Der Lesemonat April ist für dieses Jahr auch bereits vorüber. Von nasskalten Wintertagen bis zu sonnigen Sommermomenten bot er dieses Jahr ganz getreu seines Rufs von allem etwas. Und auch meine Lektüre war recht bunt und gemischt.
Die größte Überraschung im positiven Sinn war „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz, der in der schönen Leinenausgabe der Büchergilde Gutenberg schon eine Weile geduldig im Bücherregal darauf wartet, von mir gelesen zu werden. Gute Kritiken eilten dem modernen Klassiker voraus, das Thema ist spannend und dennoch hatte er bisher noch nicht zu mir gefunden. Durch die Lesung auf Spotify, die ich bei einem dringenden „Garteneinsatz“ zu hören begann, wurde mir klar: Was ein Versäumnis! Welch ein hellsichtiges, authentisches Zeugnis aus dem Jahr 1939.
Otto Silbermann wird 1938 zu einem Reisenden, da er nicht weiß wohin. Nach der Reichsprogromnacht werden seine jüdischen Freunde und Bekannte einer nach dem anderen verhaftet und auch ihm gelingt nur knapp die Flucht. Die Grenzen sind bereits ohne Visum unüberwindbar, Visa wiederum schwer zu bekommen. Zu Beginn noch vermögend, irrt Silbermann durch Deutschland, immer in Bewegung, immer auf der Flucht. Sehr wichtig, dass dieses Buch wieder verfügbar ist. Es sollte ein möglichst großes Lesepublikum erreichen.
Auch sehr positiv angetan war ich vom Roman des Österreichers Alexander Pechmann „Die Nebelkrähe„. Schauerroman, Séancen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, ein dort erscheinender Geist Oscar Wildes – nicht unbedingt mein Beuteschema. Aber hier zeigt sich wieder einmal, dass man auch mal abseits davon auf Fang gehen sollte.
London, 1923. Der Große Krieg ist mehr als vier Jahre vorbei, aber die Gräuel sind noch lange nicht vergessen. Auch Peter Vane, ein junger Wissenschaftler, ist tief traumatisiert. Besonders den Verlust seines Kameraden Finley hat er nicht verwunden. Dieser gilt seit einer Verletzung an der Front als vermisst und gab ihm kurz vor seinem Verschwinden eine kleine Daguerrographie, die ein Mädchen darstellt und die Peter zu einer Art Talisman geworden ist. Auf der Suche nach dem Verschollenen und dem Mädchen auf dem Bild, besucht Peter Séancen und trifft dabei auch auf den Geist Oscar Wildes.
Originelle Mischung aus Schauer- Krimi- und Historikelementen – unterhaltsam, klug, empfehlenswert!
Ganz mein Beuteschema war wiederum „Die Angehörigen“ von Katharine Dion. „The dependents“, so der Originaltitel des Romans. Mehr noch als die deutsche Entsprechung „Die Angehörigen“ schwingt dort etwas mit, das man manchmal gerne eher verdrängen möchte, das aber in irgendeiner Form immer vorhanden ist, besonders, wenn die Menschen, denen man „angehört“, sehr nahe stehen: die Abhängigkeit. Nicht so sehr eine materielle, sondern eine emotionale Abhängigkeit, in der man sich befindet. Und die beim Verlust dieses Menschen eine schwer zu füllende Lücke hinterlässt.
Eine solche Lücke muss auch Gene Ashe erdulden, als seine Frau Maida nach 49 Jahren Ehe ganz unerwartet nach einer Knieoperation stirbt. Nach diesen vielen gemeinsamen Jahren plötzlich allein dazustehen, ist schwer. Es gibt eine gemeinsame Tochter, eine eng befreundete Familie, die Donellys, mit denen Gene, Maida und Dory Ashe viele gemeinsame Sommer am See verbracht haben, und die ihnen auch jetzt zur Seite stehen. Aber mit dem Verlust muss Gene alleine zurechtkommen. Wie schreibt man einen Nachruf? Was packt man hinein vom langen gemeinsamen Leben? Was war wichtig, erwähnenswert? Und war das gemeinsame Leben gelungen, glücklich? Für sich kann Gene das bejahen, aber ging es Maida genauso? Und was weiß er eigentlich von dieser Frau, die einen Großteil seines Lebens mit ihm verbracht hat?
Diese Gedanken gehen Gene, dem wir im Roman ganz nah sind, durch den Kopf. Katharine Dion erzählt davon nachdenklich, melancholisch und sehr einfühlsam, gelegentlich auch humorvoll-ironisch. Das ist thematisch nicht neu und schriftstellerisch ziemlich konventionell, aber auch sehr klar und erhellend und fügt eine weitere Facette zum großen Nachdenken über das Leben, das Glück und das Abschiednehmen hinzu, die ich gerne gelesen habe. Außerdem wird von einer jungen Autorin das Thema Alter und Altern auf sehr sensible Weise verhandelt.
Gene flüchtet mit seinen Erinnerungen in die alte Ferienhütte am See, wird dort eingeschneit und kommt allmählich zur Ruhe. Zur Seite steht ihm dort Anna Karenina. So wird „Die Angehörigen“ schließlich auch zu einer Hommage an die Literatur und die Kraft, die darin steckt. Ein schöner, ruhiger Debütroman.
Ein ganz besonderes Buch, das im vergangenen Jahr den Costa Award in der Sparte Biografie und auch den Titel „Buch des Jahres“ gewann: Das Mädchen mit dem Poesiealbum erzählt von Lien de Jong, die als kleines Mädchen die deutsche Besatzung und die Judenverfolgung versteckt bei niederländischen Familien überlebte, die Hilfe erfuhr sowie Leid, die fast daran zerbrach, aber auch wieder Kraft und Mut schöpfte und heute über achtzigjährig in Amsterdam lebt. Es erzählt auch eine Familiengeschichte, denn eine der Familien, bei der Lien unterkam, war die der Großeltern des Autors Bart van Es. Bei seinen Recherchen erfuhr er nicht nur Heroisches und Aufopferungsvolles, sondern auch Niederträchtiges und Erschreckendes. Er erzählt davon in einer gelungenen Mischung aus Roman, Biografie und Sachbuch.
Olga Tokarczuk – Unruhe: Das Buch ist eine Wundertüte an disparaten Texten, mit ruhelosem Tempo, wilden Sprüngen in Zeit und Raum. Texte, die sich sich weitestgehend mit dem Unterwegssein, der Reise nach außen wie nach innen beschäftigen. Alles, was eben „Unrast“ ausdrückt. Der Text ist originell, kühn, intelligent und bietet reichlich Material, sich daraus eigene Definitionen herauszudestillieren, sich auf die Reise zum eigenen Ich zu machen. Ein Prozess, bei dem die Leser*in mitwirken muss, damit er funktioniert. Sonst bleiben die Texte leicht ein Sammelsurium. Ich denke, mir ist das größtenteils gelungen, ich habe das Buch mit Gewinn gelesen. Dennoch war oft der Wunsch da, das gerade die längeren, intensiven Texte fortgeführt worden wären, die Autorin mit ihnen weniger „Unrast“ gezeigt hätte.
Im vergangenen Jahr erhielt die englische Fassung („Flights“) den renommierten Booker Prize für den besten übersetzten Text. Es ist sehr zu begrüßen, dass der @kampaverlag daraufhin das ursprünglich 2007 erschienene Buch erneut aufgelegt hat.
Anne von Canals „Der Grund“ war das zweite Buch, das schon lange in meinem Regal wartete und nun dank Spotify endlich gelesen bzw. gehört wurde. Im Gegensatz zum „Reisenden“ hat es mir aber wenig Neues oder Bedeutendes gegeben. Die Geschichte um einen einst am väterlichen Willen gescheiterten Pianisten, der sich in seinem Leben als Gynäkologe und glücklich verheirateter Ehemann eigentlich ganz gut eingerichtet hat, dem aber ein schreckliches Unglück den Boden unter den Füßen wegzieht und ihn zu einem abgehalfterten, zynischen Kreuzfahrtschiff-„Pianör“ macht, bot mit oft zuviel Vorhersehbares, Konfektioniertes. Die Trauer und Verzweiflung des Protagonisten hat mich auch wegen seines überbordenden Selbstmitleids wenig berührt. Kein schlechtes Buch, gewiss nicht, aber mich hat es leider trotz schöner Stellen nicht wirklich erreicht.
Vielleicht lag das Scheitern von „Der Grund“ auch an der gleichzeitig erfolgten Lektüre eines unglaublich intensiven Buchs, von Philippe Lançons „Der Fetzen„. Der französische Journalist wurde am 7. Januar 2015 in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo bei dem dort erfolgten islamistischen Anschlag schwer verletzt. Zwölf andere Menschen starben. Dicht und genau beschreibt Lançon den Anschlag, sein Entsetzen zwischen den Leichen seiner Kollegen und Freunde zu liegen, die Angst und seinen langen, schwierigen Weg der Genesung. Ein Drittel seines Gesichts wurde durch eine Kugel zerfetzt und musste mühsam und langwierig wiederhergestellt werden. Noch mühsamer und langwieriger ist wohl der Weg des Philippe Lançon in ein neues Leben, denn zurück geht es für ihn, der nach dem 7. Januar nicht nur äußerlich ein anderer ist, wohl nicht. Sehr intensiv, sehr berührend, sehr gut!
Und dann war da noch „Winterbergs letzte Reise“ von Jaroslav Rudiš. Wer meinen Blog ein wenig verfolgt, hat schon mitbekommen, dass ich von diesem Buch erst einmal eine längere Pause benötige. Die Reise des sehr betagten Winterberg mit seinem Altenpfleger an die Stätten seiner Kindheit und die Orte großer mitteleuropäischer Geschichte ist nicht uninteressant, aber durch den Erzählton seeehr anstrengend. Ich werde ihm (hoffentlich) noch eine zweite Chance geben. Vielleicht wird es noch was mit uns.
Aber erst einmal habe ich hier noch so viele vielversprechende Frühjahrstitel, auf die ich mich freue. Und dann sind auch schon die Verlagsvorschauen für den Herbst da. Ich habe schon fleißig gestöbert und, wie könnte es anders sein, jede Menge spannender Titel herausgesucht. Davon in den nächsten Tagen mehr hier auf dem Blog.
„Die Nebelkrähe“ muss ich mir auch unbedingt gönnen. Bin schon sehr gespannt, wie Deine Herbstauslese ausfallen wird. Das ist zumeist viel dabei, was auch in mein Beuteschema fällt. – Ich wünsch Dir ein schönes, nicht allzu kaltes WE ! 🙂
Lieber Stefan, die Temperaturen sind gruselig, aber ich verschanze mich zuhause 😉 Und arbeite an meiner „Herbstauslese“. Vielleicht bekomme ich sie bis Sonntag fertig. Dir und deiner Familie ein schönes Wochenende!
Diesen Winterrückfall braucht wirklich niemand. Ich hatte gehofft, dass die Eisheiligen dieses Jahr ausfallen. Regen gerne, ja, aber die sieben Grad Minus, die wir von Samstag auf Sonntag hatten, haben unseren Gartenpflanzen ganz schön zugesetzt.
Bin auch schon wieder dabei die neuen Vorschauen zu sichten. Es ist ein Kreuz. Bin schon bestimmt 5 Vorschauperioden im Rückstand. 😀 Schöne Woche!
Danke, dir auch!
Boschwitz Roman ist eine fundamentale Entdeckung und Erfahrung für jeden Leser, glaube ich. Mich hat dieses Buch ungemein berührt, weil es wie keine zweites, so glaube ich, diese menschenfeindliche Atmosphäre zu Beginn des Dritten Reiches schildert. Pechmann und Lancon warten geduldig auf dem Stapel, auf die Lektüre freue ich mich schon. Viele Grüße
Ja, Boschwitz war auch für mich eine Entdeckung. Liebe Grüße!
Klett & Cotta kündigt für den Herbst im Übrigen einen weiteren Roman von Boschwitz an. Viele Grüße
Ja, habe ich auch schon gesehen. Da warte ich mal ab. Der Reisende war schon sehr gut, das ist aber das Debüt… Die Leseliste lässt sich ja jederzeit erweitern (zumindest theoretisch 😉 ) LG
Du warst eine sehr fleißige Leserin!
Auf Tokarczuk bin ich irgendwie neugierig. Und meine Besprechung zu Lancon kommt morgen auf dem Blog. Fand ich ziemlich großartig.
An Herbst-Neuerscheinungen mag ich noch gar nicht denken …
Viele Grüße!
Ja, der Lançon war wirklich beeindruckend. Meine Besprechung dauert noch etwas. Bin jetzt erst einmal in den Vorschauen abgetaucht (auch wenn ich eigentlich auch noch nicht dran denken mag, hab hier noch so viel Spannendes liegen, aber meine Neugier ist immer zu groß ?) Viele Grüße!