Die französische Autorin Maylis de Kerangal ist trotz zahlreicher Auszeichnungen in ihrer Heimat beim Lesepublikum in Deutschland noch relativ unbekannt. Daran änderte weder der Gastlandauftritts Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse 2017 etwas noch die Nominierung ihres 2015 erschienenen Romans „Die Lebenden reparieren“ für den Man Booker International Prize. Mit Eine Welt in den Händen liegt nun der siebte Roman von Maylis de Kerangal vor.
Die Lebenden reparieren war für mich eine derart eindrückliche Lektüre, dass der neue Roman sogleich auf meiner Wunschliste der Neuerscheinungen landete. Während mich allerdings das Thema „Auswirkungen einer Organtransplantation auf die Beteiligten, Eltern des früh verunfallten Spenders sowohl wie die Organempfänger in einer Art 24 Stunden Protokoll“ sehr interessiert hatte, war ich beim neuen Buch zunächst skeptisch.
Die Geschichte von Paula Karst und zwei Kommilitonen am Brüsseler Institut de peinture führt tief hinein in die Welt der Dekorationsmalerei, des Kunsthandwerks, des Tromp l´œil, also der Illusionskunst, der Nachahmung von Materialien, Marmor etwa oder Holz und Beton, mithilfe der Malerei. Natürlich stehen auch Fragen zum Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion, Fakt und Fiktion damit zur Debatte. Aber kann mich das wirklich über einen Roman von fast 300 Seiten fesseln?
Um es gleich zu verraten, es kann. Zwar musste ich mich zu Beginn schon durch die eine oder andere ausufernde Detailfreudigkeit zum Thema Malerei hindurchkämpfen, aber Maylis de Kerangal ist eine derart gute Autorin, dass sie ihre Leser*innen dennoch bei der Stange halten kann.
Institut de peinture, Brüssel
Paula und ihre Kommilitonen, der hochtalentierte Jonas und die exzentrische Schottin Kate sind 2007 Anfang 20, als sie in der Kunstschule in Brüssel bei einem Intensivseminar für Dekorationsmalerei zusammentreffen. Für Paula, die mit Jonas eine Wohngemeinschaft bildet, ist es der erste größere Abnabelungsprozess von ihrem Pariser Elternhaus. Maylis de Kerangal hat mit Eine Welt in den Händen damit auch einen Entwicklungsroman, neudeutsch einen Coming-of-age-Roman, geschrieben. Das Seminar wird für die Studenten eine intensive Schule des Sehens, die auch ihren Blick auf die Welt verändern wird. Paula selbst leidet unter Exotropie, also dem Auswärtsschielen eines Auges, was ihr Sehen gleichzeitig verrückt und fokussiert.
Nach einem halben Jahr gehen die drei wieder auseinander und jeder von ihnen wird sich von Auftrag zu Auftrag weiterhangeln, eine weitgehend prekäre Existenz als Dekorationsmaler*in führen. Für Paula bedeutet das beispielsweise einen Auftrag für die Renovierung eines Pariser Stadtpalais, wo hinter Putz ein Fresko auftaucht, oder Kulissenmalerei für einen Film von Nanni Moretti in der Cinecittà in Rom, vielleicht dem Ort der Illusionskunst überhaupt, der seine Blütezeit in den 50er und 60er Jahren mit Fellini, Rosselini, den „Sandalen“filmen und Italowestern längst hinter sich hat.
Paris 2015
Zu Beginn des Jahres 2015 treffen die drei Studenten in Paris zusammen. Dies sind die Erzählgegenwart und die Ausgangslage des Romans. Paula ist gerade von einem dreimonatigen Auftrag in Moskau zurück, wo sie Filmkulissen für eine Anna Karenina-Verfilmung malte. Jonas bietet ihr einen interessanten Auftrag an, den er selbst nicht annehmen konnte.
Dieser neue Auftrag führt Paula nach den Nomadenjahren zurück nach Frankreich, wo sie bei der Nachbildung der berühmten Höhlen von Lascaux mitwirken soll. „Die sixtinische Kapelle der Vorzeit“ mit ihren nach unterschiedlichen Datierungen 17.000 und 15.000 v. Chr bzw. 36.000 – 19.000 v. Chr entstandenen Höhlenzeichnungen ist seit 1963 für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich. Nachdem sie 1940 zufällig entdeckt wurden standen die Höhlen zunächst für Besucher offen. Die Atemluft schädigte die Wandmalereien aber derart, dass man sich zur Schließung der seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählenden unterirdischen Schätze entschloss.
Die Konfrontation mit den Zehntausende Jahre alten Zeichnungen verrückt Paulas Blick auf die Welt ein weiteres Mal. Da geschehen die mörderischen Anschläge in Paris: „Die Ermordung der Zeichner“, der Anschlag auf Charlie Hebdo.
Maylies de Kerangal hat einen Künstlerroman geschaffen. Aber keinen, der in die genialischen Höhen der Malerei führt, sondern vielmehr in die sorgfältige, exakte Welt des Kunsthandwerks. Die Leidenschaft und die Hingabe an diese Leidenschaft sind die gleichen. Neben vielen kleinteiligen Details aus der Welt der Malerei, die man hin und wieder überlesen muss, zaubert sie mit Eine Welt in den Händen ein eindrückliches Bild von dieser Leidenschaft und einen intensiven Entwicklungsroman – präzise erzählt, elegant und bei all dem auch noch sehr unterhaltsam. Höchste Zeit, Maylis de Kerangal für sich zu entdecken.
Beitragsbild via Pxhere
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Maylis de Kerangal – Eine Welt in den Händen
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp Juni 2019, Gebunden, 269 Seiten, € 22,00
Sollte und werde ich unbedingt lesen. Habe allerdings noch „Die Lebenden reparieren“ vor mir. Der Name der Autorin bleibt also definitiv in Erinnerung. Viele Grüße