Die alten griechischen Sagen sind ähnlich wie die Bibelgeschichten oder Märchen in weiten Teilen der Bevölkerung, zumindest der westlichen Nationen, Teil des Gedankenguts. Selbst wer niemals Griechisch oder Latein gelernt, antike Werke gelesen oder Theateraufführungen besucht hat, kennt viele der darin vorkommenden Geschehnisse und Figuren. Sogar der Kultur gänzlich gleichgültig gegenüberstehende Zeitgenossen haben zumindest von Gottvater Zeus gehört, von Odysseus, der langwierigen Irrfahrten seinen Namen gab, oder von Götterbote Hermes, der einem Paketdienst Pate stand. Unzählige Werke der Kunstgeschichte sind der griechischen Mythologie gewidmet. Den ganzen Handlungsabläufen und kruden Verwandtschaftsbeziehungen in der Welt der Götter, Halbgötter und Sterblichen folgen zu können, stellt allerdings eine Herausforderung dar. Deshalb sind Nachdichtungen und Sekundärliteratur Legion. Unlängst ist es Daniel Mendelsohn auf großartige Weise gelungen, die Odyssee mit einer persönlichen Vater-Sohn-Geschichte zu verknüpfen und dem Leser anschaulich nahezubringen. Nun legt Madeline Miller mit „Ich bin Circe“ nach.
Die Zauberin Circe
Circe ist eine vielleicht nicht ganz so bekannte (rangniedere) Göttin, Tochter von Sonnengott Helios und der Perse. Sie entstammt also dem alten Göttergeschlecht der Titanen, die von den Olympiern im Kampf der Götter besiegt wurden. Helios stand allerdings auf der Seite der Sieger, weshalb er in Zeus Gunst blieb.
Man kennt Circe am ehesten als Zauberin, die auf ihrer Insel Aiaia mit zahmen wilden Tieren und zahlreichen Nymphen lebt und die mit ihren Zaubertränken die Mannschaft des Odysseus in Schweine und die Nymphe Scylla aus Eifersucht in ein Meeresungeheuer verwandelt hat.
Madeline Miller, die bereits 2012 mit ihrem „The song of Achilles“ erfolgreich war, will diese fast durchweg negative Darstellung von Circe, wie sie ja auch vielen anderen weiblichen Sagengestalten eigen ist, mit ihrem Roman durchbrechen. „Ich bin Circe“ zeigt ganz deutlich: Hier kommt die Zauberin selbst zu Wort. Und ihre Geschichte ist eine ziemlich andere.
Die andere Geschichte über Circe
Von Mutter und Vater wegen ihrer wenig imposanten Erscheinung kaum beachtet, ringt sie als Kind um die Liebe ihres strahlenden Vaters. Von ihren Zwillingsgeschwistern Pasiphaë und Perses gehänselt, gegängelt und gequält, bleibt ihr nur der jüngere Bruder Aietes als Verbündeter.
In ihren Jugendjahren (was natürlich bei unsterblichen Göttern relativ ist) verliebt sie sich in den Fischer Glaukos und verleiht ihm Unsterblichkeit als Meeresgott. Hier und an anderen (eher unbedeutenden Stellen) weicht die Autorin von der Sage, der sie sonst getreu folgt, ab, nach der er das Wunderkraut nicht von Kirke erhält, sondern selbst findet. Glaukos verliebt sich allerdings in die wunderschöne, aber intrigante und eitle Nymphe Scylla. Aus Eifersucht wendet Circe ein Zauberkraut an, das die wahre Natur eines Geschöpfes zutage fördert. Über die furchtbaren Folgen, die dies für Scylla haben wird, die als sechsköpfiges, menschenverschlingendes Ungeheuer fortan an eine Meeresenge gegenüber den Strudeln der Charybdis (vermutet wird als Vorbild die Meeresenge von Messina) verbannt leben muss, ist sie sich nach dieser Darstellung nicht bewusst.
Verbannung auf Aiaia
Von den Göttern zur Strafe auf eine einsame Insel verbannt, vervollkommnet Circe dort ihre Kräuterkundigkeit und wird zur Hexe bzw. Zauberin. Zahlreiche verbannte Nymphen gelangen fortan auf ihre Insel und dienen ihr, die wilden Tier, allen voran eine Löwin, sind ihr treue Gefährten. Auch Besuche auf der Insel gibt es zuhauf, so von Daedalus (dem Vater des Ikarus), der ihr einen wunderbaren Webstuhl schenkt, vom intriganten Götterboten Hermes und von ihrer Nichte Medea, einer anderen, recht negativ besetzten Sagengestalt. Bei Circe erfleht sie zusammen mit ihrem Geliebten Jason, dem Anführer der Argonauten, Katharsis, nachdem sie ihm zur Erbeutung des Goldenen Vlieses von ihrem Vater Aietes und zum Tod seines Onkels verholfen hat. Die schrecklichen Taten, die Medea berüchtigt gemacht haben (sie ermordet aus Eifersucht die neue Frau Jasons, deren Vater und ihre eigenen Kinder) liegen da noch in der Zukunft.
Ihrer Schwester Pasiphaë steht Circe bei der Geburt des Minotaurus bei, des Stiermenschen, der künftig in einem unterirdischen Labyrinth gefangen gehalten wird und der mit der Hilfe von seiner Halbschwester Ariadne schließlich vom Held Theseus besiegt werden wird.
Viele der Geschichten hat man vielleicht zumindest ansatzweise schon gehört. Ihr komplizierter Zusammenhang wird bei der Lektüre von „Ich bin Circe“ durch Madeline Miller aber sehr anschaulich nacherzählt.
Odysseus
Und dann war da noch Odysseus. In Homers Epos wurde dieser nach den Kämpfen in Troja auf seiner langen hindernisreichen Heimfahrt nach Ithaka auf Aiaia angeschwemmt. Miller erzählt nun aber, dass Circe seine Männer nicht völlig willkürlich oder aus Bosheit in Schweine verwandelt und diese Verwandlung auch nicht durch Drohungen Odysseus rückgängig macht und sich den Männern unterwirft.
Circes Geschichte ist eine ganz andere. Und in ihr kommt der feministische Ansatz von Madeline Miller am deutlichsten hervor. Circe ist nämlich schon diverse Male Opfer von sexueller Gewalt durch auf Aiaia gelandete Seefahrer geworden. Sie als alleinlebende Frau ist leichte Beute gewesen. Einmal gelang ihr der Abwehrzauber nicht rechtzeitig und sie wurde vergewaltigt. Eine Geschichte, die das Verwandeln der Männer in Schweine in einem etwas anderen Licht darstellt. Außerdem entspannt sich zwischen Circe und Odysseus eine Liebesbeziehung. Nach dessen Abreise entdeckt Circe ihre Schwangerschaft.
In den Jahren mit ihrem Sohn Telegonos entwickelt Circe eine große Mütterlichkeit. Die Passagen ähneln hier ein wenig zu sehr dem Leidensbericht einer alleinerziehenden Mutter. Einerseits ist das sehr nachfühlbar, andererseits zeigt sich darin eines der Probleme des Buches.
Weiblicher Blick
So positiv der Ansatz ist, eine weibliche Sicht auf eine der griechischen Sagengestalten zu gewinnen (Christa Wolf hat dies in ihren Büchern „Kassandra“ und „Medea“ auf, meiner Meinung nach, gelungenere und anspruchsvollere Weise gemacht), so heikel ist natürlich solch eine Aktualisierung. Vieles ist hier einfach in seiner Überführung von der Antike in heutige Gedankenwelten, vom Kosmos der Götter in die irdische Welt nicht so richtig plausibel. Gerade was die Schwangerschaft, die Erziehung, das Verhältnis der Geschlechter, die Lebenseinstellung betrifft. Teilweise gelingt das Madeline Miller sehr gut, oft aber auch nicht. Griechische Götter sind nun einmal keine modernen Menschen. Das Gleiche könnte man über die Sprache sagen. Auch hier passen manche Modernisierungen einfach nicht, beispielsweise wenn jemand „umgelegt“ werden soll.
Ein weiteres Problem ist für mich, dass die „feministische“ Sicht bei genauerem Hinsehen so feministisch gar nicht ist. Viele der Figuren bleiben in den altbewährten Strickmustern gefangen – Männer = gewissen- und verantwortungslos, egozentrisch; Frauen = gefühlsbetont, intrigant und eifersüchtig. Mutterschaft ist dann auch für Circe die größte Erfüllung.
Gerade in den ersten Abschnitten, die in den Palästen der Götter spielen, hat mich auch gestört, dass die Szenerie allzu sehr dem entspricht, was sich der moderne Mensch so unter „göttlichen Zuständen“ vorstellen mag.
Gute Unterhaltung
Es gibt aber auch viel Positives über „Ich bin Circe“ zu sagen. Wie bereits erwähnt, gelingt es Madeline Miller sehr gut, die alten Sagen neu zu erzählen. Über die durchweg negative Darstellung vieler weiblicher Figuren in den Sagen gerät man ins Grübeln. Auch schön, wie so positiv besetzte Gestalten wie Hermes, Athene oder auch Odysseus in Frage gestellt werden (bei letzterem war auch Daniel Mendelsohn bzw. dessen Vater recht kritisch).
Überhaupt sind die Figuren bei Miller sehr ambivalent angelegt. Auch Circe, die sich im Laufe der Erzählung sehr weiterentwickelt, vom unglücklichen verschmähten Kind über die enttäuschte Liebende zur nachdenklichen, verletzten Frau und fürsorglichen Mutter. Das Thema Unsterblichkeit wird immer wieder thematisiert und die Einsamkeit, die für Circe daraus entsteht.
„Ich bin Circe“ ist einfallsreich und unterhaltsam, mit einem guten Schuss Romantik und jeder Menge menschlicher Emotionen unter den Göttern (die ja bekanntlich eitel und rachsüchtig sind, aber eben auch noch mehr). Manchmal ist es auch ein wenig zu sentimental und zu gewollt modern. Insgesamt aber, mit den kleinen Abstrichen, ein großes Lesevergnügen.
Beitragsbild: John William Waterhouse – Sketch of Circe (Public Domain)
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Madeline Miller – Ich bin Circe
Aus dem Englischen übersetzt von Frauke Brodd
Eisele Verlag August 2019, Hardcover mit Schutzumschlag, 528 Seiten, € 24,00
In wiefern wird Kirke denn im Mythos sonderlich negativ dargestellt? Sie nimmt sich Odysseus ein Jahr als Liebhaber, wie es die Götter öfter mit Sterblichen tun, und hilft ihm letztlich auf dem Weg nach Hause, was Größe zeigt (mehr als Zeus etwa gegen seine Eroberungen). Damit ist sie eine der aktivsten, sympathischsten und wissendsten Figuren der Odyssee.
Das spannende bei Miller ist ja, dass sie praktisch 1:1 die Kirke-Mythen nacherzählt und psychologisch unterfüttert. Auch Skylla, Telegonos usw. Diese Geschichten gab es teils prä-, teils posthomerisch. Und Miller bleibt, die Handlung betreffend, ganz eng am ursprünglichen Material.
Die griechische Mythologie ist auch eine dankbare Quelle. Die Göttinnen sind da eben keine unterwürfigen Hausfrauen, sondern den Männern in Witz, List und Lust durchaus ebenbürtig. Athene dürfte gar die beliebteste, aktivste und vielseitigste GöttIn der Antike überhaupt gewesen sein. Mag sein, die Geißel der Moderne, die Romantik, kannte dann nur noch die schöne Aphrodite, die hinterlistige Hera, die gefährlich-verführerische Kirke und andere Verkitschungen antiker Frauenbilder. Aber in den alten Texten selbst haben solche Romantisierungen noch keinen Raum.
Lieber Sören, vielen Dank für Deine ausführlichen Anmerkungen. Ich bin in der griechischen Mythologie relativer Laie. deshalb ist meine Einschätzung der Figuren dort eine laienhafte, die sich in erster Linie aus Sekundärtexten oder Überlieferungen speist (wie ich denke, bei den meisten Lesern) Einen wichtigen Zugang zu der Odyssee hat mir tatsächlich erst dieses Jahr Daniel Mendelsohn mit seinem Vater-Sohn-Buch verschafft. Und sicher stammt ein Großteil der Charakterisierungen, die ich im Kopf habe aus der Zeit der Romantik, Gustav Schwab etc., die ja sicher kein Ausbund der Emanzipation war. Wenn man die Odyssee genau beschaut, stimme ich deiner Charkterisierung zu. Ich habe zur Überprüfung meines Eindrucks aber nochmal ähnlich in der klassischen Literatur unbeleckte Menschen gefragt, und sie hatten auch den gleichen (zugegeben oberflächlichen) Eindruck: Circe = Hexe, Zauberin (negativ), hält Odysseus auf (negativ), Verwandlung Scyllas = eifersüchtiges Gerangel um denselben Mann, nimmt sich Odysseus als Liebhaber = sowas macht man doch als Frau nicht. Wie du ganz richtig anmerkst, ist das in den Originaltexten vermutlich gar nicht so angelegt. Aber das, was sich in vielen Köpfen (wohl auch meinem festgesetzt hat). Dass Odysseus vllt. gar nicht so der strahlende Held und Athene vielleicht auch eine zu hinterfragende Gottheit darstellt, fand ich tatsächlich sehr interessant, in beiden Büchern. Und dass sie eben auch Nicht-Kennern die Dinge näher bringen. Wie gesagt, Danke für den Denkanstoß! Viele Grüße!
Gerade das „nimmt sich Odysseus als Liebhaber = sowas macht man doch als Frau nicht“ ist halt so eine moderne Perspektive, weil Götter sowas dauernd mach(t)en, und Mann/Frau dabei von relativ geringer Relevanz ist (nicht dass die griechischen Mythen da ganz „liberal“ wären, aber doch in beachtlicher weise…). Wie überhaupt die Götter über der menschlichen Moral stehen… was mE auch die größte (und nicht immer gut zu lösende) Schwierigkeit für Miller war… dass sie ihre Götter zwar Götter bleiben lässt, aber ihnen bürgerlich-moralisch funktionierende Psychen verleiht…
(Unerhört wäre in der Odyssee nach klassischer Vorstellung übrigens vll eher Penelopes Weigerung, sich rasch neu zu verheiraten…)