Backlist: Anke Stelling – Bodentiefe Fenster

Sandra ist eine von denen, die „eigentlich alles haben“: einen netten, verständnisvollen und unterstützenden Mann, zwei Wunschkinder, einen Job als freie Journalistin mit Büro fernab der Wohnung, der ihr genug Freiraum lässt, eine schöne Wohnung in Prenzlauer Berg in einem innovativen Wohnprojekt „Mehrgenerationenhaus“, alles natürlich ökologisch bestens durchdacht, und sogar einen Kitaplatz in der Nähe.

„Es geht uns gut.“
versichert sie sich so auch einige Male im Verlauf des Romans, der ein innerer Monolog Sandras ist, eine Selbstvergewisserung, eine Klage.

Denn natürlich ist nicht alles gut in Sandras Biotop. Und dass das so ist, lässt Sie zunehmend verzweifeln.
Die Ansprüche sind hoch in ihrer Umgebung der wohlsituierten, gebildeten, politisch und gesellschaftlich aufgeklärten Berliner. Nachhaltigkeit ist einer der Programmpunkte, ferner der soziale Diskurs und natürlich Kinder. Dabei muss Sandra feststellen, dass ihr alles, sogar letztere zunehmend auf die Nerven gehen.

„Unsere Energieniveaus passen einfach nicht zusammen „

muss sie einmal lapidar in Bezug auf ihren jüngsten Sohn Bo feststellen.
Und die Erziehungskonzepte der meisten anderen Eltern findet sie schauderhaft.
Entweder setzen die ihren Kindern gar keine Grenzen oder sie überbehüten sie, oft auch beides abwechselnd oder gleichzeitig. Die Kinder, ständig überfordert davon, maximal glücklich aufzuwachsen, benehmen sich dementsprechend.

„Wenn die Kinder schon ständig für uns Eltern und unsere Träume vom Leben einstehen müssen, dann sollten wir sie wenigstens dafür ausrüsten, sie unbarmherzig darauf trainieren – anstatt ständig zu behaupten, sie seien völlig frei und wir wollten es alle gemeinsam nur schön haben.“

Sandra schaut genau hin, manchmal quälend genau. Sie sieht manchmal zu schwarz, viele Dinge sind ziemlich überspitzt, oft nimmt sie die schrecklichsten Vorstellungen vorweg, um sie so zu bannen, das wird bisweilen leicht morbide.

„Jeden Tag passieren fürchterliche Dinge, und meine Kinder lernen in erster Linie, wie man austeilt und einsteckt. Wenn sie Glück haben, werden sie ein paar schöne Momente erleben und sich im Verlauf ihres elenden Lebens ab und zu daran erinnern. Mehr ist, realistisch betrachtet, nicht drin.“

Ihre Beobachtungen sind aber immer hoch analytisch, punktgenau, bissig, oft zynisch und auch selbstkritisch.
Die Zumutungen des Alltags nagen an ihr.

Ihre Ansprüche an sich sind gigantisch. Einerseits etwas, dass sie mit vielen heutigen Frauen, zumal Müttern, teilt, andererseits auch ein Erbe, dass ihr die Mutter hinterlassen hat. Diese, eine typische Vertreterin der 68er, der Reformpädagogik, hat ihre hohen Anforderungen an Selbstverwirklichung, Gemeinsinn, gesellschaftliches Engagement weitergegeben, ohne wirklich eine Lösung zu bieten, wie dieses mit dem Muttersein, Berufstätigkeit, mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten zu vereinbaren ist.
Sandra hat immer wieder Parolen des Liedermachers Volker Ludwig im Kopf.

„Einer ist Keiner/zwei sind mehr als einer./Noch reden uns die Großen rein und sagen was wir soll´n/Bald werden wir ganz viele sein und machen, was wir wolln“

tönen die Ideale aus ihrer Kinderladenzeit herüber.
Ihm wirft sie stellvertretend für die Elterngeneration vor:

„Was denn bitte, Volker? Wie kannst du mir das alles in den Kopf setzen und dich dann schön in die Pensionierung und auf dein Lebenswerk zurückziehen?“

Schon die eigenen Mütter sind daran gescheitert, von Psychopharmaka abhängig, haben sich umgebracht oder sonst wie aus der Verantwortung geschlichen. Sandra erkennt:

„Ich schultere da was, was ich gerne abwerfen würde, denn es ist nicht allein das Alter, fürchte ich, warum wir unseren Müttern immer ähnlicher werden. Es hat sich nichts, nicht das kleinste bisschen geändert.“

Dass dieses ständige Analysieren, Hadern mit der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, das sich für alles verantwortlich Fühlen auf Dauer nicht gut gehen kann, ist klar. Sandra steuert auf den nervlichen Zusammenbruch zu, oder milieuspezifischer, auf den Burnout. Und wir sind mittendrin in der „Vereinbarkeitslüge“, dass es nämlich geht, gleichzeitig politisch und gesellschaftlich engagiert, berufstätig, fit, schön und fröhlich und gleichzeitig als Mutter für das Glück und das Wohlgedeihen diverser Kinder verantwortlich zu sein.

„Ich bin momentan dabei, mir über diverse Widersprüchlichkeiten klar zu werden, ich frage mich, wie weit man gehen darf in der Sorge um andere, und ob diese nicht am Ende immer nur die egoistische Sorge um einen selbst ist.“

Sandra ist am Schluss vielleicht einen Schritt weiter, wenn sie erkennt, dass ihre „Sehnsucht nach der Schönheit und Lautstärke orchestrierter Einzelstimmen“ wohl in erster Linie eine Sehnsucht bleiben wird, dass auch manchmal Disharmonien dazu gehören und man nicht immer allen Erwartungen, auch den eigenen entsprechen muss.
Anke Stelling hat ein klares, pointiertes, dabei oft witziges und vor allem im besten Sinne gesellschaftlich relevantes Buch geschrieben.

Anke Stelling wurde mit „Bodentiefe Fenster“ für den Deutschen Buchpreis nominiert stand auf der Hotlist 2015 und hat den Melusine-Huss-Preis gewonnen.

(Rezension aus dem September 2015)

Ihr aktuelles Buch „Schäfchen im Trockenen“ gewann unlängst den Preis der Leipziger Buchmesse.

Beitragsbild: Foto von mali maeder via Pexels

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Anke Stelling – Bodentiefe Fenster

Verbrecher Verlag März 2015, Hardcover, 256 Seiten, 19,00 €

 

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