Aus dem südwestafrikanischen Land Angola dringt nur selten Literatur bis zu uns vor. Einer der wenigen Autoren, denen das gelungen ist, ist der 1960 geborene und sowohl in Angola als auch in Portugal und Brasilien lebende José Eduardo Agualusa. Portugiesisch ist seine Muttersprache, in der er bis heute über 50 Bücher verfasst hat. Fünf davon sind bisher auf Deutsch erschienen. Obwohl „Das Lachen des Geckos“ (2004) und „Barocco tropical“ (2009) auch in Deutschland einige Aufmerksamkeit erhalten haben, ist er erst mit „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ richtig bekannt geworden. Er zählt zu den wichtigsten Stimmen sowohl Afrikas als auch Portugals. Nun erscheint Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer.
Angola, das nach der „Nelkenrevolution“ in Portugal im Jahr 1975 seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht erlangte und direkt in einen dreißig Jahre tobenden Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Befreiungsbewegungen stürzte, der bis zum Tod des UNITA-Führers Jonas Savimbi 2002 andauerte, ist ein Land im Umbruch. Von 1979 bis 2017 war José Eduardo dos Santos Präsident des Landes, das er alles andere als demokratisch führte. Politische Rechte, Bürgerrechte, Menschenrechte – Angola lag in allen Bereichen im weltweiten Vergleich ganz weit hinten.
José Eduardo Agualusa ist ein politischer Schriftsteller, der die gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatland stets sehr genau unter die Lupe nimmt. Die Hinterlassenschaften der kolonialen Vergangenheit sind ebenso Thema wie die verheerenden Folgen des Bürgerkriegs, so auch in seinem 2017 auf Deutsch erschienenen „Eine allgemeine Theorie des Vergessens.“ In dem 2017 im Original und nun bei uns veröffentlichten Roman „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ sind es nun die autoritären Verhältnisse in Angola unter José Eduardo dos Santos, Korruption, Vetternwirtschaft und mangelnde gesellschaftliche Freiheit, die der Autor kritisiert. Die politischen Veränderungen in Angola hatte er dabei noch nicht im Blick.
Protagonist und Ich-Erzähler ist Daniel Benchimol, ein Träumer, ein Idealist, mäßig erfolgreicher Journalist und Autor, den seine regimekritische Haltung nicht nur bei seiner Frau Lucrécia in Misskredit gebracht hat, sondern, vielleicht noch schlimmer, auch bei seinem reichen, mit den höchsten Regierungskreisen im Einvernehmen stehenden Schwiegervater. Dieser verbaut ihm durch seinen Einfluss die berufliche Karriere.
Immer häufiger zieht sich Daniel in ein kleines Hotel am Meer zurück, wo er seinen intensiven Träumen nachhängen kann. Der Hotelier Hossi Kaley ist der zweite Protagonist des Romans. Er ist ein Milizionär der UNITA mit dunkler Vergangenheit, ein Folterer, ein Geheimdienstmann. Zweimal von einem Blitz getroffen, hat er allerdings Probleme mit der Erinnerung. Und er kann nicht mehr träumen. Dafür erscheint er anderen Menschen, auch solchen, die ihn nicht kennen, in deren Träumen. Etwas, das den kubanischen Geheimdienst (Kuba war lange Zeit Unterstützungsmacht Angolas) auf den Plan ruft. Wäre es doch zu praktisch, sich in die Gehirne von Bürgern und Regimegegnern „hineinträumen“ zu können.
Am Strand des Hotels findet Daniel eines Tages eine Kamera. Er entwickelt die Fotos und erkennt darauf zu seiner Verblüffung die unbekannte Frau, die seit einiger Zeit seine Träume beherrscht. Die Frau mit „den Haaren wie Zuckerwatte“. Mit ein wenig Recherche identifiziert er sie als Moira Fernandes, eine in Südafrika lebende Künstlerin, die in Installationen ihre Träume nachstellt und zu der Daniel bald eine Liebesbeziehung entwickelt.
Zu diesem Träumer-Trio gesellt sich noch ein brasilianischer Neurowissenschaftler, der eine Maschine erfunden haben will, die Träume während des Schlafs in Filme verwandelt. Ein Experiment, dem sich Daniel unterziehen will. Dieser Hélio ist überzeugt davon,
„dass bestimmte Personen, zum Beispiel du, eine besondere Neigung haben, sich an die Zukunft zu erinnern.“
„Träumen ist das Ausprobieren von Wirklichkeit in der Sicherheit unseres Bettes.“
So gibt es die Geschichte, dass der Chemiker August Kekulé von einer Schlange träumte, die sich in den Schwanz beißt und so auf die Strukturformel des Benzols kam.
„Wissen Sie, dass ein Mensch durchschnittlich in seinem Leben insgesamt sechs Jahre lang träumt? Irgendeinen Sinn muss das haben.“
In diese fantastisch-bizarren, poetischen Träumereien platzt aber, wie könnte es anders sein bei einem solch politischen Schriftsteller wie Agualua, die bittere Realität des Lebens in einem „Dritteweltland“, welches der Ich-Erzähler definiert als ein Land, in dem man
„mehr Angst vor Polizisten hat als vor Verbrechern.“
Hossi wird von einem Geheimdienstmann der Regierung verfolgt und lebensgefährlich verletzt und Daniels siebzehnjährige Tochter Lúcia wird wegen einer Aktion ihrer regimekritischen Gruppe verhaftet und tritt in einen Hungerstreik, der auch ihr Leben bedroht.
José Eduardo Agualusa erzählt in „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ vom blutigen Bürgerkrieg und den unsauberen Geschäften und Praktiken der Befreiungsbewegungen und Politiker. Sein Protagonist Daniel glaubt nicht
„(…) an Befreiungskriege. Krieg ist das Gegenteil von Befreiung. Was sie Befreiungskampf nennen, war nur die Vorstufe zum Bürgerkrieg.“
Und der Ex-Milizionär Hossi schreibt in seinen Tagebucheinträgen:
„Der Krieg dauerte einfach zu lang. Irgendwann hörten wir auf, noch zu wissen, warum wir uns töteten. Wir töteten nur noch aus Gewohnheit.“
Dass das Ende des Bürgerkriegs und des Terrors durch die UNITA 2002 aber nicht den Beginn von freien und demokratischen Strukturen bedeutete, wird aber auch deutlich. Daniels reaktionärer Schwiegervater und seine Ex-Frau Lucretia bedrohen und bedrängen Daniel, weil er Regimekritisches über Korruption veröffentlicht. Da gibt es beispielsweise die Geschichte vom Flugzeug, einer Boeing 727, die 2003 spurlos vom Flughafen der angolanischen Hauptstadt Luanda verschwand und nach der weltweit vergeblich durch das FBI und die CIA gefahndet wurde. Eine der irrwitzigen Geschichten in „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“, die man kaum glauben mag, die sich aber als wahr erweisen.
„wie die unglaubliche Ironie der Geschichte noch jedes Mal jede Fiktion übertrumpft“
Diese Mischung aus politischen Fakten, Gesellschaftskritik, Ironie und Poesie ist dem Autor sehr gut gelungen. Am Ende steht Hossi dem (Noch)Präsidenten gegenüber und fragt, warum Lúcia und ihre Freunde immer noch nicht freigelassen werden. Der „winzige“ Präsident antwortet zögerlich:
„Weil sie keine Angst haben! Sie fürchten sich nicht, diese jungen Leute! So geht das nicht! Sie sind wahnsinnig. Sie fürchten sich nicht, und das ist ansteckend.“
Die Angst eines jeden Diktators. José Eduardo Agualusa konnte beim Verfassen von Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer noch nicht wissen, dass Präsident José Eduardo dos Santos nach 38 Jahren 2017 endlich zurücktrat. Die Hoffnung auf ein demokratisches, freies und friedliches Angola ruht nun auf den „jungen Leuten.“
Beitragsbild: von von Pedro Lelo auf Pixabay
Weitere Besprechung auf Travelwithoutmoving
_____________________________________________________
*Werbung*
José Eduardo Agualusa – Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
C.H.Beck Februar 2019, 304 Seiten, Hardcover, € 22,00