Wenn das Buch beginnt, ist die Hauptprotagonistin bereits tot, ermordet und in einem Müllcontainer „entsorgt“. Elif Shafak wählt einen harten Einstieg in ihren neuen Roman „Unerhörte Stimmen“.
Doch was bedeutet „tot“? Neuere neurologische Forschungen haben ergeben, dass das Gehirn, nachdem der Herzschlag aufgehört hat, noch bis zu zehn Minuten aktiv sein kann. Ähnlich wie im Schlaf sendet es dann noch Deltawellen aus. Elif Shafak, meistgelesene Autorin in der Türkei, in Frankreich geborene, in Ankara aufgewachsene und seit zehn Jahren in London lebende Weltbürgerin, Doktorin der Politologie und engagierte Feministin, hat diese Meldung so fasziniert, dass sie darum herum einen Roman konstruiert hat. Was, wenn diese Zeitspanne eine Phase besonderer Wahrnehmungsfähigkeit wäre? Läuft dann wirklich der berühmte „Film“ ab? Was empfinden wir, erinnern wir in diesen letzten Minuten?
Geist
Im ersten Teil des Buches, „Geist“ betitelt, widmet Elif Shafak jeder der verstreichenden Minuten ein Kapitel. Es sind vor allem Geruch und Geschmack, die sich das sterbende Gehirn zurückholt, und die Erinnerungen heraufholen. Der Geschmack von Salz, Zitrone, Kardamomkaffee, der Geruch von scharf gewürztem Ziegeneintopf, Holzöfen und Wassermelone. Sie holen Erinnerungen aus dem Leben der Getöteten, der Prostituierten Tequila Leila, hervor.
1947 wurde sie als Tochter des recht wohlhabenden Schneiders Haroun im ostanatolischen Van geboren. Dessen erste Frau Suzan blieb lange Zeit kinderlos und auch die zweite Frau, die blutjunge Binnaz, erlitt zunächst mehrere Fehlgeburten, bis endlich die kleine Leyla das Licht der Welt erblickte. Direkt nach der Entbindung wurde sie ihrer leiblichen Mutter fortgenommen und Suzan gegeben. Binnaz war fortan nur die „Tante“. Shafaks Bücher sind auch immer solche über das Patriarchat und die Gewalt, die dieses auf die Frauen in der Türkei ausübte und die diese so oft erduldeten.
Nachdem der ersehnte Sohn endlich geboren wurde, musste Binnaz bald erfahren, dass dieser behindert ist und wohl nicht allzu lange leben wird. Haroun wendet sich aus Kummer immer mehr dem Islam zu. Bereits mit sechs Jahren sieht sich die kleine Leyla sexuellen Übergriffen durch den Onkel ausgesetzt. Als sie sich ihren Eltern offenbart, wird ihr natürlich nicht geglaubt, sondern ihre Verheiratung betrieben. Leyla ist sechzehn, als sie von zuhause fortläuft und nach Istanbul geht.
„(..)die Stadt, in der alle Unzufriedenen und Träumer irgendwann landen.“
Istanbul
Istanbul ist ein weiteres Motiv, das sich durch die Bücher von Elif Shafak zieht. Für ist es eine Stadt mit einer „weiblichen Seele“. Eine Stadt zudem der Vielfalt und der Toleranz, Dinge, die für die Autorin essentiell sind.
Leila, wie sie sich nun schreibt, erfährt aber auch die düstere Seite der Großstadt. Jung und naiv wie sie ist, gerät sie in die Fänge von Zuhältern und landet in einem Bordell. Was nun folgt ist aber keine völlig düstere Geschichte, denn Leila weiß sich mit ihrer Situation zu arrangieren, findet eine „gütige“ Bordellmutter und fünf enge Freund*innen: die transsexuelle Nostalgie-Nalan, der zarte Kindheitsfreund Sabotage Sinan, die Nachtclubsängerin Hollywood Humeyra, die aus Somalia geflüchtete Jamila und die kleinwüchsige Zaynab 122. Ja, sogar ein regimekritischer Student verirrt sich in Leilas Bordell, in ihr Bett und schließlich in ihr Herz. Die beiden heiraten 1968, doch am 1.Mai 1977 wird D/Ali auf einer Demonstration getötet und Leila steht wieder allein da und kehrt in die Prostitution zurück.
Elif Shafak ist in all ihren Büchern Anwältin der Ausgestoßenen, der an den Rand gedrängten, eine vehemente Verteidigerin von Frauen- und Minderheitenrechten. Die Freunde von Leila, die in kurzen Kapiteln mit ihrer jeweiligen Geschichte vorgestellt werden, sind alle solche von der Mehrheitsgesellschaft Ausgestoßene. Ihre Solidarität, ihre große Wärme und Menschlichkeit wird von Elif Shafak vielleicht ein wenig zu idealisiert dargestellt. Das gehört aber zu ihrem schriftstellerischen Konzept, das die Probleme und Missstände deutlich benennt und scharf anklagt, immer aber auch die Hoffnung zulässt. Und diese Hoffnung liegt für Elif Shafak nun einmal bei den Menschen, vor allem den Frauen.
„Eine der zahllosen Tragödien der menschlichen Geschichte bestand darin, dachte Nalan, dass die Pessimisten eher überlebten als die Optimisten und die Menschheit somit die Gene derer weitergab, die nicht an die Menschheit glaubten.“
Körper
Im zweiten Teil des Buches, „Körper“, machen sich die fünf Freunde daran, entgegen aller Widerstände die Leiche Leilas vom „Friedhof der Geächteten“, wohin die Leiche gebracht wurde, weil ihre Familie nichts mit ihr zu tun haben will, zu einem Bestattungsort zu bringen, der besser zu Leila passt. Einen Hang zur Romantisierung kann man Elif Shafak nicht absprechen, genauso wenig wie den zu sprachlicher Schönheit.
„Die Trauer ist wie eine Schwalbe. Eines Tages wacht man auf und denkt, sie wäre fort, aber sie ist nur anderswohin geflogen, um sich das Gefieder zu wärmen. Früher oder später kehrt sie zurück und lässt sich wieder im Herzen nieder.“
Ihre Poesie trägt bestimmt dazu bei, dass Elif Shafak zu den in der Türkei am meisten gelesenen Autor*innen gehört. Ihre kluge Beobachtungsgabe, ihr klares Urteil und ihr Eintreten für die Benachteiligten und die Unterdrückten gewiss auch. Immer wieder beleuchtet sie in ihren Romanen die oft gewaltvolle Geschichte des Nahen Ostens und die Rolle der Frau im Islam und tritt immer wieder für Toleranz, Vielfalt und Freiheit ein.
„All diese Prophezeiungen und Glaubenssätze raubten den Menschen die Sicht, brachten sie unter Kontrolle und schwächten ihr Selbstwertgefühl, bis sie sich vor allem und jedem fürchteten.“
Streitbare Autorin
Ihre Bücher haben der Autorin in der Türkei bereits einiges an Ärger. 2006 wurde ihr um ihren Roman „Der Bastard von Istanbul“ der Prozess gemacht. „Beleidigung des Türkentums“ wurde ihr vorgeworfen, da sie den Völkermord an den Armeniern thematisierte. Auch „Unerhörte Stimmen“ wird bereits wieder von der Staatsanwaltschaft geprüft, Elif Shafak, die immer wieder politische und sexuelle Tabus zur Sprache bringt, wird die Darstellung von Kindesmissbrauch vorgeworfen. Schon lange reist die Autorin nicht mehr in ihre ehemalige Heimat.
Angesichts der Düsternis und Brutalität über die Elif Shafak immer wieder schreiben muss, ist die lebensbejahende Hoffnung, die aus ihren Werken spricht, etwas, das die Gene der Pessimisten möglichst lange zu überdauern vermag.
Ihren Roman „Der Geruch des Paradieses“ habe ich auch bereits besprochen.
Beitragsbild: by Sergey Dushkin (CC BY-ND 2.0) via Flickr
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Elif Shafak – Unerhörte Stimmen
Original: 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein&Aber Mai 2019, Hardcover, 432 Seiten, 24,00 EUR
Es scheint wieder sehr vielschichtig zu sein. Wird also sicher der Nachfolger von „Der Geruch des Paradieses“, das ich sehr mochte.
Viele Grüße!
Mir hat tatsächlich „Der Geruch des Paradieses“ noch besser gefallen. Hier wird die Gemeinschaft der Ausgestoßenen manchmal ein wenig zu sehr idealisiert und zum Schluss ist es ein bisschen klamaukig. Aber dennoch ein sehr gutes Buch und Shafak einfach eine tolle Autorin. Liebe Grüße!
Da setzt du mir doch schon wieder einen Roman auf die Leseliste! Und machst wiederum auf eine offensichtlich interessierte Autorin aufmerksam.
Liebe Grüße, Claudia
Übrigens: Der Brunetti ist schon eingezogen ?.
Liebe Claudia, das mache ich doch so gerne 😉 Und viel Spaß in Venedig, ich hoffe, es gibt ein freudiges Wiedersehen! LG