Éric Vuillard – 14.Juli

Bestimmte Tage brennen sich in das kollektive Gedächtnis ein. Auch der am Geschichtsunterricht uninteressierteste Schüler kennt bestimmte Daten auswendig – und sei es nur, weil sie sich in Form von Nationalfeiertagen verewigen. Ist das seit bald dreißig Jahren in Deutschland der Tag der Deutschen Einheit, der 3. Oktober, so ist das in Frankreich seit nunmehr 229 Jahren der 14. Juli. An diesem Tag stürmte „das Volk“ im Jahr 1789 die Bastille, das Pariser Staatsgefängnis. Dieser Tag gilt als symbolischer Beginn der Französischen Revolution, eines der sicher bedeutsamsten Ereignisse der neuzeitlichen europäischen Geschichte,dem Éric Vuillard in 14.Juli ein Denkmal setzt.

Dabei begannen die Unruhen bereits deutlich früher und waren deutlich unheroischer als später tradiert, wie man in Éric Vuillards „14. Juli“ nachlesen kann. In seinem typisch knappen, verdichteten Stil historische Ereignisse zu schildern, erzählt der französische Autor, der im vergangenen Jahr mit seinem Goncourt preisgekrönten Roman „Die Tagesordnung“ auch in Deutschland sehr erfolgreich war, auf wiederum nur gut 100 Seiten von diesem bahnbrechenden Ereignis.

Durch Misswirtschaft und horrende Ausgaben des Königshofs geriet die Staatsverschuldung unter dem Ancien Régime in astronomische Höhen und das Land Ende des 18.Jahrhunderts in eine schier ausweglose Finanzkrise. Parallel dazu verschärfte sich durch Anstieg der Steuern und des Brotpreises die Not der ärmeren Bevölkerungsgruppen. Eine Häufung klimatischer Extreme hatte zuvor den Getreidepreis explodieren lassen. Gleichzeitig war in den Jahren zuvor die Bevölkerungszahl stark angestiegen. So kam es schon im Vorfeld vielerorts zu sogenannten „Hungeraufständen“.

Volksrache nach Erstürmung der Bastille, 14.Juli ´´Eric Vuillard
Volksrache nach Erstürmung der Bastille Photograph by Rama, Wikimedia Commons,  [CC BY-SA 2.0 fr]
Im Frühling 1789, am 28. April, entschied nun ein bekannter Fabrikbesitzer in Paris, die Löhne seiner Arbeiter dramatisch zu senken, was sogleich Nachahmer fand. Die Wut über diese soziale Ungerechtigkeit – das Volk litt Hunger, Hof, Adel und Bourgeoisie verpulverte Millionen und lebte in unglaublicher Dekadenz – führte zu kleineren Aufständen und Unruhen, besonders im östlich der Bastille gelegenen Faubourg Sainte Antoine. Der König ließ daraufhin Truppen nach Paris verlegen und entließ zudem am 11. Juli den im Volk beliebten Finanzminister Jacques Necker. Ein fataler Schritt, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Nachdem bereits Zollstationen in Brand gesetzt und Waffenhandlungen geplündert wurden, setzte am 14. Juli „das Volk“ zum Sturm auf die Bastille an, um an dort gelagerte Munitionsvorräte zu gelangen. Ein spontaner Aufstand an einem heißen Julitag, eine Menschenmenge in Erregung.

Aber wer war diese „Menschenmenge“, das „Volk“? In den Geschichtsschreibungen gehen die Individuen verloren. Nur die berühmtesten Akteure bekommen ein Gesicht – Könige, Generäle, Anführer. Und doch ist es dieses „Volk“, das, gelenkt oder spontan, die Ereignisse trägt oder gar ins Rollen bringt. Éric Vuillard gibt diesen kleinen Rädchen der Revolution ein Gesicht. Oder er versucht es zumindest. Denn:

„Sein Heldenepos dauerte nur wenige Minuten“

La prise de la Bastille von Jean-Pierre Houelle (1789) via Wikimedia Commons

In Episoden und Anekdoten aus jenem 14. Juli 1789 wirft er Schlaglichter auf die Akteure, jene Sagaults, Rousseaus, Tournays und Bonnemères, die im Vergessen ruhen. Einmal stellt er eine Liste auf, die er aus der damals verfassten Aufzeichnung der „Sieger“ und der 98 Getöteten der Bastille zusammenstellt. Überhaupt gibt es wohl recht viel Quellenmaterial zu dieser Zeit, das Vuillard intensiv studiert haben mag. Ein wenig schade ist, dass es im Buch nicht genannt wird.

Das historisch Belegte füllt der Autor mit atmosphärischen Details.

„Es gilt aufzuschreiben, was man nie wissen wird. Im Grunde weiß man nicht, was sich am 14. Juli ereignet hat. Die Berichte, die wir davon haben, sind spröde oder lückenhaft. Die Dinge müssen von der namenlosen Menge aus betrachtet werden.“

Lückenhaft bleiben natürlich auch die Schilderungen von Éric Vuillard dieses 14.Juli, aber sie sind alles andere als spröde. Auch wenn sie in betont nüchternem Sprachstil verfasst sind, zeigen sie doch eine enorme Unmittelbarkeit, Drastik und sind voller Action. Häufige Szenenwechsel verraten den Filmemacher. Kommentare ergänzen die Miniaturen und werfen immer mal wieder einen Blick auf das Gesamtbild. Meist verweilen sie aber beim Kleinen, bei der scheiternden Verhandlungsmission des Anwalts Jacques-Alexis Thuriot de la Rozière, der Besteigung der Bastille durch den jungen Stellmacher Louis Tournay, dem berührenden Tod des Goldschlägers Sagault und den tragischen letzten Tagen des Revolutionärs Stanislas-Marie Maillard. Und gerade in diesen intimen Momenten gelingt dann doch etwas ganz Besonderes: empfänglich zu machen für Tatsachen, die man schon x-mal gehört hat, neue Sicht zu ermöglichen auf eines der bekanntesten geschichtlichen Ereignisse überhaupt.

Prise de la Bastille, 14.Juli Éric Vuillard
Prise de la Bastille, H. Jannin, Musée de la Révolution française [CC BY-SA 4.0] via Wikimedia Commons   Hier zeigt sich schon einiges von der Legendenbildung um den Sturm auf die Bastille. Es wurden keineswegs fürchterliche Zustände im Gefängnis vorgefunden. Lediglich sieben Gefangene fand man vor – relativ komfortabel untergebracht. Und von „Sturm“ kann eigentlich auch nicht die Rede sein, übergab der Kommandant die Bastille doch relativ kampflos

Éric Vuillard schrieb 14.Juli 2016, gut zwei Jahre bevor in Frankreich mit der „Gelbwestenbewegung“ wieder revolutionäre Stimmung aufkam. Dennoch glaubt man, im Text auch Anspielungen auf die Gegenwart zu lesen.

„Und vielleicht hört er nicht, was man ihm sagt, wie so viele Parlamentarier nach ihm, er hört nicht zu, er begreift nicht, was die Menge will, er hört nicht, was man ihm zubrüllt, denn er hat bereits seine eigenen Vorstellungen, Interessen, Ansichten. Er denkt nicht, dass die Menge etwas wissen, etwas wollen, möglicherweise sogar Recht haben kann und dass letztlich sie der Souverän ist.“

Schade, dass es am Ende dann doch noch ein wenig populistisch wird.

„Man müsste häufiger mal seine Fenster öffnen. Ab und zu, einfach so und völlig ungeplant, alles über Bord schmeißen. Das würde Erleichterung verschaffen. Man müsste, wenn das Herz uns aufwühlt, wenn die Ordnung uns erbittert und die Verwirrung uns den Atem nimmt, die Türen unserer lächerlichen Élysée-Paläste eintreten, dort wo die letzten Fesseln langsam verrotten, man müsste die Saffianleder stibitzen, die Türsteher kitzeln, die Stuhlbeine anknabbern und nachts, unter den Harnischen, nach dem Licht suchen wie nach einer Erinnerung.“

Wirklich? Glücklicherweise ist Vuillard nicht so verbittert wie unlängst Édouard Louis in seiner Kritik an den Eliten Frankreichs. Dennoch positioniert er sich natürlich eindeutig auf der Seite des „Volks“, der „Massen“, die Gegenseite wird allenfalls leicht parodistisch geschildert, etwa in der Abordnung des Hôtel de ville, die zwecks Verhandlungen Richtung Bastille unterwegs war.

Dennoch, Éric Vuillard gelingt mit seinen anekdotischen, elegant geschriebenen Geschichtsbüchern ein frischer, so unterhaltsamer wie erhellender Blick in die Historie und jedes seiner Bücher verdient unbedingt die Lektüre. 

 

Beitragsbild von WikiImages auf Pixabay

Eine weitere Besprechung findet ihr beim Leseschatz

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Eric Vuillard - 14.Juli.

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Éric Vuillard – 14. Juli
Originaltitel: 14 juillet (Französisch)
Übersetzung: Nicola Denis

Matthes & Seitz  März 2019, 136 Seiten, Gebunden, 18,00 €

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