Der 7. Januar 2015 ist einer jener Tage, die sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben. An diesem Vormittag drangen zwei islamistische Brüder in die Redaktionsräume der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ ein und erschossen zwölf Menschen. Die Zeitschrift stand schon längere Zeit im Fadenkreuz der Islamisten, da sie sich über Religion allgemein, den Islam im Besonderen, z.B. durch Veröffentlichung der umstrittenen dänischen Mohamed-Karikaturen, gerne satirisch äußerte. Philippe Lançon erzählt in Der Fetzen als ein Überlebender von Charlie Hebdo.
Hier waren keine Selbstmordattentäter unterwegs, es explodierten keine Sprengsätze. Zwei französische Staatsbürger mit nordafrikanischen Wurzeln, schwierige familiäre Umstände, Perspektivlosigkeit, persönliches Scheitern – ideale Opfer einer islamistischen Radikalisierung. Einzeltäter, die nicht hochprofessionell, sondern nur entschlossen und mit hoher krimineller Energie vorgingen. Die Ermordung der Charlie Hebdo-Mitarbeiter war eine Hinrichtung. Und gleichzeitig ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit, auf die Freiheit allgemein, auf den freien westlichen Lebensstil. Ein Angriff, der weltweit auch so verstanden wurde. „Je suis Charlie“ hieß es allerorten, Solidaritätsbekundungen aus aller Welt. Der Anschlag war der erste einer Folge von knapp sechzig islamistischen Terrorakten außerhalb der „Krisengebiete“ in den Jahren 2015 bis 2017 (zum Vergleich gab es in den Jahren 2011 bis 2014 ca. vier Anschläge pro Jahr (Quelle: Bundesamt für Verfassungsschutz)), was ja die schrecklichen Gewaltakte im Irak, in Afghanistan, Nigeria, Philippinen und und und noch gar nicht berücksichtigt.
Diese Zahlen, Fakten, Umstände interessieren Philippe Lançon als Autor kaum. Genauso wenig beschäftigt er sich in seinem Buch „Der Fetzen“ mit den Tätern, ihrer Motivation, ihrem Hintergrund oder gar mit Islamismus, dem Islam. Philippe Lançon ist einer der wenigen Überlebenden von „Charlie Hebdo“. Für ihn sind die Täter nur dumpfe Schreie, metallisches Klacken, schwarze Beine, die im Konferenzraum herumgehen und ihre Opfer systematisch hinrichten.
Er selbst, Jahrgang 1963, ist studierter Jurist, eher zufällig als Kulturkritiker bei der linksliberalen französischen Tageszeitung „Libération“ hängengeblieben und zudem Kolumnist für die Satirezeitung Charlie Hebdo. Am Morgen des 7. Januar 2015, den er zu Beginn von „Der Fetzen“ rekapituliert, beschließt er, eine Kritik für Libération über die am Vorabend gesehene Theateraufführung von Shakespeares „Was ihr wollt“ zu schreiben, nur kurz bei der Redaktionssitzung vorbeizuschauen. Er kommt zu spät, aber anders als seine Kollegen, die Zeichner Luz und Catherine Meurisse, nicht spät genug. Detailliert und nahezu unerträglich schildert er den plötzlichen Einbruch der Gewalt in den Konferenzraum. Man hatte gerade über Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ diskutiert, die am Morgen erschienen war, die Sitzung war so gut wie beendet.
Mit großer Schonungslosigkeit erzählt Philippe Lançon von den Minuten, die zwölf Menschen, Kollegen, Freunden aus dem Leben rissen, die er inmitten all der Toten auf dem Boden liegend verbringen musste, scheut auch nicht grausige Details. Grausige Details, die auch ihn betreffen. Denn Philippe Lançon ist schwer verletzt. Er wurde nicht nur an Händen und Armen getroffen, ihm wurde der komplette linke Unterkiefer zerfetzt. Etwa ein Drittel seines Gesichts war zerstört. Damit rissen die Attentäter auch ihn, den Überlebenden, aus dem Leben.
Auf den folgenden über 400 Seiten betont er immer wieder, dass er nicht nur optisch nicht mehr der Mann ist, der er vor dem 7. Januar war. 400 Seiten, die einen mühevollen, langen Weg in ein neues Leben schildern. 17 Operationen, die Transplantation des Wadenbeins als Kieferersatz, häufig scheiternde Hauttransplantationen, ein Haut“fetzen“, der vom Oberschenkel ans Gesicht versetzt wird, Schmerzen, Angst, drei Monate in der Pariser Klinik Pitié Salpêtrière, sieben im Hôpital des Invalides. Eine doppelte Rekonstruktion – die seines Gesichts, seiner „Gueule cassée (er verwendet diesen Ausdruck, der ursprünglich für die schwer Gesichtsverletzten des Ersten Weltkriegs gebraucht wurde), und die seiner verletzten Seele. Hier ist mehr als nur der Kiefer zerfetzt. Auch hier Schonungslosigkeit, sich selbst gegenüber, wie er den notwendigen Egoismus des Opfers schildert, aber auch seinen Nächsten gegenüber, von denen ihn viele aufopferungsvoll begleiten. Aber „Der Fetzen“ dreht sich fast ausschließlich um Philippe Lançon und ist doch völlig uneitel. Ein Widerspruch? Mag sein.
Hilfe findet Lançon nicht nur bei seiner Chirurgin Chloé, der ein großer Raum im Buch eingeräumt wird, sondern auch in bestimmten Literaturpassagen, den Briefen Kafkas an Milena beispielsweise oder Abschnitten aus dem „Zauberberg“ oder, immer wieder, besonders vor Operationen, fast wie ein Talisman, die Sterbeszene der Großmutter aus Prousts Recherche.
Literatur, Musik, hier vor allem die von Bach, und Kunst sind ihm Rettungsanker in der wechselvollen Genesungszeit.
Philippe Lançon erzählt dicht, präzise, detailreich, ergreifend, oft auch selbstkritisch und selbstironisch. Ihm ist damit ein äußerst beeindruckendes und auch literarisch sehr geglücktes Zeugnis gelungen.
Nach seiner Entlassung geht er zunächst einmal fort aus Europa, zu seiner damaligen Freundin nach New York. Dort erreichen ihm am 13. November die Nachrichten von den Pariser Anschlägen auf das Bataclan, das Stade de France und andere Orte.
„Ich im Schatten der nicht mehr vorhandenen Türme, mit deren Zerstörung der Wahnsinn anfing.“
Philippe Lançon hat diesem Wahnsinn mit Der Fetzen ein literarisches Meisterstück entgegengesetzt und den Opfern von Charlie Hebdo ein Denkmal. Überraschend ist, mit wie viel Akzeptanz er sein Schicksal getragen hat. Von Hass ist hier nichts zu spüren, noch nicht einmal von Wut.
„Ich durfte dem erfahrenen Grauen nicht die Ehre einer Wut oder Schwermut erweisen (…)“
Große Literatur. Meine Verbeugung vor Buch und Autor.
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Beitragsbild: The Pencil is Mightier then the Sword by Phillip (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
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Philippe Lançon – Der Fetzen
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Klett-Cotta März 2019, 551 Seiten, gebunden, € 25,00