Der Juni war erneut ein sehr positiver Lesemonat. Sehr unterschiedliche und gute Bücher darunter. Nur Frantumaglia hat mich ein wenig unzufrieden zurückgelassen. Hier meine Lektüre Juni 2019:
Zu Beginn des Jahres wurde mit der Debatte um Takis Würgers „Stella“-Roman der Fall der jüdischen „Greiferin“ Stella Goldschlag auf einen Schlag berühmt, durch die intensive Werbekampagne Stella allenthalben. Ich mochte bislang nichts dazu beitragen. Aber nun zu diesem Buch.
Peter Weyden war in den Jahren von 1935 bis 1937 ein Klassenkamerad von Stella Goldschlag an der Goldschmidt Schule und wie alle Jungen der Schule, wie er schreibt, in das bildhübsche, strahlende Mädchen verliebt. 1937 emigrierte er mit seinen Eltern in die USA und kehrte 1945 als Angehöriger einer Spezialeinheit für psychologische Kriegsführung der US Army nach Deutschland zurück. Durch Zufall hörte er von der „Greiferin“, die er alsbald als seine ehemalige Klassenkameradin Stella identifizierte. Seine Neugier war geweckt. Wie war es möglich, dass das behütete Einzelkind Stella, der intelligente, umschwärmte „Star“ der Schule, das Mädchen mit der großen Ausstrahlung und dem enormen Selbstbewusstsein zu einer Frau wurde, die zusammen mit anderen Juden, allesamt wie sie mit äußerst „arischem“ Aussehen, gnadenlos Hatz auf untergetauchte Juden machte, diese denunzierte, teilweise selbst verhaftete und der Deportation und damit dem nahezu sicheren Tod auslieferte?
Ein Thema, das den Journalisten Peter Weyden über Jahrzehnte nicht losließ. Er konsultierte Archive, stöberte in Akten und Protokollen, die nach Kriegsende bei den zweimaligen Anklagen gegen Stella Goldschlag verfasst wurden (zehn Jahre Straflager wurde von einem sowjetischen Militärtribunal verhängt, weitere zehn Jahre, deren Verbüßung aber durch die erste Strafe als abgegolten angesehen wurde, durch ein deutsches Gericht), führte unzählige Interviews mit Zeitzeugen. Weydens Spurensuche, die von der großen Faszination gespeist wurde, die Stella auf sein jüngeres Ich ausübte, und die immer mit autobiografischen Bezügen versehen wird, verknüpft auf eindrucksvolle Weise das Einzelschicksal mit den gesellschaftlichen Zusammenhängen im Deutschland der Dreißiger und Vierziger Jahre, den historischen Ereignissen und dem politischen Kontext. Er zeigt darin sowohl großes Einfühlungsvermögen als auch eine enorme Fähigkeit zur Differenzierung. Stella Goldschlag – Eine wahre Geschichte
In Bell und Harry erzählt die bei uns erst sehr spät mit ihrer Old-Filth-Trilogie bekanntgewordene Jane Gardam über das Landleben in North Yorshire und zwei Jungen, die sich dort kennenlernen. Die neun Geschichten sind chronologisch angeordnet, aber nur lose miteinander verbunden. In der ersten erzählt der achtjährige Dorfjunge Bell selbst von seiner Begegnung mit dem etwas jüngeren Stadtkind Harry. Bis auf die letzte, sind danach alle in der personalen Perspektive erzählt. Sie erzählen in unregelmäßigen Zeitsprüngen von einem Angelausflug im strömenden Regen, einer beinahe schief gegangenen Expedition in einen unterirdischen Stollen und einem Fahrrad-Eis-Ausflug, von der „Eier-Hexe“ und ihrer alten Mutter und wie Jimmy Meccer auf dem Pferdemarkt in Appleby unerwartet reich wurde. Am Ende sind die Jungen im Teenageralter, bevor die letzte Geschichte einen großen Sprung in die Zukunft macht. Diese letzte Geschichte hat mich nicht überzeugt. Sie spielt im Jahr 1990, bei Veröffentlichung des Buches 1981 also Zukunft. Alle anderen Geschichten sind sehr schön erzählt, freundlich, und doch mit dem Gardam typischen britischen Humor. Deshalb eine Empfehlung!
Wenn das Buch beginnt, ist die Hauptprotagonistin bereits tot, ermordet und in einem Müllcontainer „entsorgt“. Elif Shafak wählt einen harten Einstieg in ihren neuen Roman „Unerhörte Stimmen“.
Doch was bedeutet „tot“? Neuere neurologische Forschungen haben ergeben, dass das Gehirn, nachdem der Herzschlag aufgehört hat, noch bis zu zehn Minuten aktiv sein kann. Ähnlich wie im Schlaf sendet es dann noch Deltawellen aus. Elif Shafak, meistgelesene Autorin in der Türkei, in Frankreich geborene, in Ankara aufgewachsene und seit zehn Jahren in London lebende Weltbürgerin, Doktorin der Politologie und engagierte Feministin, hat diese Meldung so fasziniert, dass sie darum herum einen Roman konstruiert hat. Was, wenn diese Zeitspanne eine Phase besonderer Wahrnehmungsfähigkeit wäre? Läuft dann wirklich der berühmte „Film“ ab? Was empfinden wir, erinnern wir in diesen letzten Minuten?
Im ersten Teil des Buches, „Geist“ betitelt, widmet Elif Shafak jeder der verstreichenden Minuten ein Kapitel und erinnert aus der Sicht Leilas ihre Kindheit, Jugend, ihr kurzes Glück und die Zeit im Bordell. Im zweiten Teil des Buches, „Körper“, machen sich fünf Freunde Leilas daran, entgegen aller Widerstände die Leiche vom „Friedhof der Geächteten“, wohin sie gebracht wurde, weil ihre Familie nichts mit ihr zu tun haben will, zu einem Bestattungsort zu bringen, der besser zu Leila passt.
Ein schönes, liebevolles Buch, das mit scharfer Kritik nicht spart. Typisch Elif Shafak. Unbedingt lesen!
Daniel Mendelsohn, der an der University of Virginia und in Princeton klassische Philologie studiert hat und auch selbst unterrichtet, hat die Odyssee nun als Gerüst für eine wunderbare, anrührende Vater-Sohn-Geschichte verwendet.
2010 bittet ihn sein 81jähriger Vater Jay, an seinem Odyssee-Seminar teilnehmen zu dürfen, dass Mendelsohn am Bard College hält. Der äußerst rüstige Alte nimmt jeden Donnerstag eine mehrstündige zunächst Auto-, dann Zugfahrt auf sich, um unter den jungen Studenten seinem Sohn zu lauschen. Doch nicht nur zu lauschen, wie zunächst versprochen. Jay ist eigensinnig genug, um Daniel mit seinen klugen, oft widerspenstigen Fragen zu verblüffen und zeitweise in die Enge zu treiben. Der Leser*in wird so auf wunderbare Weise die Odyssee nahegebracht – auch ganz ohne Vorkenntnisse. Aber damit nicht genug. Nach Ende des Seminars machen sich Daniel und Jay auf zu einer Kreuzfahrt „Auf den Spuren des Odysseus“. Der Bericht über diese Reise durch die Ägäis ist vielleicht der schönste Teil eines schönen Buchs.
Hervorragend komponiert, angelehnt an die Ringkomposition der Odyssee, elegant geschrieben und äußerst klug, geistreich und anregend, ist Mendelsohns „Odyssee“ eines schönsten Bücher, die ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.
In „Frantumaglia – Mein geschriebenes Leben“ sind Briefe, Aufzeichnungen und Interviews, die die von der Öffentlichkeit völlig zurückgezogen unter Pseudonym veröffentlichende Elena Ferrante zwischen 1991 und 2016 verfasst hat, versammelt. Ein Einblick in ihr Schreiben und den persönlichen Hintergrund, der Grundlage ihrer Werke geworden ist. Ein Buch für Kenner ihrer Texte und Fans. Mich hat es eher unbefriedigt zurückgelassen. Ich hätte gerne mehr über die Autorin und das Leben in Neapel erfahren, die Interviews sind naturgegeben oft etwas redundant und die Stellungnahmen zu den Texten zu detailliert.
Jedes Jahr im Mai ist Brunetti-Zeit. Zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk liefert Donna Leon einen ihrer Venedig-Krimis mit dem nachdenklichen, kultivierten Commissario aus Venedig ab. „Ein Sohn ist uns gegeben“ ist mittlerweile der achtundzwanzigste. Nach zehn Jahren Brunetti-Pause habe ich vor zwei Jahren wieder begonnen, in den Kosmos von Guido, Paola, Chiara und Raffi, von Vize-Questore Patta und Signorina Elettra einzutauchen. Und siehe da – es macht wieder viel Spaß. Wer die heruntergedimmte Spannung der Brunetti-Krimis mag, wird auch Freude am neuen Fall haben, der um die Adoption eines zwielichtigen Vierzigjährigen durch den hochbetagten und ungeheuer vermögenden Gonzalo Rodriguez Tejada, seines Zeichens ein alter Freund von Brunettis Schwiegervater, den Conte Falier, kreist.
Nun werden im Juli noch ausschließlich Frühjahrstitel gelesen, bevor die Herbstnovitäten und vor allem die norwegischen Bücher zum Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse an der Reihe sind. Ihr dürft gespannt sein, es sind ganz vielversprechende Texte darunter und ich freue mich darauf, sie hier vorzustellen. Bis dahin, genießt noch den Sommer!