Der Mai war wieder ein äußerst positiver Lesemonat. Nur gute Bücher, spannende, anregende Themen. Insgesamt scheint mir das Frühjahr 2019 viele wirklich gute Titel gebracht zuhaben. Und der Blick in die Herbstvorschauen verspricht, dass das zweite Halbjahr nicht weniger ergiebig zu werden verspricht. Hier nun meine Lektüre Mai 2019:
Eine Bergbaukatastrophe 1974 in Frankreich, eine Kindheit in den Sechzigern in Minnesota, das Schicksal eines einst berühmten jüdischen Sängers auf der Flucht vor den Nazis, Collgejahre an der Ostküste, ein scheiternder Boxer in Nevada, fantastische Träume in Angola, Trümmerjahre in Hamburg und die Französische Revolution – diesen Monat ging es sehr bunt bei mir zu. Und das Schönste: Ich kann alle Bücher empfehlen. Wenn ich mich für ein Highlight entscheiden müsste, wäre es vielleicht Sorj Chalandon. Von diesem Autor möchte ich unbedingt noch weitere Bücher lesen. Er war mir bisher unbekannt.
Am 27.12.1974 ereignete sich in der nordfranzösischen Gemeinde Liévin-Lens eine Tragödie. In der dortigen Zeche Saint-Amé, im Schacht 3b, ereignete sich ein Grubenunglück großen Ausmaßes. 42 Bergleute starben.
Fachleute und Öffentlichkeit waren sich relativ bald einig darüber, dass diese Katastrophe kein Schicksal, sondern vermeidbar gewesen wäre.
Michel Flavent, Bruder einer der Bergleute von 1974, bricht nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2015 alle Brücken ab und folgt den vermeintlich letzten Worten seines Vaters „Michel, räche uns an der Zeche“. Erinnerungen an den bewunderten Bruder, an den harten Arbeitsalltag unter Tage, die große Solidarität unter den Kumpeln, die Profitgier der Bergwerksleitung treiben ihn zu einem hinterhältigen Racheplan. Was wirklich „Am Tag davor“ geschah, erfährt die Leser*in erst am Ende.
Sorj Chalandon verbindet mit seinem in klarer Prosa geschrieben Werk intensive Recherche mit einem emotional berührenden, persönlichen Text und einer klaren politischen Botschaft. Das ist ihm ausgezeichnet gelungen.
Sommer 1961 in Minnesota. Ein dreizehnjähriger Junge wächst mit seinem jüngeren Bruder und der älteren Schwester wohlbehütet in einer Pastorenfamilie auf. Die Natur beginnt vor der Haustür und die Kinder streunen an Fluss und Bahndamm, spielen Softball und bestaunen die Unterwäsche der Nachbarin. Ein amerikanisches Idyll?
Der Autor William Kent Krueger macht gleich mit seinem ersten Satz klar, dass dem nicht so ist.
„Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten.“
Und so erschüttern das Verschwinden der Schwester und eine Reihe ungeklärter Tode nicht nur die Familie von Frank, sondern die ganze Gemeinde von Grund auf. „Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“, dessen rührseliger Titel mich beinahe von der Lektüre abgehalten hätte, überzeugt als nostalgisch erzählter, atmosphärisch dichter, sowohl spannender als auch tiefgründiger Roman mit sehr schönen Charakterzeichnungen, die eine amerikanische Kleinstadt der Sechziger Jahre vor unseren Augen entstehen lässt. Leseempfehlung!
Joseph Schmidt – ich muss zugeben, dass mir der Name zunächst nichts sagte. Aber natürlich kenne ich die Lieder, die er interpretiert hat, „Ein Lied geht um die Welt“, „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Heute ist der schönste Tag in meinem Leben“. Und ich meine, in grauer Vorzeit, als das Fernsehen nur drei Möglichkeiten bot, tatsächlich diesen seltsam pathetischen Film aus dem Jahr 1933 gesehen zu haben, der nach ersterem benannt ist.
Lukas Hartmann hat das Schicksal des damals gefeierten und verehrten lyrischen Tenors Joseph Schmidt, der das „Pech“ hatte, nicht nur musikalisch hoch talentiert und umjubelt, sondern zudem auch noch Jude zu sein, erzählt. Nur wenige Jahre, nachdem sein Ruhm begann, durfte er in Deutschland nicht mehr auftreten und konnte auch in seinen gewählten Fluchtorten Wien, Brüssel und Südfrankreich nicht lange bleiben. Erst im Herbst 1942 gelang ihm der illegale Grenzübertritt in die Schweiz. Von Rettung konnte aber nicht die Rede sein. Nachdem die Schweiz im August 1942 die Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen hatte, wurden illegal eingereiste in Lager interniert und oft sehr ungnädig behandelt. Joseph Schmidt verweigerte man die nötige medizinische Versorgung. Nur wenige Wochen später starb „Der Sänger“ an Herzversagen, nur einen Tag bevor seine Arbeitserlaubnis und damit Freiheit eintraf. Ein Opfer der Schweizer Bürokratie und des auch dort verbreiteten Antisemitismus.
Auf dieses Schicksal aufmerksam zu machen und gleichzeitig erschreckende Parallelen zum Umgang mit Flüchtlingen heute durchschimmern zu lassen, ist der Verdienst dieses Romans.
„Aller Anfang“ ist J. Courtney Sullivans Debütroman, der erst jetzt auf Deutsch erschienen ist. Auch wenn die Geschichte von vier Freundinnen, die sich auf dem Smith-College, einem der bekanntesten amerikanischen Frauenuniversitäten der USA, kennenlernen und ihre Freundschaft mit einigen Höhen und Tiefen bis in ihr Erwachsenenleben retten, noch nicht ganz die Qualität ihrer späteren Romane ( z.B. „All die Jahre„) erreicht, ist es schön zu lesen und zeigt, dass die Feministin Sullivan durchaus schon andere Ambitionen hatte, als weichgespülte Unterhaltungsomane zu schreiben. Sie spricht auch durchaus relevante Themen an, die beim Erscheinen 2009 noch nicht so in aller Munde wie heute waren: sexuelle Gewalt, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Transgender, Missbrauch und der Umgang junger Frauen mit den vermeintlich sicheren Errungenschaften des Feminismus.
„Don´t skip out on me“ (Lass mich nicht im Stich) lautet der Originaltitel von Willy Vlautins neuestem Roman., „Ein feiner Typ„. Und da Vlautin ein genauso großartiger Musiker wie Schriftsteller ist, gibt es einen gleichnamigen Song und einen ganzen Soundtrack, den man im Netz anhören kann. Melancholische Folkmusik zu einem Roman, der eine traurige Geschichte aus dem amerikanischen Niemandsland erzählt.
Horace ist halb Indianer, halb irischstämmig und hat eine wenig schöne Kindheit hinter sich. Von der Mutter wurde er bei der Großmutter abgegeben. Die trinkt und ist der Aufgabe nicht gewachsen. Zum Glück gibt es da die Reeses, ein älteres Paar, deren Töchter die Ranch in Nevada schon lange verlassen haben, und die Horace wie einen Sohn aufnehmen. Doch Horace hat einen Traum: Er möchte unbedingt Box-Champion werden. Dafür lässt er alle Sicherheiten hinter sich. Ein herzzerreißendes Buch aus dem amerikanischen Westen.
Auch wenn afrikanische Literatur mittlerweile eine größere Beachtung erfährt, sind Stimmen aus Angola eher eine Seltenheit. Ausnahme ist der portugiesisch schreibende José Eduardo Agualusa, der mit einigen seiner über 50 Bücher auch auf Deutsch erscheint und damit auch eine beachtliche Resonanz erfährt. 2017 erschien hier „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ und nun der jüngste Roman „Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer„.
Wieder ist es die angolanische Geschichte, der 2002 beendete Bürgerkrieg, die autoritäre Staatsführung von José Eduardo dos Santos (1979-2017), die Korruption, der Amtsmissbrauch, den Agualusa Thematisiert. Wieder geschieht das aber mit einem fantastisch-bizarren, eher leichten Text um einen Journalisten, dessen Ehe an seinen regimekritischen Berichten scheiterte und der sich nun in merkwürdigen, intensiven Träumen verliert; um einen ehemaligen UNITA-Kämpfer, der selbst nicht mehr träumen kann, aber anderen in deren Träumen erscheint; einer Künstlerin, die ihre Träume in Installationen festhalten will – und um die Tochter des Journalisten und ihre jungen Freunde, die für ihren Traum von einem freien, gerechten, demokratischen Angola kämpfen und verhaftet werden.
Mir hat diese Mischung aus Politischem, Fantastischem und einem Schuss Ironie sehr gut gefallen.
Der 14. Juli 1789 ist wohl jedem halbwegs an Geschichte interessierten Leser als Tag des Sturms auf die Bastille bekannt und als Symbol für den Beginn der Französischen Revolution. Seit 1790 ist er Nationalfeiertag im Nachbarland. Wenige Themen abseits der deutschen Geschichte werden in der Schule so intensiv behandelt wie dieser Abschnitt der Historie, der die Entwicklungen der Neuzeit so stark prägte. Was gibt es da noch Neues zu berichten? Éric Vuillard versteht es in seiner bewährten Manier (siehe „Die Tagesordnung„), kleine Episoden und Anekdoten zu einem Reigen der Ereignisse zu schmieden. Schnelle Szenenwechsel, Rein- und Rauszoomen der Ereignisse, persönliche Schicksale mit vielen Details kurz ins Schlaglicht rücken, allgemeine Entwicklungen kommentierend ergänzen – man merkt dem Autor den Filmemacher an. Entstanden ist ein so unterhaltsames wie lehrreiches Buch, rasant, anrührend und ironisch, atmosphärisch und erhellend. Und das auf gerade mal 136 Seiten.
Mechthild Bormanns „Trümmerkind“ habe ich als Hörbuch gehört, mir dann aber auch als Buch gekauft, denn es gefiel mir ganz ausgezeichnet. Hörbücher finde ich ideal bei Garten- und Hausarbeit, aber ein Ersatz für das Lesen sind sie für mich irgendwie nicht. In diesem Buch verknüpft Borrmann eine reale Mordserie aus dem Hamburg des Jahres 1947, die sogenannten Trümmermorde, mit zwei Familiengeschichten aus der Kriegszeit bis in die Gegenwart, einer Fluchtgeschichte und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung im heutigen Köln. Das gelingt ihr ganz ausgezeichnet. Nicht nur die Kriminalhandlung mit ihrer fiktiven Auflösung, sondern auch die atmosphärisch starke Schilderung der Nachkriegjahre sind äußerst spannend.
Ich wünsche euch wunderbare Sommertage und vielleicht auch Ferien – ohne oder aber besser mit Buch!
Hallo,
ich habe von Sorj Chalandon noch nichts gelesen, mir jetzt aber mal „Am Tag davor“ in der Bibliothek vormerken lassen.
„Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ und „Ein feiner Typ“ hat die Bibliothek leider nicht, aber die wandern direkt mal auf die Wunschliste.
„Trümmerkind“ war letzten September eines meiner Monatshighlights, und das erinnert mich daran, dass ich eigentlich auch mal die anderen Bücher der Autorin lesen wollte.
LG,
Mikka
Liebe Mikka, ich habe mir jetzt noch ein Buch von Chalandon zugelegt, Die vierte Wand, weil mir Am Tag davor so gut gefallen hat. Bin gespannt, wie du es findest. LG, Petra