Eine fein gezeichnete nackte Frau fliegt mit weit ausgebreiteten Armen und emporgerecktem Gesicht in einen orangenen Himmel, in der rechten Hand hält sie ein Springmesser. Im Hintergrund ist das Empire State Building zu erkennen. Eine der zwölf äußerst gekonnten Zeichnungen der Autorin ziert das Cover des neuen Romans von Siri Hustvedt. (Dieser erscheint, wie in letzter Zeit immer wieder, zuletzt bei T.C.Boyle, in der deutschen Übersetzung vor der amerikanischen Originalausgabe, auf deren Cover die besagte fliegende Dame in einem lustigen Outfit unterwegs ist – amerikanische Prüderie lässt grüßen)
Wen zeigt diese Zeichnung? Die Ich-Erzählerin S.H., deren Initialen nicht zufällig denen der Autorin entsprechen, und für die ein solches Messer eine große Bedeutung besitzt? Oder die deutsche Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven, „Muse, Aktmodell, Malerin und Bildhauerin, Dichterin und Rezitatorin“, worauf die Ausstaffierung auf der amerikanischen Ausgabe hinweist? Diese auch „Dada-Baroness“ genannte, von 1913 bis 1923 mit einigem Erfolg und der Unterstützung von Peggy Guggenheim in New York lebende Künstlerin hat einige Bedeutung für S.H. (und wohl auch für Siri Hustvedt) und wird zur Namenspatin für das erwähnte Messer. Sie, der neuere Forschungen die Urheberschaft für das als Werk Marcel Duchamps berühmt gewordene „Readymade“, das Urinal „Fountain“, zuschreiben, ist für Erzählerin und Autorin Sinnbild für die Missachtung, die Frauen und ihren Leistungen allerorten, besonders aber auch in der Kunst entgegengebracht wurde und wird.
„Die Welt liebt starke Männer und hasst starke Frauen.“
Dies ist Siri Hustvedts Thema, auf das sie auch in den zeitgleich erscheinenden Essays „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ eingeht. Hustvedt ist eine genaue Beobachterin, geschult in Wahrnehmungspsychologie, Neurowissenschaft, Philosophie und Kunstbetrachtung. Das merkt man nicht nur ihren hochintelligenten Essays an, das fließt auch immer wieder in ihre Romane ein. Manche Kritiker nennen das „verkopft“, zu voll mit Querverweisen, literarischen und philosophischen Anspielungen, zu metafiktional. Ich denke, auch das ist ein Vorwurf, den man gegenüber Autorinnen schneller äußert als gegenüber deren männlichen Kollegen. Einen süffigen, „prallen“ Roman, in den man sich fallen lassen kann darf man hingegen von Siri Hustvedt nicht erwarten. Dafür ist sie tatsächlich zu analytisch, zu komplex, zu intellektuell.
„Ich wollte mit Intelligenz verführen. Heute bringt mich das zum Lachen. Männer können mit Intelligenz verführen. Frauen sind derartige Subtilitäten nicht erlaubt, aber ich war naiv und bildete mir ein, die Leute würden beides tun, mir zuhören und mich anschauen, sie würden aus meinen Sätzen den Tonfall eines hart arbeitenden, starken Geistes heraushören. Ich brauchte Jahre, um zu verstehen, dass eine solche Annahme falsch ist, meistens jedenfalls, dass Erwartungen den größten Teil der Wahrnehmung ausmacht und das Gesicht einer jungen Frau wie ein Hindernis gegen ihre Ernsthaftigkeit wirkt, insbesondere, wenn das Gesicht mit unaggressivem Verhalten einhergeht.“
Und so ist auch ihr neuer Roman „Damals“ keine schnelle Lektüre.
Auf verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen schafft sie ein „Porträt der Künstlerin als junge Frau“. Dabei spielt sie immer wieder mit der Identität von S.H., die wie die, die gleichen Initialen besitzende Autorin 1955 geboren wurde, aus Minnesota zum Studium an die Columbia University in New York kam, dort mit dem Schreiben begann und nun 61jährig, wir schreiben das Jahr 2016, auf ihr jüngeres Selbst zurückschaut.
„(…) der Geist des Wasseinwird, der mit einer Mischung aus Verwunderung und Mitleid auf die über ihr Heft gebeugte junge Person herabblickt.“
So viele Übereinstimmungen zwischen S.H. und ihrer Erschafferin bestehen, so viele Abweichungen gibt es aber auch, so dass sich die Leser*in nie ganz sicher sein kann, wie viel hier nun autobiografisch ist.
Anlass für den Rückblick in die Jugendjahre ist, wie so oft, die Auflösung der Wohnung der 95jährigen Mutter, die in ein betreutes Zimmer im Seniorenheim umzieht. Gespräche mit der zunehmend demenzkranken Frau bilden eine weitere, berührende Ebene.
Beim Aufräumen stößt S.H. auf ein altes, verschollen geglaubtes Tagebuch, euphorisch-erwartungsvoll „Mein neues Leben“ betitelt, aus dem in der Folge ausgiebig zitiert wird. Besonders die rätselhafte Nachbarin von damals mit ihren seltsamen Freundinnen und lauten Selbstgesprächen und ein sexueller Übergriff spielen darin eine Rolle. Zudem entsteht ein Porträt New Yorks in den späten Siebziger Jahren, seiner Kunst- und Literaturszene, seiner Heruntergekommenheit und prickelnden Aufbruchsstimmung.
Eine weitere Ebene bilden Auszüge eines zu dieser Zeit verfassten ersten Romans, einer Detektivgeschichte mit jugendlichen Helden, im Stil von Sherlock Holmes. Auch dieser trägt die Initialen S.H. Die Erzählerin war auf der Suche nach einem Helden für ihre Geschichte, erst im Verlauf erkennt sie, dass sie eine Heldin geschaffen hat.
Diese verschiedenen Ebenen werden von S.H. in der Erzählgegenwart arrangiert, mit Notizen, Beobachtungen und essayistischen Passagen ergänzt. Dabei spricht sie ihre Leser*innen immer wieder direkt an, bezieht sie in das Buch mit ein, hinterfragt und bricht das Erzählte wie das Erzählen selbst.
„Sagen sie mir, wo die Erinnerung endet und die Erfindung beginnt? Sagen Sie mir, warum ich Sie als Reisegefährtin brauche, als meine jeweils liebe und launische Andere, meine Partnerin für die Dauer des Buches?“
„Damals“ ist keine Autobiografie, auch wenn viele Eckdaten auf Siri Hustvedt verweisen. Es ist ein kluger, ironischer, so analytisch-komplexer wie auch nostalgischer Blick auf die Zeit von Damals. „Memories of the future“ – so der viel schönere und vielschichtigere Originaltitel.
„Während es sie drängte, in der Richtung jenes imaginären Zeitpfeils vorwärtszustürmen, (…)bin ich daran interessiert, zu verstehen, wie sie und ich miteinander verwandt sind, was eine Kehrtwende bedeutet, um dem Zeitpfeil in die entgegengesetzte Richtung zu folgen (…) In unserer schlichten alten Menschenwelt wird die junge Frau, die im September 1978 die Augen hebt, sobald sie die Tür des Hungarian Pastry Shop aufgehen hört, zu der alten Frau, die jetzt, im September 2016, in einem Haus in Brooklyn in ihrem Arbeitszimmer sitzt und den Satz tippt, den Sie in Ihrer eigenen Gegenwart, die ich nicht erkennen kann, gerade lesen.“
„Damals“ ist natürlich auch ein feministisches Statement. Es ist vor allem ein anregendes, lesenswertes Buch.
Beitragsbild: Empire State Building Foto von Sam Richards von Pexels
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Siri Hustvedt – Damals
übersetzt von: Uli Aumüller und Grete Osterwald
Rowohlt März 2019, gebunden, 448 Seiten, € 24,00
Vielen Dank für diese sehr inspirierende Rezension. Ich freue mich schon darauf, dieses Buch zu lesen. Ich schätze die Autorin sehr und dieses Verweben von Zeit- und Handlungsebenen lese ich sehr gerne, da es den eigenen Gedanken viel Raum lässt.
Liebe Grüße
Gabi
Sehr gerne. Ich mag das auch. Viele Grüße!
Ich muss endlich auch mal wieder Siri lesen. Auf dem Stapel liegt bei mir ein Band mit Essays. Ich habe gerade durch die wunderbare Auster-Dokumentation auf Arte richtig viel Lust bekommen, beide wieder/mehr zu lesen. Wäre es nicht schön, wenn Sie gemeinsam den Literaturnobelpreis bekommen würden? Viele Grüße
Sehr gute Idee, liebe Constanze!
Ich habe heute nachmittag die Rezension von Urula März in der Zeit gelesen, die dem Buch weiblichen Narzissmus vorwarf. Und auch sonst nicht zimperlich bei der Bewertung der Gestaltung vor allem der aus ihrer Sicht klischeehaften gezeichneten männlichen Figuren vorging. Da lesen sich dein Beitrag und Marinas ja fast, als hättet ihr ein anderes Buch gelesen. Und ich werde immer neugieriger, wie es mir wohl gefällt.
Liebe Grüße, Claudia
Ich fand die Rezension von März ziemlich blöd. Aber ja, ich denke, das ist ein Buch, das spaltet und sicher nicht jedem gefällt. Einen Versuch ist es wert
Sehr schöne Rezension. Das Buch wünsche ich mir zum Geburtstag 🙂 Habe auch ein signiertes Siri-Buch auf das ich sehr sehr stolz bin. Eine ganz tolle Frau.
Danke! Was ich liebte ist immer noch mein Favorit von ihr, aber Damals hat mir auch sehr gut gefallen.
Eine Tolle Besprechung! Ich sehe, wir haben das gleiche Buch gelesen. Du Glückliche hast sie auf der Lesung erlebt und eine Signatur. In Berlin ist sie sehr kurzfristig wegen Erkrankung der Autorin ausgefallen. Ich hoffe, es geht ihr inzwischen besser.
Viele Grüße!
Das habe ich auch gehört. Wie schade!