Alphonse ist 40 und eigentlich Musiker. Warum es mit der Musik nicht so recht geklappt hat, erzählt uns Annelies Verbeke in ihrem Roman „Dreissig Tage“ nicht genauer. Aber Alphonse ist mit seinem neuen Job ganz zufrieden. Er renoviert Häuser und Wohnungen, mal ein neuer Fußboden hier, mal ein neuer Anstrich dort. Über mangelnde Angebote muss er sich nicht beklagen. Das liegt nicht nur an seiner Fachkenntnis und Zuverlässigkeit, sondern auch an einer ganz persönlichen Tugend: Alphonse versteht es zuzuhören und Zuversicht auszustrahlen. Mit seiner gutmütigen, den Menschen zugewandten Art öffnet er die Herzen seiner Kunden. Und bekommt so die absonderlichsten Geschichten erzählt.
Schräge Charaktere
Da sind die beiden verfeindeten Nachbarspaare, die sich gegenseitig den unglaublichsten Verdächtigungen aussetzen, dabei sind die beiden halbwüchsigen Töchter beste Freundinnen, und auch die Eltern stehen sich nicht so fern wie vermutet. Oder die ältere Dame, die einst als Kind ihren Babybruder fallen lassen hat, und ihn noch heute in seinem einstigen Zimmer schreien hört. Die Autorin, die erotische Geschichten schreibt oder der Übersetzer, der eine allzu starke Liebe zu Schmetterlingen hegt. Und da ist noch Marco, der um seinen langjährigen Lebenspartner trauert, der ihn wegen eines Anderen verlassen hat, und sich um seinen Nachbarn Gewijde sorgt. Dieser ist, seitdem er als Junge missbraucht worden ist, „ein wenig aus dem Lot“. Schließlich ist da noch Alphonses eigener Nachbar, der alte Willem, dessen Frau unlängst gestorben ist, und der mit seiner merkwürdigen Leidenschaft für den Ersten Weltkrieg und besonders für dessen Kriegsgräber und die „Senegalschützen“ Aufmerksamkeit verlangt.
Für Alphonses Frau Kat sind das viel zu viele Forderungen, die an ihn gestellt werden. Die Menschen saugten ihn aus, für sie bliebe viel zu wenig Raum. Dabei ist Alphonse ein glücklicher Mensch, scheint es. Er hat eine äußerst positive Lebenseinstellung, viel Empathie und viel guten Willen.
Rassismus
Nur eine Sache bringt ihn gelegentlich gehörig auf, und zwar, wenn er sich selbst grundlosen Anfeindungen gegenüber sieht. Und das kommt gar nicht so selten vor, denn Alphonse stammt aus Afrika, aus dem Senegal. Und rassistische Gesinnungen gibt es auch in Westflandern, wo er mit Kat ein kleines Haus auf dem Land bewohnt. Besonders seit der großen Fluchtwelle, seitdem neben Afrikanern auch zunehmend Syrer in der Hoffnung auf Asyl oder die Flucht über den Ärmelkanal nach Großbritannien ihre Zelte aufschlagen und es auch unter den beiden Gruppen zu Spannungen kommt.
Wir Leser*innen dürfen Alphonse über die besagten „Dreissig Tage“ mit Annelies Verbeke begleiten, in einem Countdown. Wir fahren mit ihm zur Arbeit, lauschen den Geschichten seiner Kunden, teilen seine Zeit mit Kat, sind dabei, wenn er mit der Ärztin Brigitte Hilfsgüter zu den Flüchtlingen bringt, wenn er seinen Freund Amadou nach vielen Jahren wiedertrifft und teilen seine Liebe zum stürmischen Portugiesischen Wasserhund Björn. Lauter kleine Dinge. Aber wie heißt es im Roman:
„Weil so wenig passiert, bekommt alles, was tatsächlich passiert, eine wunderliche Aura, es verlangt nach einer schärferen Aufmerksamkeit.“
Schöner Roman
Dabei geschieht so einiges im Roman. Es wird nur so ruhig und entspannt erzählt wie man sich Alphonses Gemüt vorstellen mag. Manchmal ist die Situation oder Geschichte gar zu absonderlich, manchmal, denkt man, geradezu banal, aber schon sehr bald merkt man, dass sich Alphonse und die anderen Charaktere bereits ins Herz der Leser*in geschlichen haben und dass man sie gerne noch eine Weile begleiten möchte. Deshalb kommt der letzte Tag überraschend, vielleicht vorhersehbar, aber doch unerwartet. Und wieder einmal steht man ungläubig und erschüttert vor den Abgründen, die sich in der menschlichen Gesellschaft auftun.
Annelies Verbeke ist ein schöner Roman über Mitmenschlichkeit und Unmenschlichkeit, Liebe und Hass, Zuversicht und Verzweiflung gelungen.
Weitere Besprechungen findet ihr bei Birgit auf Sätze & Schätze und Constanze bei Zeichen & Zeiten
Beitragsbild by Zairon [CC BY-SA 4.0] via Wikimedia Commons
_____________________________________________________
*Werbung*
.
Annelies Verbeke – Dreissig Tage
aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Gressmann
Residenz Verlag Februar 2019, gebunden, 344 Seiten, € 22,00
Liebe Petra,
jetzt hatte ich endlich Zeit deine ganze Rezension zu lesen und bin begeistert! Das Buch liegt schon neben mir und wird als nächstes gelesen. Habe noch größere Vorfreude nun. Der Klappentext hatte mich schon überzeugt aber deine Worte beschreiben ein außergewöhnliches, etwas anderes Buch, das man gelesen haben muss. Ich werde berichten, wie es mir gefallen hat.
GlG und eine schöne Woche,
monerl
Ich bin gespannt. Ich fand das Buch, wie gesagt sehr gelungen. Einzig die Sex-Fantasie in der Mitte hat mich ein wenig gestört. Aber vllt. bin ich da ein wenig empfindlich. Liebe Grüße und viel Spaß!
Auf solche Szenen oder Fantasien stehe ich auch nicht unbedingt. Bin schon gespannt, was mich da erwartet! 🙂 Habe gestern begonnen und bisher gefällt es mir sehr gut.