Im vergangenen Jahr erhielt Das Mädchen mit dem Poesiealbum von Bart van Es den britischen Costa Award (bis 2005 Whitbread Award) in der Sparte Biografie und wurde aus allen fünf Siegertiteln zum Buch des Jahres gewählt.
Der aus den Niederlanden stammende, seit seiner Kindheit allerdings in England lebende und in Oxford Literaturwissenschaften lehrende Bart van Es erzählt darin die Geschichte von Hesseline de Jong, die als jüdisches Mädchen in einem Versteck die Verfolgung durch die Nationalsozialisten in den Niederlanden überlebt hat. Er erzählt aber gleichzeitig auch aus der eigenen Familiengeschichte. Denn eine der Familien, die die kleine Lien bei sich aufnahm, versteckte und dadurch rettete, war die seiner Großeltern. Immer wieder hat er reden hören von dem jüdischen Mädchen, das bei den van Es zeitweise lebte, aber eher versteckt. Der Kontakt zu ihr war schon lange Zeit abgebrochen. Eine alte Geschichte, an die man besser nicht rührt, rät die Mutter von Bart van Es. Dieser wird aber gerade dadurch neugierig, stellt Nachforschungen an, besucht Archive, knüpft schließlich im Jahr 2014 den Kontakt zur mittlerweile über achtzigjährigen Lien de Jong, die in Amsterdam lebt.
1933 in die moderne, säkulare Familie von Catharine und Charles de Jong in Den Haag geboren, erlebte sie als Kind nach und nach die Veränderungen, die durch die Besetzung der Niederlande durch die Deutschen ab Mai 1940 besonders die jüdische Bevölkerung zu spüren bekamen. Sehr bald müssen die Eltern Vorkehrungen getroffen haben, ihre Tochter vor den Deutschen zu verbergen. Ein sozialistisches Netzwerk, dem das in den Niederlanden recht bekannte Ehepaar Jan und Took Heroma angehörten, vermittelte für Lien die Pflegefamilie van Es in Dordrecht. Jans und Henk van Es, die Großeltern des Autors, kümmerten sich über ein Jahr um das Mädchen, bevor sie verraten wurden und Henk verhaftet. Lien gelang in letzter Minute die Flucht. Das Netzwerk konnte sie auch weiterhin verstecken, allerdings zunächst in ständig wechselnden Quartieren, bevor sie bei der Familie van Laars im kleinen Örtchen Bennekom unterkommen konnte. Hier wurde sie wenig liebevoll aufgenommen, eher als günstige Arbeitskraft missbraucht. Durch einen „Onkel“ kam es zu regelmäßigen sexuellen Übergriffen auf das kaum elfjährige Mädchen. Eine schwere, traumatische Zeit, über die Lien lange schwieg.
Nach Kriegsende erwirkte Lien, dass sie wieder zu den van Es zurückkehren konnte, als sie erfuhr, dass ihre komplette Familie in den deutschen Konzentrationslagern ermordet wurde. Hier war ihr einziger Ankerpunkt in einer völlig aus den Fugen geratenen Welt. Dass auch dieser Anker nicht völlig stabil war, zeigte sich spätestens als Lien neunzehn war und der Pflegevater sie bedrängte. Lien verließ daraufhin die Familie und brach den Kontakt für über ein Jahr ab. Später näherte sie sich wieder an. Aber ihr Vertrauen war erschüttert. Die „Schuld“, überlebt zu haben, die viele der Geretteten mit sich herumtrugen, wurde ergänzt durch das Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören. Eine seelische Verletzung und Belastung, die auch eine Ehe und drei Kinder nicht heilen konnten. 1972 unternahm Lien einen Selbstmordversuch, 1980 wurde ihre Ehe geschieden und es kam auch zum endgültigen Bruch mit den van Es, die ihr Undankbarkeit vorwarfen, Beschmutzung des Andenkens des mittlerweile verstorbenen Henk und sie komplett aus der Familiengeschichte löschten. „The cut out girl“, so der englische Originaltitel. Jans van Es schnitt sie sogar aus den Familienfotos heraus.
Ein paar der Fotos haben überlebt. Sie sind im Buch abgedruckt und dienen Lien und Bart van Es als Erinnerungsstützen bei den ausgiebigen Gesprächen, die sie nach ihrem Kennenlernen führen. Ebenso wie das im Deutschen titelgebende Poesiealbum, das sich noch im Besitz der alten Dame befindet. Ergänzt werden die Erinnerungen, besonders dann, wenn sie brüchig werden, wie in der Zeit der wechselnden Unterkünfte, oder wenn ergänzende Informationen nötig werden, durch Fiktionalisierungen des Autors oder durch andere Quellen, wie Tagebücher, Briefe, Zeitzeugenberichte oder Archivmaterial. In die Archive der Zeit hat sich Bart van Es sehr tief begeben, mit oftmals überraschenden Erkenntnissen. Besonders erschüttert hat den Autor, wie bereitwillig offensichtlich die niederländische Bevölkerung bei der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger mitgewirkt hatte. Der auch bei van Es verankerte Mythos von den Niederlanden als unschuldig überfallenes Land, gar als Ort des Widerstandes sah er zusammenbrechen angesichts der vielfältigen Mithilfe niederländischer Behörden bei der Ergreifung von Juden. In keinem westeuropäischen Land, einschließlich Deutschland, war die Zahl der Überlebenden so gering wie hier. 80 Prozent der jüdischen Niederländer wurden ermordet.
Das schmälert natürlich in keiner Weise das mutige Wirken vieler widerständiger Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens halfen. So wie die van Es und die van Laars. Aber „Das Mädchen mit dem Poesiealbum“ ist eben kein Buch des Schwarz-Weiß. Genauso wenig, wie Lien heroisiert wird – ihr ist auch als alte Dame noch wichtig, nicht nur als Opfer zu erscheinen – werden das ihre Retter. Bart van Es ist da radikal und ehrlich, scheut auch vor dem bisherigen großen Familiengeheimnis nicht zurück. Gleichzeitig zollt er aber allen Beteiligten großen Respekt. Es waren die Zeiten, die die Grenzen des Handelns absteckten. Wie man sich in ihnen bewegte, war eine Sache des Gewissens und des Muts. Davon erzählt Bart van Es in einer gelungenen Mischung aus Biografie, Roman und Reportage.
Beitragsbild: Bild von Lolame auf Pixabay
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Bart van Es – DAS MÄDCHEN MIT DEM POESIEALBUM
Originaltitel: ›The Cut-out-Girl‹
Übersetzung: Silvia Morawetz, Theresia Übelhör
Februar 2019, 320 Seiten, 35 s/w Abbildungen, gebunden, € 22,00