Alexander Osang – Die Leben der Elena Silber

Es reicht für mehr als ein Leben, was Elena Silber, geborene Jelena Krasnow, im Verlauf des 20. Jahrhunderts an Erfahrungen macht. Angelehnt an das Schicksal seiner eigenen Großmutter erzählt Alexander Osang in seinem für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 nominierten Roman „Die Leben der Elena Silber“ davon.

Geboren wurde Jelena 1902 im russischen Gorbatow, 60 km südwestlich von Nischni Nowgorod gelegen, das wiederum 400 km östlich von Moskau an der Einmündung der Oka in die Wolga liegt. Flüsse sind es auch, die Jelenas unstetes Leben begleiten. Es ist ein Weg vom Großen ins Kleine. Von der mächtigen Wolga, der majestätischen Oka zur Newa in Sankt Petersburg, dem Bober in der Niederlausitz und der Berliner Spree. Der Weg der kleinen Tochter des 1905 von Kaisertreuen brutal ermordeten Bolschewisten Viktor Krasnow, die mit ihrer Mutter Sina und dem älteren Bruder Pawel überstürzt in die nächste Großstadt, nach Nischni Nowgorod, fliehen muss.

Nach der erfolgreichen Revolution wird der Vater zwar als Volksheld mit Denkmal und nach ihm benannter Straße geehrt, das Leben für die kleine Familie aber nicht leichter. Die Mutter heiratet ein zweites Mal, Alexander Petrowitsch, der seine Stieftochter sexuell missbraucht, bekommt drei weitere Kinder und hat kaum ein Auge für ihre älteste Tochter. Der geliebte Bruder Pawel, Pascha, ist schon längst in die Wirren der russischen Politik verstrickt und weit fort. Die Jahre der Stalinherrschaft sind unübersichtlich.

Raus aus der Provinz

Jelena will raus aus der provinziellen Enge von Gorbatow, vor allem auch fort vom übergriffigen Stiefvater. Da ist der deutsche Textilingenieur Robert F. Silber, der die heimische Textilfabrik modernisieren soll, ein willkommener Ausweg. Liebe ist das nicht unbedingt und wirklich willkommen ist die russische Schwiegertochter bei den Silbers auch nicht, aber Jelena folgt Robert zunächst nach Moskau, dann nach Leningrad und schließlich in die heimische Textilfabrik der Silbers nach Sorau in der Niederlausitz. Aus Jelena wird Elena. Aber auch das abhandengekommene J macht aus ihre keine Deutsche.

Sorau/Żary Alexander Osang Die Leben der Elena Silber
Sorau/Żary www.zeno.org [Public domain] via Wikimedia Commons
Elena bekommt zwischen 1935 und 1942 fünf Töchter, die recht komfortabel in der Fabrikantenvilla aufwachsen. Man hat Hauspersonal, auch aus dem nahegelegenen Frauenkonzentrationslager Christianstadt (Krzystkowice), man fragt da nicht so genau. Auch die Rolle von Robert Silber im Krieg und der deutschen Politik bleibt völlig im Unklaren. Noch nicht einmal, ob er je NSDAP-Mitglied war, lässt sich später klären. Ganz sauber scheinen seine Geschäfte aber nicht gewesen zu sein. Da die Textilfirma Uniformen herstellte und deshalb kriegswichtig war, war er aber nie aktiv in der Wehrmacht.

Fragen kann man Robert F. Silber nicht mehr, denn in den späten Kriegswirren, die russische Armee nähert sich, verschwindet er mitsamt dem Familienschmuck und wird nie wieder gesehen. Um ihn rankt sich seitdem ein Großteil der Familienlegenden. Legenden, an denen auch Elena fleißig strickt, die mit ihren vier kleinen Töchtern (die jüngste, Anna ist 1944 an Diphterie gestorben) zunächst nach Pirna und dann nach Berlin flüchtet.

Die Enkel

Sich diesen Legenden nähern möchte Konstantin, der Enkel der mittlerweile verstorbenen Jelena, der Baba, der leicht rätselhaften, dominanten Großmutter. Er selbst steht in der Mitte des Lebens, ist Filmemacher und hat, so seine schroffe, auch recht dominante Mutter Maria, sein „Thema noch nicht gefunden“. Privat nicht, wo er von der Mutter seines zwölfjährigen Sohnes Theo geschieden ist, sich in einer Sinnkrise zu befinden scheint, ziellos, nicht bereit, wirklich Verantwortung zu übernehmen und in Behandlung bei einer etwas eigenartigen Psychotherapeutin namens Sybille Born.

Das kann man aber ebenso auf seine beruflichen Ambitionen beziehen, die recht bescheiden sind und sich augenblicklich um ein Porträt des einstigen serbischen Tennisspielers Bogdan drehen, der als Jugendlicher vor den Jugoslawienkriegen geflohen war, als enormes Talent galt, ein Tennisstipendium in den USA absolvierte, dann aber Literaturwissenschaft studierte und nun als Trainer für zahlungskräftige russische Oligarchen in Berlin lebt. Für Konstantin ist das

„die Geschichte eines Weltbürgers wider Willen. Die Geschichte einer Flucht. Die Geschichte unserer Zeit.“

Berlin Sektorengrenze 1950er
Berlin Sektorengrenze 1950er by Hans-Michael Tappen (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

Aber trifft das nicht auch alles auf die Lebensgeschichte seiner Großmutter zu? Mutter Maria drängt ihn, der eigenen Familiengeschichte nachzuspüren. Auch ihn selbst beschäftigt die Familie aktuell sehr. Sein Vater Claus, in der DDR einst berühmter Tierfilmer, ist an Demenz erkrankt. Rigoros hat ihn die Mutter in einem Pflegeheim untergebracht. Eine Entscheidung, die Konstantin mindestens ebenso verstört wie die Krankheit selbst.

Familiengeschichte

Er nimmt Kontakt auf zu seinen zwei noch lebenden Tanten (die älteste der Schwestern, Lara, beging 1986 Selbstmord). Er reist mit seinen Eltern nach Sorau und mit seinem Cousin Juri nach Gorbatow, eine Reise, die Lena 1965 auch bereits antreten wollte, die ihr als „Deutsche“ aber nicht genehmigt wurde. Da ist ihr bereits das E von Elena abhandengekommen, ebenso wie die Hoffnung auf ein wenig Ruhm im Werk eines Schriftstellers oder die Anerkennung ihrer Witwenschaft.

Der Erzählstrang von Konstantin ist im Jahr 2017 angesiedelt, die Geschichte von Jelena beginnt 1905. Beide wechseln sich kapitelweise ab und bewegen sich aufeinander zu. Während die historische Erzählung eher ernst und getragen verfasst ist, verwendet Alexander Osang im Strang von Konstantin einen eher lockeren Erzählton und auch einiges an Witz. „Die Leben der Elena Silber“ sind allein durch ihre Themenfülle sehr komplex und vielschichtig. Sie zeigen ein Panorama des 20. Jahrhundert, erzählen von Flucht und Nicht-Heimischwerden, von abwesenden Vätern und wenig liebevollen, aber effizienten Müttern, von schwierigen Familienbeziehungen, von Distanz und Zusammenhalt, vom Erinnern und darüber Erzählen, von Schuld, Verdrängung, Verantwortung und dem Zurechtbiegen der Vergangenheit. Die vielen Charaktere des Romans sind durchweg ambivalent und sehr authentisch angelegt und Alexander Osang gelingt es stets, die Leser*in sicher durch die breite Landschaft seiner Familiengeschichte hindurch zu manövrieren.

Alexander Osang stand mit „Die Leben der Elena Silber“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2019. Für mich hätte er durchaus den Sprung auf die Shortlist verdient gehabt.

 

Weitere Besprechungen findet ihr bei Buchsichten

 

Beitragsbild: Odessastepsbaby aus dem Film „Panzerkreuzer Potemkin“, transferred from en.wikipedia to Common (Public domain)

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Alexander Osang - Die Leben des Elena Silber.

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Alexander Osang – Die Leben der Elena Silber
S. FISCHER August 2019, 624 Seiten, gebunden, € 24,00

 

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