Im zweiten Teil meiner Vorstellung einiger Neuerscheinungen aus Norwegen, die anlässlich des Gastlandauftritts zur Frankfurter Buchmesse erscheinen, möchte ich die „jüngere“ Schriftstellergeneration (Jahrgang 1960+) in den Fokus stellen. In einigen Reaktionen, besonders auf Instagram, wurde auf den überproportionalen Männeranteil der veröffentlichten/vorgestellten Titel hingewiesen. Und ja, es stimmt. Hier sieht der Geschlechterproporz schon wieder besser aus. 😉
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Tomas Espedals Texte, die ganz dicht am Autobiografischen entlang schreiben, dabei gelegentlich auch Grenzen überschreiten in Sachen Diskretion, Selbstentblößung, sind radikal offen, rücksichtslos gegenüber sich selbst und Menschen aus dem Umfeld, die oft mit Klarnamen auftauchen, dabei bleiben in seinen Texten immer aber auch bewusst Zweifel an der Authentizität, am Wahrheitsgehalt des Erzählten. Autofiktion. Die Aufzeichnungen kreisen um die Themen (vergebliche) Liebe, Verlust, Einsamkeit, Altern und Tod. Im Zentrum steht erneut die Trennung von seiner bedeutend jüngeren Geliebten Janne und sein Verhältnis zum alternden Vater.
Verfasst ist das Buch als ein langes Prosagedicht. Das passt sehr gut, da Tomas Espedal Bezug nimmt auf einen großen (vergeblich) Liebenden der Literaturgeschichte, auf Francesco Petrarca. Der Ton, der reduziert und poetisch, lyrisch und dennoch leicht und fließend zu lesen ist, fasziniert. Espedal zu lesen ist ein großer ästhetischer Genuss.
Zu meiner ausführlichen Rezension geht es hier.
Gøhril Gabrielsen – Die Einsamkeit der Seevögel
Eine junge Wissenschaftlerin, Biologin, reist im Winter in den äußersten Norden Norwegens, nach Finnmark, um auf die Rückkehr der Seevögel zu warten. Sie will für ihre Forschungsarbeit den Einfluss von klimatischen Veränderungen auf Verhalten und Population von bedrohten Arten untersuchen. In einer einsamen Fischerhütte, inmitten einer Schneewüste, richtet sie sich auf ein nur kurzes Alleinsein ein. Ihr Geliebter, Jo, will bald nachkommen und in der Isolation ein Schreibprojekt verfolgen. Doch Jos Ankunft verschiebt sich immer weiter, seine Ex-Frau ist beruflich stark eingebunden und Jo fühlt sich für die kleine Tochter zuständig. Auch die Erzählerin hat eine zweijährige Tochter bei ihrem Ex-Mann zurückgelassen, den sie für Jo verlassen hat. S. war zu besitzergreifend, jähzornig, einengend. Abstand von der unschönen Trennung war genauso ein Beweggrund den Forschungsauftrag anzunehmen wie der Wunsch, Jo einmal ganz für sich zu haben, ihn nicht immer mit der Tochter und Ex-Frau teilen zu müssen. Doch Jo kommt nicht. Per Satellitentelefon und Skype verschiebt er seine Abreise immer weiter. Die Erzählerin leidet zunehmend an ihrer Einsamkeit. Alle fünf Wochen kommt ein Versorgungsschiff mit Vorräten, das war es.
Ein streng durchgetakteter Tagesablauf, Wetterbeobachtungen, Ausflüge mit dem Schneemobil helfen ihr durch die Zeit. Aber zunehmend lässt sie sich von dem abweisenden Ort, der rauen Landschaft, dem eisigen Wetter verunsichern. Eine alte Chronik erzählt von einem tragischen Ereignis vor 140 Jahren hier. Borghild und Olaf lebten hier mit ihren Kindern. Und die Erzählerin schlüpft immer mehr in die Person der Borghild hinein, fantasiert über ihr Leben, ihre Gefühle, die Beziehung zu Olaf. Immer mehr wird auch deutlich, dass sie sich vor ihrem Ex-Mann S. fürchtet. Es gab wohl Gewalt in der Ehe. Aber immer mehr vermischen sich auch Realität und Fantasie, Wirklichkeit und Wahn, Vergangenheit und Gegenwart. Von wem stammt die Nachricht „Ich komme dich holen“? Welche Absichten verfolgt der Kapitän des Versorgungsschiffs? Was sind das für merkwürdige nächtliche Geräusche?
Atmosphärisch dicht, knapp, ruhig und doch mit einer ungeheuren Spannung, die am Ende Thrillerqualitäten entwickelt, entspinnt Gøhril Gabrielsen ihre Geschichte. Und mutet der Leser*in ein offenes Ende zu.
Auch wenn die Parallelführung von Vergangenheit und Gegenwart für mich nicht wirklich gelingt – ein ganz großartiges, schmales Buch. Eine tolle Autorin, von der hoffentlich noch mehr ins Deutsche übersetzt werden wird.
Erik Fosnes Hansen – Ein Hummerleben
Erik Fosnes Hansen hätte ich spontan in meinen ersten Teil der Neuerscheinungsvorstellung zu den älteren Autoren und Klassikern gesteckt. Für mich veröffentlicht er schon gefühlt „ewig“. Das liegt zum einen daran, dass er beim Erscheinen seines großen Welterfolgs „Choral am Ende der Reise“ 1990 erst 25 Jahre alt war, zum anderen daran, dass das Buch realtiv bald auch den Weg nach Deutschland fand (1995), hier ein Riesenerfolg wurde und ich es da auch gleich las. Der Roman über die letzte Reise der Titanic aus der Sicht der Mitglieder jener berühmt gewordenen Bordkapelle, die bis zum letzten Moment aufgespielt haben soll, hat mich damals sehr begeistert und er gehört zu jenen, die ich gerne irgendwann einmal zum zweiten Mal lesen möchte.
Seither hat Erik Fosnes Hansen lediglich zwei weitere Romane veröffentlicht, seit dem letzten, dem „Löwenmädchen“, sind zehn Jahre vergangen. Nun erscheint „Ein Hummerleben“.
„Ein Hotel hoch oben im norwegischen Fjell in den 1980er-Jahren. Sedd wächst bei seinen Großeltern auf. Über seinen Vater weiß er nicht viel, die Mutter ist verschollen. Liebevoll, aber bestimmt wird er von den Großeltern – der Großvater ist nebenbei Tierpräparator, die Großmutter stammt aus Wien – auf seine Rolle als künftiger Hotelerbe vorbereitet. Er hilft als Laufbursche, Küchenjunge und Tourenbetreuer aus und verinnerlicht den Leitsatz »Jeder einzelne Gast zählt« bereits im zarten Kindesalter. Zufluchtsort ist für ihn die Großküche des Hotels, in der der ehemalige Seefahrer Jim schaltet und waltet und für Sedd Vater, Mutter und Freund zugleich ist, wenn die Großeltern keine Zeit für ihn haben. Doch spätestens, als der Bankdirektor Berg bei einem Essen stirbt, zeigen sich erste Risse in der vermeintlichen Idylle.“ (Verlagstext)
Ich freue mich noch auf diese nostalgische, ruhige und detailreiche Geschichte aus der Sicht des 13jährigen Sedd. Ein Hotelroman aus dem norwegischen Fjell – fast wie Urlaub.
Marius hat auf Buch-Haltung den Roman bereits besprochen und sehr gelobt.
Mona Høvring – Was helfen könnte und Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte
Die Lyrikerin Mona Høvring (Jg. 1962) veröffentlicht seit 2004 hochgelobte Romane. Vergleiche mit Sylvia Plaths »Die Glasglocke« und Françoise Sagans »Bonjour Tristesse« wurden gemacht. Im Frühjahr bereits erschien Was helfen könnte, im Herbst folgte Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte in einer ausgesprochen schönen Ausgabe. Darin geht es um „Zwei Schwestern: Ella und Martha, Anfang zwanzig. Sie sind im Abstand von nur einem Jahr am gleichen Tag geboren, fast wie Zwillinge und doch so unterschiedlich wie zwei Seiten einer Medaille – die dunkle, grüblerische Ella, die Ältere, und die helle, nicht fassbare, impulsive Martha. Gemeinsam fahren sie in ein Sanatorium mitten in den winterlichen norwegischen Bergen, das in der kalten, kahlen, weißen Landschaft »seine Schwingen über dem steilen Berghang ausbreitet«. Hier soll Martha sich von einem Nervenzusammenbruch erholen. In der Abgeschiedenheit, dem aus der Zeit gefallenen Schwebezustand sind die Schwestern mit ihren Gefühlen konfrontiert, ihrer bis zu Marthas Heirat symbiotischen Beziehung und dem Drang, eigene Wege zu gehen. Als beide sich für die androgyne Rezeptionistin des Sanatoriums zu interessieren beginnen, führt das zu weiteren Spannungen und fordert Entscheidungen. In einer ebenso einfachen wie kraftvollen Sprache erzählt Mona Høvring die Geschichte von Ella und Martha und der Stärke, die aus der Suche nach der eigenen Identität entsteht. Ein Buch über Jungsein, Bindungen und Eigenständigkeit, erotische Erkundungen, Gefühlsverwirrungen und vor allem über innere Freiheit.“ (Verlagstext) Sprachgefühl und Sinnlichkeit werden bei Mona Høvring immer wieder besonders gelobt.
Auf dem Nacht und Tag-Buchblog könnt ihr über beide Bücher lesen.
Merethe Lindstrøm – Tage in der Geschichte der Stille
Von Merethe Lindstrøm (Jg. 1963) wurden bisher drei Romane aus ihrem umfangreichen Werk ins Deutsche übersetzt. Für ihre 2011 erschienenen Tage in der Geschichte der Stille wurde sie sowohl mit dem Kritikerprisen als auch mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet. Jetzt ist das Buch auch in Deutschland erschienen.
Für mich sind Buch und Autorin eine wunderbare Entdeckung. 2012 erhielt Merethe Lindstrøm dafür den Literaturpreis des Nordischen Rates. Es ist ein ganz feines, leises Kammerstück, das mit einem Moment höchster Spannung beginnt. Diese vergeht bereits nach wenigen Seiten, zurück bleibt ein leises Unbehagen. Ein Unbehagen, dass auch die Ich-Erzählerin, eine ältere Frau, empfindet, seit ihr Mann Simon in ein demenzbedingtes Schweigen verfallen ist. Doch je mehr er zu vergessen scheint, je hinfälliger er wird, umso stärker kommen bei ihr längst verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche. Vieles wurde in dieser Familie beschwiegen, die Holocaust-Vergangenheit des jüdisch-deutschen Simon, der kleine uneheliche Sohn, den Eva als junge Frau zur Adoption gegeben hat, die unschöne Trennung von der langjährigen Zugehfrau Marija. Vieles deutet sich da an, was schließlich gar nicht so spektakulär wie vermutet ist. Aber die Schatten, die eine verschwiegene Vergangenheit werfen kann, das allmähliche Verblassen Simons, die Hilflosigkeit seiner Frau, das wird sehr gut fühlbar. Merethe Lindstrøm verwendet dafür eine elegante, ruhige Sprache und konnte mich sehr für diese Buch einnehmen.
Zu meiner ausführlichen Besprechung geht es hier.
Lars Mytting – Die Glocke im See
Lars Mytting (Jg. 1968) hatte mit seinem Roman „Die Birken wissen´s noch“ einigen Erfolg hier in Deutschland. Auch sein Buch über das Holzmachen wurde bereits auf Deutsch veröffentlicht. Mich hat das bisher nicht so interessiert, und so habe ich seinen neuen Roman „Die Glocke im See“ auch eher zögerlich als Hörbuch gehört. Das abgeschiedene Gudbrandstal in Norwegen im Jahr 1880, ein junges, wissbegieriges Mädchen, ein nach Höherem strebender Pfarrer und ein junger deutscher Architekturstudent, dazu die berühmten norwegischen Stabkirchen und Kirchenglocken, um die sich eine alte Legende rankt: ich fand die Geschichte toll, ruhig und episch erzählt, atmosphärisch und mit interessanten Details. Ich freue mich, dass sie nur der erste Teil einer geplanten Trilogie sein soll.
Hauke von Leseschatz hat den Roman bereits besprochen.
Ende Oktober erscheint von Lars Mytting zudem noch „Die Tankstelle am Ende des Dorfes„.
Hanne Ørstavik – Die Zeit, die es dauert
Der kleine Düsseldorfer Karl-Rauch-Verlag hat sich des Werks von Hanne Ørstavik (Jg. 1969) angenommen und bringt mit „Die Zeit, die es dauert“ bereits den dritten Roman der Autorin in einer bestechend schönen Ausgabe heraus. Ich freue mich sehr Hanne Ørstavik in Frankfurt treffen zu dürfen und bin sehr gespannt auf das Buch.
„Nur wenige Autoren vermögen zitternde Wut, brennende Intensität und zärtliches Verständnis in einer so nackten Sprache auszudrücken wie Hanne Ørstavik.
Signe ist 30 Jahre alt und mit Ehemann und Kind aufs Land gezogen. Es ist kurz vor Weihnachten, und die drei planen, zum ersten Mal allein zu feiern. Aber dann kommen Signes Eltern und ihr Bruder zu Besuch.
Die Zeit, die es braucht ist ein Roman, in dem das Licht im Dunkeln liegt, der Sommer im Winter, die Vergangenheit in der Gegenwart. Die 13-jährige Signe steckt in der 30-jährigen, und auch um das Leben der 13-jährigen in der Finsternis
von Finnmark geht es. Ein Roman über das Erzählen von Zeit und darüber, dass die Geschichten unseres Lebens immer in uns präsent sind.“ (Verlagstext)
Maja Lunde – Die letzten ihrer Art
Maja Lunde (Jg. 1975) verzeichnet mit ihrer „Geschichte der Bienen“ auch in Deutschland einen Riesenerfolg und hat einen kleinen Bienen-Hype ausgelöst. Das Nachfolgebuch „Geschichte des Wassers“ bekam schon weniger begeisterte Rezensionen. Da mir schon die Bienen nicht gefallen haben, habe ich die Autorin nicht weiter in meiner engeren Auswahl. Ende Oktober erscheint aber ein neues Buch „Die letzten ihrer Art„, wieder mit Artenschutzthema, diesmal geht es wohl um die Prezewalskipferde.
„Über Mensch und Tier und das Tier im Menschen: Vom St. Petersburg der Zarenzeit über das Deutschland des Zweiten Weltkriegs bis in ein Norwegen der nahen Zukunft erzählt Maja Lunde von drei Familien, dem Schicksal einer seltenen Pferderasse und vom Kampf gegen das Aussterben der Arten. Ein bewegender Roman über Freiheit und Verantwortung, die große Gemeinschaft der Lebewesen und die alles entscheidende Frage: Reicht ein Menschenleben, um die Welt für alle zu verändern?“ (Verlagstext)
Simon Stranger – Vergesst unsere Namen nicht
Der Norwegische Bücherhändlerpreis 2018 ging an Simon Stranger für seinen jetzt auf Deutsch unter dem Titel „Vergesst unsere Namen nicht“ erscheinenden Roman. Der 1976 geborene Autor greift darin eine Geschichte aus dem Holocaust auf, ein Thema, das für mich verblüffend oft in den norwegischen Neuerscheinungen auftaucht, bei z.B. Jacobsen und Merethe Lindstrøm, auch in einem Beitrag in „Heimatland“ geht es um Erinnerungskultur in Form der „Stolpersteine“. Auch Stranger werde ich in Frankfurt treffen, darauf freue ich mich sehr und werde den Roman auf meine Leseliste setzen.
Johan Harstad – Max, Mischa und die Tet-Offensive
Den dickleibigsten Roman des Norwegenauftritts hat gewiss Johan Harstad mit seinen über 1300 Seiten der „Max, Mischa und die Tet-Offensive“ vorgelegt. Familiengeschichte und Zeitroman, Entwicklungs-, Künstler und Lieberoman, von den Einen heiß geliebt, von den Anderen als „gescheitert“ bezeichnet, von Vielen wohl schon allein wegen seines Umfangs verschmät, will ich dieses Buch unbedingt noch lesen. Bisher hat mir dafür die Zeit gefehlt (wahrscheinlich haben meine vielen anderen gelesenen Norweger insgesamt kaum mehr Seiten als dieser eine 😉 ). Von Stavanger nach Long Island, fasziniert vom Vietnam-Epos „Apocalypse now“ erzählt Harstad vom jungen Max, seinem Freund Mordecai und seiner Liebe Mischa. Und vom Vietnam-Veteranen Onkel Owen. Ich möchte das Buch schon allein deswegen allen ans Herz legen, weil der Autor auf einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus so klug, humorvoll und sympathisch über sein Buch gesprochen hat. Ich zumindest freue mich sehr darauf.
Bei Zeichen & Zeiten, Literatur leuchtet und auf Femundo.de findet ihr Beiträge zum Buch.
Eine „schwarze Komödie“ zum Thema Abtreibung? „Humorvoll“, „Ein großartiger Unterhaltungsroman“? Alles Zuschreibungen aus der Presse zu Lotta Elstads Roman „Mittwoch also“. Die mich zumindest stutzig machen. Und ja, die Ton, den die Autorin, Jahrgang 1982, anschlägt ist ein lockerer, frischer, frecher. Nach den vielen düster-melancholischen Texten, die ich in den letzten Wochen aus Norwegen gelesen habe, die Eisflächen, der Schnee, das raue Wetter, war das ganz angenehm. Ein großstädtisches Oslo ist der Schauplatz, eine junge freie Autorin, der Klappentext nennt sie „jung, ledig, selbstbestimmt“, die Protagonistin. Diese, Hedda, steht vor den Scherben ihrer Beziehung zu Lukas, dem intellektuellen Geist, den sie einst für eine Zeitung interviewt hat. Für ihn eine Beziehung ohne Bindung, für Hedda die große Liebe. Aber auch sie ist nicht in der Lage, das zuzugeben, verbirgt ihre Gefühle hinter Coolness, behauptet ihren Willen zu Selbstbestimmtheit, Unabhängigkeit. Und leidet. Der Ablenkungstrip nach Griechenland geht gehörig schief. Die Machine nach Athen muss wegen eines medizinischen Notfalls in Sarajevo notlanden, Hedda flieht vor der Flugangst (und ohne Gepäck), fährt über mehrere Stationen nach Hause. Eine davon ist Berlin. Hier trifft sie Milo, einen ziemlich verpeilten, dabei aber ziemlich lebenstüchtigen Typ, mit dem sie eine Nacht verbringt. In Oslo erwarten sie drei Überraschungen: Milo ist ihr nachgereist, ihr Job als freie Mitarbeiterin ist futsch und sie ist schwanger. Keine Frage, sie wird abtreiben. Aber eine neue Regel fordert drei Bedenktage, bevor eine solche genehmigt wird. Aber Hedda ist entschlossen: „Ich will nicht nachdenken!“ (So auch der norwegische Originaltitel, „Jeg nekter å tenke“). Sie trifft allerhand fragwürdige Entscheidungen und trauert vor allem Lukas hinterher.
Das alles ist turbulent erzählt, hin und wieder habe ich mich über die Sprache (Übersetzung?) gewundert, die mir ein wenig zu gewollt jugendlich erscheint (Hedda ist schließlich auch schon 33). Der schräge Milo und einige der erzählten Situationen sind tatsächlich ziemlich witzig. Und doch finde ich nicht, dass es sich hier um einen „humorvollen“ „Unterhaltungsroman“ handelt. Ich finde die Geschichte sehr traurig. Hedda, die sich so sehr nach einem Halt sehnt, das aber noch nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben kann. Die mit niemandem über ihre Schwangerschaft reden kann (bzw. zu können meint). Die mit sich und ihrem Körper so unachtsam umgeht (und das alles im Namen der Selbstbestimmung). Die finanziell kaum über die Runden kommt – Schicksal der nicht abgesicherten „Freelancerin“, die sie in ihrem Drang nach Unabhängigkeit sein wollte. Das Ende ist positiv und hoffnungsvoll, wenn man so will. Ich fand es deprimierend, denn für Hedda hat sich kaum etwas geändert.
Die „Aftenposten“ vermerkt eine „klare feministische Agenda“. Ich wiederum war mir gar nicht so klar, was dieser Roman, den ich übrigens wirklich gut und lesenswert finde, mir sagen will. „Eine toughe, unabhängige Protagonistin mit bissigem Humor, der unsere Sympathien jederzeit sicher sind“, wie der Verlag schreibt, vermag ich in ihr nicht zu sehen. Eher eine einsame, orientierungslose Frau ohne Halt, Opfer des Diktums von Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Vielleicht eine Generationenfrage.
Andrea von Lesen in vollen Zügen hat das Buch ähnlich wie ich beurteilt.
Eivind Hofstad Evjemo – Vater, Mutter, Kim
Für seinen 2014 im Original erschienenen Roman Vater, Mutter, Kim wählt Eivind Hofstad Evjemo (Jg. 1983) ein brisantes Thema: die 2011 verübten rechtsterroristischen Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya, die 77 Menschen das Leben kosteten.
„Es ist ein stiller, fast ereignisloser Roman, den Eivind Hofstad Evjemo neben jenes Ereignis stellt, das sich brutal und tief in das kollektive Gedächtnis Norwegens geschlagen hat: die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya. Mit nüchterner Behutsamkeit nähert er sich seinen Protagonisten Sella und Arild an, sucht im Wirrwarr der alltäglichen Dinge und der allgemeinen Trauer nach ihrer ganz privaten, die unter der Anteilnahme wieder aufbricht. Ein berührender, genauer Text über Verlust und Trauer und die hartnäckige Einsamkeit, die zwischen den gewohnten Dingen haust.“ (Verlagstext)
Eivind Hofstad Evjemo schaut in „Vater, Mutter, Kim“ auf Sella und Arild und ihren Alltag, in den die Anschläge vom 29. Juli 2011 von Oslo und der Insel Utøya platzen. Die Anteinahme an der Trauer der Nachbarsfamilie, die dabei die Tochter verlor, rührt an eigene Trauer und Verlusterfahrungen. Ganz langsam wird die Geschichte um den Adoptivsohn Kim aus Manila entrollt und in Wechseln aus Vor- und Rückblicken erzählt. Ich bin noch nicht ganz durch, aber das Buch gefällt mir in seiner stillen, zurückhaltenden Art sehr.
Helga Flatland – Eine moderne Famile
„Eine ganz normale norwegische Familie: Mama, Papa, die erwachsenen Kinder Liv, Ellen und Håkon und die Enkel Agnar und Hedda. Alle gehen ihren interessanten Berufen nach, verstehen sich gut. Feiern gemeinsam die Feste des Jahres. Treffen sich sonntags mit ihren zum Teil wechselnden Partnern zum Essen bei den Eltern. Im Sommer verbringt man Zeit in der Familien-Hütte in den Bergen.
Und dann das: Am siebzigsten Geburtstag von Papa verkünden die Eltern, daß sie sich scheiden lassen wollen. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Wie in einem Mikado-Spiel, bei dem ein herausgezogenes Stäbchen die Balance zum Einsturz bringen kann, bricht die Familienidylle zusammen, es gibt scheinbar keinen sicheren Boden mehr. Auch das Leben der Kinder gerät in profunde Unordnung. Erzählt wird diese spannende Geschichte über die Untiefen des Familienlebens abwechselnd von Liv, Ellen und Håkon. Durch diesen Kunstgriff gewinnt der Roman einen einzigartigen Perspektivenreichtum und zeichnet konturscharf das Bild moderner Menschen und ihrer Kämpfe, Verletzungen und Träume.“ (Verlagstext)
Die junge Helga Flatland (Jg. 1984) taucht mit sehr viel Zuspruch vermehrt in den „Seiten meines Vertrauens“, z.B. bei Ruth auf. Zeit, mir das Buch auch mal genauer anzuschauen.
Line Madsen Simenstad – Königin-Maud-Land ist geheim
Ein literarisches Debüt mit fünf kurzen bis sehr kurzen Erzählungen. Sie alle haben Trennungen gemeinsam, Abschiede. Sie alle erzählen von Frauen.
In der längsten von ihnen, „Königin-Maud-Land ist geheim“, ist es eine Mutter, die an ihrer Rolle verzweifelt. Sie hat für sich und ihren fünfjährigen Sohn ein eigenes Reich geschaffen, benannt nach jenem von Norwegen beanspruchten Teil der Antarktis – einsam, kalt, unbewohnbar, international nicht anerkannt. Hierhin hat sie sich zurückgezogen, man könnte fast sagen eingebunkert, verschließt sich gegen Anrufe, Besuche, Ratschläge. Ist sie psychisch krank? Wird sie von irgendwem bedroht? Line Madsen Simenstad erzählt nicht aus, deutet an. Momente von großer Nähe und Fürsorglichkeit wechseln mit Schroffheit und Überfordertheit. Zwei Menschen, die sich sehr nah sind, eine letzte Distanz aber nicht überwinden können, sich letztlich nicht erreichen. Das geht auch den Figuren der anderen Geschichten so: der Tochter, die am Bett des sterbenskranken Vaters wacht; dem Mädchen, dessen Schwester das Elternhaus verlässt; Agnes, deren Vater mit ihr von Frau zu Frau zieht, die kein richtiges Zuhause kennt, seitdem die Mutter gestorben ist; und die Frau, die am Tag vor Heiligabend von ihrem Mann verlassen wird, der sich in die Trauer über den Tod seines besten Freundes zurückzieht.
Es geht um Nähe und Distanz in den Geschichten. Und um den Versuch, diese Distanz zu überwinden, um Einsamkeit, Verlust und Trauer. Glasklar und sprachlich auf hohem Niveau erzählt Line Madsen Simenstad kleine Momente von großer Dringlichkeit. Obwohl thematisch eher düster, strahlt das schmale Buch wegen seiner Zartheit doch eine große Ruhe aus. Ein sehr schönes Debüt! Leseempfehlung!
Roskva Koritzinsky – Ich habe die Welt noch nicht gesehen
Zum Schluss noch ein schmaler Erzählungsband von Roskva Koritzinsky (Jg. 1989), ebenfalls in einer sehr schönen Ausgabe des Karl-Rauch Verlags.
Geschichten über die Liebe, über sieben Welpen, die aus dem Haus einer Mutter gestohlen werden, Geschichten, die an ein Du gerichtet sind, an den verstorbenen Geliebten und an den fehlbaren Vater, eine Frau, die gerade ein Leben gerettet hat und von einer angehimmelten Balletttänzerin.
Eine sehr spannende neue Stimme!
Damit wäre mein Norwegen-Spezial am Ende. Ich hoffe, Ihr konntet einige Tipps mitnehmen und habt nun Lust, euch in den Norwegischen Bücherfjorden zu tummeln. Nächste Woche beginnt die Frankfurter Buchmesse, die natürlich auch unter einem Norwegischen Stern steht. Vielleicht sehe ich ja den einen oder anderen von euch. Ich würde mich sehr freuen. Adjø!, farvel und på gjensyn!
Weitere Beiträge zum Norwegen-Spezial:
08.09.2019 – Norwegen als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse
15.09.2019 – Norwegische Literatur – Tradition und Moderne, Autoren und Autorinnen
22.09.2019 – Norwegischer Buchmarkt und Literaturförderung
29.09.2019 – Veranstaltungen zum Gastland Norwegen auf der Frankfurter Buchmesse
06.10.2019 – Norwegische Literatur – Neuerscheinungen in Deutschland 2019 #1
13.09.2019 – Norwegische Literatur – Neuerscheinungen in Deutschland 2019 #2
Liebe Petra,
das ist ein toller Überblick und ich finde immer mehr interessante Bücher, je länger ich stöbere. Übrigens : „Königin-Maud-Land ist geheim“ liegt schon hier bei mir. >Mich reizt noch „Die Einsamkeit der Seevögel“.
Ich muss direkt mal nachschauen, welche norwegischen Autorinnen ich so im Buchregal habe.
Liebe Grüße
Barbara
Liebe Barbara, ich war auch sehr positiv überrascht, wie viele tolle Bücher es aus Norwegen zu entdecken gibt. Ich bin da auch noch nicht mit durch. Liebe Grüße, Petra
Sehr schön! Ich schreibe am Dienstag auch noch eine kleine Zusammenfassung meiner norwegischen Lektüre…
Sehen wir uns wieder bei Diogenes?
Spätestens! ? Bin schon ab Mittwoch unterwegs. ??♀️
Wir dann ab Donnerstag! ?