Rezension – Maxim Leo „Wo wir zu Hause sind – Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“ ist eines jener Bücher, die mir beinahe entgangen wären. Als Kolumnist und Krimiautor stand Leo nicht auf meiner Liste beachtenswerter Autoren, obwohl er 2009 bereits eine hochgelobte Familiengeschichte veröffentlicht hat, „Haltet euer Herz bereit“.
1970 in Ost-Berlin geboren, kam der Autor wohl auf der Hochzeitsfeier seines Bruders in einem brandenburgischen Herrenhaus, zu der die weitverzweigte Familie nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Österreich, Frankreich, England und Israel angereist war, auf die Idee zu diesem Buch. Leo, für den nach eigenem Bekunden Familie immer etwas war wo „vier Menschen um einen Tisch sitzen“, spürte einmal mehr, dass seine Familie nicht eine der „typischen“ ostdeutschen Familien ist und war und wollte ihrer Geschichte genauer nachforschen.
Schon als Kind wusste er von seinen Verwandten „in der Welt“, die die Leos in der DDR hin und wieder besuchten. So viel spannender als Berlin-Lichterfelde kamen bereits dem kleinen Maxim die Wohnorte der anderen Familienmitglieder vor: London, Wien, die Bourgogne, Haifa. Ein wenig zornig war er sogar auf seinen Großvater, weil ausgerechnet der nach dem Krieg nach Berlin zurückkehrte, um „den Sozialismus aufzubauen“.
Flucht aus Deutschland
Denn fast die komplette Familie Leo musste nach der Machtergreifung Hitlers Deutschland verlassen. Nicht nur, weil viele von ihnen in kommunistischen und sozialistischen Organisationen tätig waren, sondern weil die Familie „jüdisch“ war. Während der Kommunismus für das Kind ein Begriff war – schließlich lebte es in der DDR – konnte es mit „jüdisch“ zunächst wenig anfangen. Die Familie Leo war schon lange vor 1933 zum evangelischen Glauben konvertiert, Religion spielte kaum keine Rolle. Von Beruf Ärzte oder Juristen, gut situiert und vernetzt, mit vielen Geistesgrößen der damaligen Zeit bekannt und, wie gesagt, durch politische Aktivitäten schon früh auf den Listen der Nazis, gelang es nahezu allen Familienmitgliedern, nach teilweisen Verhaftungen, Misshandlungen und KZ-Aufenthalten, Deutschland noch rechtzeitig zu verlassen.
Maxim Leo folgt ihren Wegen und konzentriert sich dabei auf drei Frauengestalten: auf seine Großtante Ilse und deren beide Cousinen Hilde und Irmgard. Über seinen Großvater Gerhard, den Bruder Ilses, schrieb er bereits in „Haltet euer Herz bereit“, die andere Großtante, Edith, die ein gänzlich anderes Schicksal hatte, da sie, die Halbjüdin, einen deutschen Offizier heiratete und mit ihrer arischen Mutter „heim ins Reich“ ging, wird nur am Rande erwähnt. Das ist ein wenig schade, da ich es sehr interessant gefunden hätte, wie es ihr als Halbjüdin gelang, auf die Seite des Todfeindes zu wechseln. Vielleicht ist dies dem Autor aber selbst nicht bekannt.
Zur Rekonstruktion der Lebenswege von Irmgard, Hilde und Ilse hat der Autor vor allem viele Gespräche innerhalb der Familie geführt, Fotos, Briefe angeschaut, Reisen unternommen und Archive gewälzt.
Warmherzige Familiengeschichte
Herausgekommen ist eine sehr gut konstruierte, berührende, warme Familiengeschichte im Ton einer Reportage. Mit sehr viel Einfühlungsvermögen und zurückhaltend erzählt er die Geschichte von Frieda und Wilhelm, die mit ihrem Sohn Gerhard von einem Schleuser nach Belgien gebracht wurden und von da nach Paris flohen. Die beiden Töchter Ilse und Edith sollten zunächst bei der arischen „Omi Reifenstein“ in Hamburg abwarten, bis die Eltern sich eingerichtet hätten. Das wurde recht knapp für die beiden, nur durch einen mitfühlenden Beamten und die Energie der Großmutter gelang ihnen 1934 die Ausreise, die ihnen eigentlich als Kinder eines von den Nazis „Gesuchten“ (er hatte einst als Anwalt einen Prozess gegen Joseph Goebbels gewonnen) verwehrt war.
Ilse war damals 15, ihre Cousinen Hilde und Irmgard bereits 22 und 26. Hilde war mit dem bei den Kommunisten engagierten Nervenarzt Fritz Fränkel verheiratet, Irmgard mit Hans liiert, der wie sie frisch aus der juristischen Fakultät Berlin ausgeschlossen wurde. Für alle war klar, dass sie Deutschland baldigst verlassen mussten.
1935 trifft sich die Familie ein letztes Mal im Jardin du Luxembourg in Paris. Danach zerstreuen sie sich.
Neuanfang in der Fremde
Hilde gelingt es, Visa für Großbritannien zu erhalten, sie zieht mit ihrem kleinen Sohn André nach London. Zuvor hat sie mit Fränkel in der berühmten Rue Dombasle Nr. 10 gewohnt, wo auch Walter Benjamin und Arthur Köstler untergekommen waren, Hannah Arend, Klaus Mann und Gisele Freund gingen ein und aus. Die Ehe mit Fränkel scheiterte an Affären und seinem Drogenkonsum. Einst Schauspielerin, verdingt Hilde sich in England recht erfolgreich als Fotografin und durch geschickte Immobilienkäufe schafft sie es sogar zu Reichtum. Nach dem Krieg wird sie nach Chicago gehen.
Irmgard folgt nach einigem Zögern Hans, der sich mittlerweile für den Zionismus engagiert, nach Israel. Im Kibbuz werden die beiden die Namen Nina und Hanan annehmen und eine Familie gründen.
Ilse geht zunächst als Haustochter zu einer vermögenden Familie nach Lyon, wird aber schließlich von den Französischen Behörden im Lager Gurs in den Pyrenäen interniert. Dort lernt sie als Krankenschwester den österreichischen Arzt Heinz kennen und folgt ihm in die Résistance. Nach dem Krieg ziehen sie nach Wien.
Wo wir zu Hause sind
Die Ruhelosigkeit dieser Familie wird von Maxim Leo durch viele Schwenks von der damaligen Zeit zum Heute, zu den Gesprächen mit den Angehörigen und der Recherche, und durch Aneinanderreihung der verschiedenen Lebensgeschichten unterstrichen, ohne dass dies den Lesefluss stört. Immer wieder macht der Autor deutlich, dass der Ort „wo wir zu Hause sind“ letztlich ein selbstbestimmter ist und gleichzeitig etwas wenig Eindeutiges.
So wie er selbst an Orten, an denen er noch nie war und zu Menschen aus seiner Familie, die er noch nie getroffen hat, ein ungeheures Zugehörigkeitsgefühl empfinden kann, so beschreibt er auch, wie Orte, die man als Heimat empfindet, fremd werden können. So beispielsweise den Kindern und Enkeln Irmgards das heutige Israel mit seiner unbarmherzigen Politik gegenüber den Palästinensern. Zwei seiner israelischen Verwandten haben mittlerweile ihr Zuhause in Berlin gefunden. Oder Onkel André, eigentlich Brite durch und durch, der angesichts des Brexits wieder einen deutschen Pass beantragt hat.
Ich bin dieser so liebevoll wie nachdenklich erzählten Familiengeschichte gern gefolgt und sehr froh, dieses Buch entdeckt zu haben.
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Maxim Leo – Wo wir zu Hause sind – Die Geschichte meiner verschwundenen Familie
Kiepenheuer & Witsch Februar 2019, 368 Seiten, gebunden, 22,00 €
Waren nicht alle drei Kinder, die aus der Ehe von Wilhelm Leo mit Frieda, geb. Barents, hervorgingen, nach der Definition der Nazis „Halbjuden“, nicht nur Edith, von der Sie das hervorheben, sondern auch Gerhard und Ilse Leo? Wobei alle drei nach jüdischem Verständnis keine Juden sind, da sie keine jüdische Mutter haben.
Natürlich sind alle drei Kinder von Wilhelm Leo nach der Nazi-Definition Halbjuden. Bei Edith habe ich das nur herausgehoben, da sie ja einen deutschen Offizier heiratete und nach Deutschland zurückkehrte. Was bestimmt für sie als Halbjüdin mit besonderen Umständen verbunden war – was mich interessiert hätte. So war die Betonung von Edith als Halbjüdin gemeint.