuchung, allzu viel Aspekte in den Text hinein zu nehmen. Da werden jede nur denkbare Kriegsgräuel noch in die Handlung eingebunden. Dörfer, die samt Bevölkerung von den Deutschen in Racheaktionen verbrannt werden, Partisanen, die um die Revolution zu schüren auch Unschuldige über die Klinge springen lassen, Schwarzhemden von der faschistischen Miliz, die gnadenlos Jagd auf Juden und Partisanen machen, Folterkeller, vergewaltigende französisch-marokkanische Hilfstruppen etc. Da wäre weniger wohl tatsächlich mehr gewesen.
Dennoch: „Niemand weiß, dass du hier bist“ ist sehr gut geschrieben – unterhaltsam, anrührend, aber doch differenziert, und die Perspektive des heranwachsenden Lorenzo ist Nicoletta Giampietro gut gelungen. Gute Unterhaltung mit Substanz – empfehlenswert!
Ein interessantes Gespräch mit der Autorin über das Buch inkl. Bildmaterial gibt es hier
Beitragsbild: Städel Museum [Public domain] via Wikimedia Commons
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Nicoletta Giampietro – Niemand weiß, dass du hier bist
Piper März 2019, 416 Seiten, Hardcover, € 22,00
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