Die Lektüre im März 2019 ist immer geprägt von einer Flut an Neuerscheinungen, die einen Platz auf der Leseliste einfordern, und natürlich der Leipziger Buchmesse, die Vorbereitung und Nachbereitung erfordert, und damit Zeit.
Es war eine wunderbare Messe für mich. Ich konnte leider nur zwei Tage in Leipzig sein, dadurch wurde sie so dicht und intensiv, dass es für eine Berichterstattung zeitlich nicht reichte. Auch für einen anschließenden Messebeitrag hat es aus Zeitgründen diesmal nicht gereicht. Ich habe aber unglaublich viele tolle Eindrücke und Buchinspirationen mitgebracht, so viele Buchmenschen – Blogger, Verlagsmitarbeiter, Autoren – getroffen wie noch nie. Dank dtv konnte ich die Übersetzerin Miriam Mandelkow treffen und ihr ein paar Fragen zum Werk James Baldwins, das sie aktuell neu übersetzt, und das mich sehr begeistert stellen (Bericht darüber folgt). Ein paar Eindrücke von der LBM 2019 möchte ich hier nun doch mit euch teilen, bevor ich auf meine im März gelesenen Bücher zu sprechen komme.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Treffen bei Rowohlt, Manesse und Fischerverlage. Fortgeschrittene Uhrzeit und das eine oder andere Glas österreichischen Wein (Vea Kaiser) oder Sekt, hat mich vom Fotografieren abgehalten. Und natürlich die interessanten, schönen Gespräche.
Nun aber zu meinen März-Lektüren:
John Wray wählt für „Gotteskind“ ein brisantes Thema: Eine junge Amerikanerin bricht mit einem Freund nach Pakistan auf. In einer Koranschule, einer Medrese wollen die beiden die heiligen Schriften studieren und Abstand gewinnen zu ihrem wohlsituierten Leben in den USA, das ihnen aber leer und substanzlos erscheint. Familiäre Probleme kommen bei Aden Grace hinzu. In Pakistan gibt sie sich als junger Mann aus und nennt sich Suleyman. Auf ihren Freund kann sie bald nicht mehr zählen, und auch Aden bricht irgendwann auf und überschreitet die Grenze nach Afghanistan, um sich dem bewaffneten Kampf der Taliban anzuschließen. Ein gefährliches Unterfangen, droht doch stets die Enttarnung. Außerdem begegnet Aden dort schreckliche Gewalt, die schließlich auch sie in äußerste Bedrängnis bringt.
Interessantes und streckenweise richtig fesselndes Buch, das mich leider nicht wirklich die Motivation der jungen Amerikaner verstehen ließ und meine Zweifel an der Durchführbarkeit des Unternehmens nie nehmen konnte. Außerdem verdarb mir eine unnötige Liebesgeschichte das Ende. Dennoch: lesenswert!
Nach „Die Jahre“ und „Erinnerung eines Mädchens“ ein weiteres autobiografisches Buch von Annie Ernaux, diesmal über den Vater und die Loslösung der Autorin von ihrer einfachen, proletarischen Herkunft. „Der Platz“ ist in schmales Buch von gerade mal 95 Seiten, in dem für Annie Ernaux so typischen nüchternen Ton, das aber so reich und reflektiert ist, das man nur staunen kann.
Die Schönen und Reichen, die zumindest kurzfristig die Orientierung und Kontrolle verlieren, deren moralischer Kompass in Schieflage gerät, gerne in exotischem Setting – das ist in den letzten Büchern Lawrence Osbornes immer wieder das Thema. Und auch in „Welch schöne Tier wir sind“ greift er es auf.
Ein heißer, langer Sommer auf der griechischen Insel Hydra, zwei reiche junge Frauen, ein gestrandeter Flüchtling aus Syrien – aus vermeintlicher Menschenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft, aus Langeweile und Überdruss wird ein perfider Plan gestrickt, der gehörig schief geht.
Dichte Atmosphäre, großartige Landschaftsbeschreibungen und psychologische Raffinesse. Osborne ist an den Abgründen seiner Figuren gelegen. Diese beleuchtet er kühl und meisterhaft.
Siena 1942. Der kleine Lorenzo kehrt aus Sicherheitsgründen aus Tripolis heim ins Mutterland Italien. Der Afrikafeldzug der Achsenmächte droht zu scheitern. Bei Großvater und Tante fiebert der Junge dennoch dem Sieg und dem Triumph des geliebten Duce entgegen. Aber die Zeiten werden rauer und als die Eltern seines jüdischen Schulfreundes Daniele abgeholt werden, ist ihm klar, dass er diesen heimlich verstecken muss. Eine Verantwortung, die ihn schier zu erdrücken droht.
„Niemand weiß, dass du hier bist“ ist ein interessanter geschichtlicher Einblick und anrührende Freundschaftsgeschichte – gute Unterhaltung mit Substanz!
Nun wartet er auf seine Chance
er, den ich nicht beim Namen nennen will
wartet auf seine Chance, das spüre ich
Er kommt aber nicht an mich heran
solange das Licht des August
Träume
in Wörter verwandelt
Wörter verwandelt
in Träume
Diese Gedichte erinnern an eine 2017 verstorbene Stimme, die des isländischen Dichters Sigurður Pálsson. In einer sehr hochwertig und sorgfältig gestalteten zweisprachigen Ausgabe sind diese Gedichte, die um den nahenden Tod und den Abschied vom Leben kreisen, aber dennoch nicht düster oder hoffnungslos sind, im Elif Verlag erschienen. Die Übertragungen stammen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer.
Anke Stelling gewann mit „Schäfchen im Trockenen“ den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse. Er war sicher nicht der stilistisch anspruchvollste der nominierten Romane, aber er trifft sein Thema genau, beschreibt, analysiert, seziert auf genauso böse wie witzige und selbstkritische Art und Weise. Er ist aktuell und gut geschrieben. Ihn hatte ich im Vorfeld unter den Nominierten als meine Lektüre ausgewählt und lag damit augenscheinlich nicht verkehrt.
Resi hat das Wort. Resi von „Parrhesia“, der Redefreiheit oder „über alles sprechen“. Sie möchte sprechen über ihr Gefühl der Ungleichheit, der Ungleichheit zwischen sich als Kind aus „einfachen Verhältnissen“, als Autorin mit unsicheren Einkommensverhältnissen, als Frau eines freischaffenden Künstlers und als Mutter von vier Kindern und ihren aus wohlhabendem Haus stammenden, in „guten“ Berufen beheimateten Freunden, die in einem Bauprojekt in Prenzlauer Berg leben und vor allem damit beschäftigt scheinen, ihren Status und ihre Fassade eines glücklichen Lebens zu wahren. Und die äußerst empfindlich darauf reagieren, als Resi über genau dieses Milieu einen beißend sarkastischen, genau analysierenden Roman veröffentlicht. Sie kündigen ihr nicht nur die Freundschaft, sondern auch die günstige Mietwohnung.
Bitter(böse) und witzig – mit hat das Buch ausgesprochen gut gefallen!
Woher kommst du denn eigentlich?“ – nur eine der Fragen und Bemerkungen, die viele Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ immer wieder nerven und kränken. Oft „gar nicht böse gemeint“, sondern Unbedachtheit und Gedankenlosigkeit entsprungen, dienen sie immer wieder dazu, Grenzen zu ziehen zwischen „uns“ und „dir, der du nicht so bist wie wir“, wenigstens nicht so ganz. Denn woher soll Özlem wissen, ob sich der Fragesteller wirklich für sie und ihre Herkunft interessiert, oder einfach nur eine passende Schublade aufmachen will. Von klein auf hat sie sich Abwehrmechanismen dazu antrainiert, zum Beispiel vorauseilend „Meine Eltern kommen aus der Türkei“ ins Gespräch zu mischen. Dabei hat sie gar nicht so viel mit der Türkei und ihrer Kultur zu schaffen.
Dilek Güngör thematisiert diesen Konflikt in ihrem schmalen Buch „Ich bin Özlem“ auf gelungene, differenzierte Weise.
Daniele Kriens „Die Liebe im Ernstfall“ wurde für mich zum Reinfall des Monats. Sehr gut besprochen allerorten, habe ich schon früh die Lust an diesem zugegeben gut gebauten und souverän geschriebenen Reigen von fünf Frauenschicksalen aus Leipzig verloren. Die Frauenfiguren im Roman sind allesamt egozentrisch und wehleidig, definieren sich fast ausschließlich über Männer und ihre Wirkung auf selbige, als Lösung ihrer Probleme fällt ihnen meistens nichts anderes ein als Sex oder Heulen, oder beides zusammen. Alle fünf ähneln sich, alles ist ziemlich eindimensional und nicht auf kritische Distanz, sondern auf Identifikation ausgelegt. So wurde für mich die Lektüre zunehmend ein Ärgernis.
Siri Hustvedt hat mit „Damals“ einen neuen Roman vorgelegt. Ihr wird oft vorgeworfen, zu „verkopft“ zu sein. Ein Vorwurf, der einem männlichen Autor vielleicht so nicht gemacht würde. Und da sind wir auch schon beim zentralen Anliegen des Buches und von Siri Hustvedts gesamtem Schreiben: der Geringachtung weiblicher Intellektualität. Geistreich ist das Buch, anspielungsreich, klug. Hustvedt spielt mit autobiografischen Bezügen, wenn sie die Jugendjahre der Schriftstellerin S.H. mit Erinnerungen und Reflexionen der gealterten Autorin, Auszügen aus einem (fiktiven?) frühen Romanprojekt, und alten Tagebucheinträgen gegenschneidet. Das liest sich nicht immer reibungslos, ist streckenweise nahezu essayistisch, aber immer sehr bereichernd und anregend. Ich freue mich, die Autorin nächste Woche in Frankfurt erleben zu dürfen.