Genau eines der für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Bücher der Kategorie Belletristik hatte ich im Vorfeld gelesen. Recht fokussiert, wütend und bitter(böse) räumte ich ihm eigentlich keine großen Chancen für den Gewinn ein. Aber Anke Stelling hat mit Schäfchen im Trockenen die Jury augenscheinlich genauso überzeugt wie mich.
Resi hat das Wort. Resi ist eine direkte Nachfolgerin von Sandra aus Stellings erstem Roman „Bodentiefe Fenster“ und wohl eine direkte Stellvertreterin der Autorin selbst. Denn die drei haben vieles gemeinsam.
Sie stammen aus den sogenannten „einfachen Verhältnissen“, sind gebildet und gut ausgebildet, leben als mehrfache Mütter in Berlin und haben mit ihrem Alltag und seinen Ansprüchen zu kämpfen.
Diese Ansprüche sind hoch, dazu kommen die eigenen Erwartungen und der Druck der eigenen sozialen Blase, die bei Sandra und Resi und vermutlich auch Anke Stelling vom gutsituierten linksliberalen Bürgertum gebildet wird. Man will sich selbst verwirklichen, interessanten Berufen nachgehen, daneben eine perfekte Beziehung führen, wohlgeratene Kinder auf gute Schulen stecken, moderne Lebenskonzepte umsetzen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen mitunter auseinander, das soll aber möglichst im Geheimen geschehen, nach außen soll die Fassade des gelingenden, des glücklichen Lebens um jeden Preis aufrechterhalten werden. Verratene oder zumindest beiseitegeschobene einstige Ideale, wie das der Chancengleichheit, des Gemeinsinns, des gesellschaftliches Engagements und der sozialen Gerechtigkeit stören da genauso wie Menschen, die zu genau hinschauen, zu scharf analysieren, zu sehr hinterfragen, bissig, zynisch, wenn auch selbstkritisch.
Solche Menschen sind sowohl Sandra, die in „Bodentiefe Fenster“ das sie umgebende Milieu eines innovativen Wohnkonzepts in Berlin, Prenzlauer Berg beobachtet, als auch Resi aus Schäfchen im Trockenen, deren Freunde ein solches „Baugruppenprojekt“ verwirklicht haben. Auch Anke Stelling wohnt in einer solchen Baugenossenschaft.
Resi konnte und wollte das Geld für die „Baugruppe K23“ nicht aufbringen. Sie ist Schriftstellerin, ihr Mann Sven freischaffender Künstler, die beiden haben vier Kinder, das Geld ist trotz einiger Erfolge stets knapp. Nun hat Resi auf Anfrage einer Zeitschrift einen Artikel über ihr Milieu, die aufstrebenden bzw. bereits oben angekommenen Prenzelberger geschrieben und nach dessen großem Erfolg darauf aufbauend einen Roman. Wir dürfen ihn uns getrost als ähnlich den „Bodentiefen Fenstern“ vorstellen: bissig, zynisch, witzig und hoch analytisch. Die Freunde, die einst in den Achtziger Jahren gemeinsam mit Resi aus dem Schwäbischen nach Berlin gezogen, dort studiert und zusammengelebt haben, haben nacheinander in verschiedenen Sparten reüssiert und/oder reüssierende Partner geheiratet haben. Alle bis auf Resi.
„wenn ich schon Kunst machen muss, hätte ich wenigstens einen Erben oder Besserverdienenden heiraten sollen, entweder oder, Selbstverwirklichung oder Liebesheirat, beides zusammen geht nicht, jedenfalls nicht in Zeiten knapper werdender Ressourcen und steigender Miet- und Meeresspiegel.“
Resi merkt die wachsende Ungleichheit in den Beziehungen zwischen ihr und ihren wohlhabenden Freunden, die alle auch aus bereits wohlhabenden Familien stammen. Eine Tatsache, die in den Jugendjahren, in den Achtziger Jahren, wo Chancengleichheit für alle soziale Gruppen, wo soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft noch ernst gemeinte Programme waren, kaum auffiel, die Resi aber zunehmend zu schaffen macht. Besonders jetzt, da sich die alten Freunde fiktionalisiert, aber durchaus erkennbar, in Resis bitter-sarkastischem Roman wiederfinden. Sie fühlen sich verraten, missbraucht, kündigen Resi nicht nur die Freundschaft, sondern auch die durch einen Altvertrag mietpreisgebundene Wohnung in Prenzlauer Berg, die Resi, Sven und die vier Kinder als Untermieter bewohnen. Was soll werden? Dem Mietpreiskampf in der Innenstadt sind sie nicht gewachsen, immer wieder wird der S-Bahn-Ring auch als soziale Grenze verstanden, taucht als „Schreckensbild“ für Resi die Hochhauswohnung in Berlin Mahrzahn auf.
„Es gibt kein Recht auf Wohnen in der Innenstadt.“
Noch hat sie sich nicht getraut, Sven und den Kindern von der Kündigung zu erzählen. Mit „Schäfchen im Trockenen“ schreibt sie für ihre älteste Tochter, die 14jährige Bea, auf, was sie beschäftigt, wie es dazu kam, was sie darüber denkt.
Das ist von einer kaum bewältigten Wut, von einer großen Enttäuschung, von einer lähmenden Verzweiflung. Es ist ein gnadenloser, dabei aber auch sehr differenzierter Blick auf das „Selbstverwirklichungsmilieu“, das unter Aufgabe alter, oftmals linker Ideale sanft in die Bürgerlichkeit driftet und diesen Status mit aller Macht , vor allem auch die Fassade wahren will. Dass dahinter nämlich auch so manches faul ist, gerade auch was die Rolle der Frauen, der Mütter betrifft, ahnt man natürlich. Und da wären wir auch wieder bei Sandra aus „Bodentiefe Fenster“ und ihrer genauen, sezierenden Analyse und den unrealistischen Ansprüchen, die an Frauen und Mütter, gerne auch von ihnen selbst, gestellt werden. Und gegen die sie sich nur unzureichend wehren.
„Wir sind Meisterinnen des schönen Scheins, der Beschwörung des heilen und heilenden Familienlebens, darin werden wir von unseren Müttern geschult.“
Auch Resis verstorbene Mutter Marianne war so eine Meisterin des Verdrängens, des Verschweigens. In ihrem Tagebuch, das Resi nach ihrem Tod fand, stand als einziger Satz „Wieder zu viel gegessen.“ Welche Träume und Sehnsüchte sie gehabt haben mag, fragt sich Resi mit fortschreitendem Alter immer mehr. Wütend hat sie sie selten erlebt, auch wenn sie manchmal auf schwäbisch sagte „Da geht mir das Messer in der Tasche auf.“ Aber es war klar, „dass sie das Messer unbenutzt wieder einklappen würde.“ Denn:
„Verstehen ist ein äußerst wirksames Betäubungsmittel für hungrige, schmerzende Herzen, viel besser als Wut, weil die Wut irgendwann einen Ausbruch braucht, wenn man nicht ersticken oder platzen will an ihr, und wer weiß: Am Ende trifft es noch den Falschen oder war von vornherein überzogen, unberechtigt gar. Auf jeden Fall ist sie riskant, weil sie laut ist und weithin sichtbar.“
Einen Weg, den Frauen oft scheuen.
„Nicht auffallen, nicht stören; dienen, verschwinden.“
Resi ist ihn gegangen, aber hadert mit sich. Nun will sie darüber reden/schreiben, Gedanken ordnen, Erkenntnis gewinnen. Ihr Bericht ist voll mit Rückblicken, Selbstgesprächen, Träumen, Fantasien, sie lässt uns Leser*innen daran teilhaben. Reden/Schreiben auch als Weg aus der Krise.
Der Name der Protagonistin stammt nach Anke Stellings eigener Aussage vom griechischen Parrhesia ab, und bedeutet Redefreiheit oder über alles sprechen. Laut Definition (Wikipedia) wird „Einer, der Parrhesia verwendet, (wird) nur als solcher erkannt, wenn er eine glaubwürdige Beziehung zur Wahrheit hat, wenn er sich selber oder populäre Meinungen der Kultur kritisiert, wenn die Offenbarung dieser Wahrheit ihn in Gefahr bringt, und er dennoch die Wahrheit spricht, weil er es als seine moralische, soziale und/oder politische Pflicht erachtet, dies zu tun. Weiterhin muss eine Parrhesia-sprechende Person in einer sozialen Position sein, die unterhalb derjenigen ist, die sie kritisiert.“
Resi bringt sich durch ihr Beharren aufs Hinsehen und Aussprechen in Gefahr (und auch Anke Stelling hat ihr erster Roman einiges an Ärger gebracht). Sie bringt aber auch ihre Leser*innen in Gefahr, indem sie an ihrem Selbstbild rüttelt und an gesellschaftlichen Gegebenheiten. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass der Roman auch ungeheuer witzig ist. Ein bitterer Witz, der einem das Lachen manchmal im Hals stecken bleiben lässt.
Der NDR hat „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres 2018 gewählt, für den Deutschen Buchpreis war es nicht einmal nominiert. Ein Versäumnis, das die Leipziger Buchmesse nun nachholt. Anke Stelling gewinnt deren Preis, so wie auch Resi am Ende für ihr Buch einen Preis erhält. Und vielleicht lässt es sich ja auch anderswo prima leben, abseits der Welt des schönen Scheins.
Weitere Rezensionen bei Claudia auf dem Grauen Sofa und auf Studierenichtdeinleben
Beitragsbild: Prenzlauer Berg by Georg Schroll (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr
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Anke Stelling – SCHÄFCHEN IM TROCKENEN
Verbrecher Verlag August 2018, Hardcover, 272 Seiten, 22,00 €
Und irgendwie – so empfand ich es beim Lesen – ist es ja auch wieder das Geld, das die Freundschaften langsam aber sicher zerstört.
Viele Grüße, Claudia
Ich bin so gespannt auf dieses Buch!
Ich hoffe, es gefällt dir so wie mir. Viele Grüße!