Friedrich Ani ist unzweifelhaft einer der bedeutendsten Krimiautoren Deutschlands. Seine Bücher verkaufen sich nicht nur gut und sind in den Bestsellercharts vertreten, sondern sie erhalten auch höchstes Lob der Literaturkritik. Allein der Deutsche Krimipreis ging seit 2002 sechsmal an Ani. Zugleich ist er ungeheuer produktiv. Mehr als 30 Kriminalromane, davon allein 21 mit seiner Hauptfigur Tabor Süden, Jugendromane, Drehbücher, Hörspiele – immer wieder einmal fällt das Stichwort „deutscher Simenon“. Nun ist ein ganz besonderer Roman von Friedrich Ani erschienen: All die unbewohnten Zimmer.
Ganz besonders nicht nur durch seinen Umfang, eher ungewohnt zahlreiche 494 Seiten, sondern auch durch sein Figurenensemble. Hier treten sie nämlich alle zusammen auf, die vertrauten Ani-Gestalten, allen voran die bekannteste: Tabor Süden. Seit 1998 „ermittelt“ er. Ermittelt in Anführungszeichen, denn bei Tabor Süden handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Kommissar oder Detektiv. Süden fahndet nach Personen. Zunächst als Leiter der Vermisstenstelle der Münchner Polizei, später als Mitarbeiter der Detektei von Edith Liebergesell, spezialisiert auf die Suche nach verschwundenen Menschen. Im letzten Ani Roman von 2018, „Der Narr und seine Maschine“, ging Tabor Süden, gezeichnet von einigen persönlichen Schicksalsschlägen, dem Brandanschlag auf die Detektei, dem Selbstmord seines Freundes, sich irgendwie selbst verloren. Eine Fortsetzung der Reihe schien zumindest ungewiss.
Polonius Fischer und Jakob Franck
Zwei weitere Ani-Ermittler geistern durch „All die unbewohnten Zimmer“: einmal Polonius Fischer, ehemals Benediktinermönch und nun Leiter des Teams für Mordermittlungen, des K111, oder auch die „12 Apostel“ genannt, nicht nur wegen der Vergangenheit ihres Chefs, sondern auch durch den Brauch, das Mittagessen gemeinsam am Tisch einzunehmen und sich dabei vorlesen zu lassen. Und dann ist da noch der pensionierte Kommissar Jakob Franck, dem die Ex-Kollegen gerne noch die Übermittlung von Todesnachrichten an die Angehörigen von Mordopfern überlassen. Keine Aufgabe, um die man sich reißt. Und außerdem hat Franck einen besonderen Draht zu Verstorbenen. Zuletzt begegneten wir Franck in der Ermordung des Glücks von 2017.
Es sind eigenwillige, gebrochene Ermittler, die Friedrich Anis Bücher bevölkern. Sie scheinen alle ein wenig der Welt und sich selbst verloren gegangen. Sie sind Einzelgänger und sie umweht eine tiefe, existentielle Einsamkeit. Darin unterscheiden sie sich kaum von den Opfern und den Tätern. Und sie verfolgen alle seltsame Fahndungsmethoden. Das macht den leicht schrägen, düster-melancholischen Ton der Ani-Krimis aus.
Fariza Nasri
Zu ihnen passt auch die vierte Ermittler-Figur, Fariza Nasri. Auch sie ist versehrt. Vor sechs Jahren musste sie die damals von ihrem Mentor Jakob Franck geleitete Mordabteilung verlassen, nachdem ihr von ihrem Kollegen Gorden sexuelle Belästigung (!) vorgeworfen wurde. Nach Jahren der Strafversetzung in die Provinz hat sie nun der neue Mordermittlungsleiter Fischer wieder nach München geholt. Hier begegnet sie, die einzige Ich-Erzählerin des Romans, gleich in der Anfangsszene auf der Polizeidienststelle Tabor Süden. So beiläufig wie hier verlaufen alle Begegnungen zwischen den Figuren und zerstreuen alle Bedenken, die man als Ani-Leser*in vielleicht hinsichtlich Gewolltheit oder Konstruiertheit der Zusammenführung der vertrauten Ani-Protagonisten haben könnte.
„Meine Gedanken hüpften um die Gestalt im Türrahmen unserer Dienststelle; ein Mann ungefähr in meinem Alter, weißes Baumwollhemd, Lederjacke, schwarze Jeans, schwarze, staubige Halbschuhe; unwesentlich größer als ich; graue Wollmütze; fast schulterlange Haare, grüne Augen; mehr Bauch als Ansatz; Halskette mit einem türkisfarbenen Amulett; einer, den man nicht kommen hört.“
Zwei Mordfälle
Ja, das ist er, so erkennt ihn die erfahrene Ani-Leserin, da steht Tabor Süden. So wie Jakob Franck immer seine Ledertasche mit sich herumschleppt, und Polonius Fischer seinen Wollmantel. Vielleicht macht es tatsächlich noch ein klein wenig mehr Spaß, dieses Buch zu lesen, wenn man bereits andere Ani-Bücher kennt. Aber nötig ist das nicht. Friedrich Ani stellt seine Figuren und ihre Vorgeschichten in „All die unbewohnten Zimmer“ geschickt und unangestrengt auch dem Neuling vor.
Es sind zwei Mordfälle, um die sich die Ermittler teils von unterschiedlichen Richtungen und unabhängig voneinander kümmern müssen. Der erste davon, eine Schießerei, bei der eine Frau stirbt und ein Polizist verletzt wird, ist nach achtzig Seiten aufgeklärt. Der zweite Fall, bei der am Rande einer Demonstration von Rechtsradikalen ein Polizist erschlagen wird, gestaltet sich schwieriger. Weil sie keine schnellen Ergebnisse liefern kann, wird der Fall der SoKo von André Block, auch ein Bekannter aus dem Ani-Universum, entzogen. Polonius Fischer und seine Mannschaft sollen nun schnelle Ermittlungsergebnisse liefern. Zwei Flüchtlingskinder wurden am Tatort gesehen, die Gerüchteküche brodelt. Derweil arbeiten die Ermittler bis zum Showdown aufeinander zu.
Die Krimis von Friedrich Ani sind, wie erwähnt, hoch gelobt und erfolgreich. Gewöhnliche Krimikost sind sie nicht. Und so werden vielleicht zahlreiche Freunde von herkömmlicher Spannungsliteratur eher enttäuscht sein, wenn sie dazu greifen. So wenig wie Action steht die Aufklärung von Verbrechen für Ani im Mittelpunkt.
Der Kriminalroman als Spiegel der Gegenwart
In einem, auch bei Wikipedia nachzulesenden Zitat äußert sich Friedrich Ani wie folgt:
„Der Kriminalroman zwingt zum Hinschauen in die Gegenwart, das Drama des in seinem Lebenszimmer gefangenen Menschen gelingt mir mit dem Krimi am besten, ohne dass es mir auf Mord und Totschlag und spektakuläre Plots ankäme. In meinen Krimis bestimmen die Langsamkeit und das Schweigen den Handlungsablauf, wobei ein gewisses Maß an genreüblicher Spannung unerlässlich bleiben muss. Darüber hinaus lassen sich im Genre Krimi immer wieder neue Türen öffnen. So beschäftige ich mich fast ausschließlich mit Verschwundenen und Vermissten und der Suche nach ihnen.“
Komplexer Aufbau
Man braucht als Leser*in schon einen gewissen Atem, um dem mit Vor- und Rückblenden und zahlreichen Perspektivwechseln komplex gebauten und langsam voranschreitenden Roman zu folgen. Seinem Tiefsinn und seiner Düsternis setzt Ani immer aber auch einen feinen Humor entgegen und eine große Zuneigung zu seinen gebrochenen Figuren. Die Menschen in seinen Büchern sind alle vom Leben und der Gegenwart ge- oft sogar überfordert. „Hinter blinden Fenstern“ (so ein anderer Ani-Titel) oder eben in „All den unbewohnten Zimmern“, hinter den Fassaden, dem alltäglichen Funktionieren, lauern bei Friedrich Ani immer die seelischen Abgründe und eine große Verlassenheit. Hilfe bietet oft nur die zwischenmenschliche Berührung, wie sie beispielsweise Jakob Franck anbietet, wenn er Angehörige von Opfern umarmt und festhält. Manchmal genügt auch nur die Berührung einer Hand.
Es geht bei Ani nie nur um das Verbrechen an sich oder den Täter. Es ist immer die Gesellschaft, in der die Verbrechen geschehen, um die es sich dreht. Ein Zitat Derek Raymonds ist dem Buch vorangestellt.
„Es ist ein Irrtum, wenn irgendwer annimmt, Gewaltverbrechen hätten nichts mit ihm selbst zu tun. Verbrechen gehen jeden etwas an, denn Verbrechen werden, wie der Krieg (ja, sie sind eine Form des Krieges), auf aktive oder passive Weise von jedem mitverschuldet.“ Derek Raymond, Die verdeckte Detektivin
Und so geht es Friedrich Ani in „All die unbewohnten Zimmer“ um brüchige Identitäten, Vater-Sohn-Beziehungen, die Verlorenheit in der Welt, das Altern, traumatisierte Flüchtlingskinder, rechtsradikale Parteien und Polizisten, Rache und sexuelle Belästigung. Es geht in hohem Maße um unsere Gegenwart. Unbedingt lesen!
Weitere Besprechungen findet ihr bei Constanze auf Zeichen & Zeiten
Beitragsbild: München Hbf by Schnitzel_bank (CC BY-ND 2.0) via Flickr
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Friedrich Ani – All die unbewohnten Zimmer
Suhrkamp Juni 2019, Gebunden, 494 Seiten, € 22,00
Liebe Petra,
unbedingt lesen, schreibst du?! Das stimmt absolut – ich muss unbedingt noch einmal einen Ani-Krimi lesen!!! Und nach deiner tollen Besprechung habe ich auch richtig Lust dazu bekommen. 🙂 Danke also!
Herzliche Grüße
Tina
Das freut mich sehr!
Vielen Dank, liebe Petra, für die freundliche Erwähnung und Verlinkung, und schön, dass Du diesen wunderbaren Roman ebenfalls vorstellst. Ich gehöre ja zu den leidenschaftlichen Krimi-Lesern und hoffe, dass das vielfältige Genre endlich wirklich ernst genommen wird von der ganzen Breite des Literaturbetriebes. Dazu gehört allerdings mehr als nur Spannung, sondern eben ein Blick in die Gesellschaft mit all ihren aktuellen Untiefen. Manchmal hat man den Eindruck, dass gelingt den herausragenden Krimiautoren besser als den zahlreichen Autoren der zeitgenössischen Belletristik. Viele Grüße
Sehr gerne, Constanze. Ja, es wäre mal Zeit, dass auch ein „Krimi“ Platz auf den Listen des Buchpreises erhält. Dass wirklich ein komplettes Genre da ausgespart wird, kann eigentlich nicht an der mangelnden Qualität der Bücher liegen. Wirklich schade! Aber wir lesen weiter 😉 LG