„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Unzählige Geschichten erzählen davon, wie diese alte Weisheit in Familien Unheil und Unglück hervorbringt. Wie aus Scham, Feigheit, falscher Rücksichtnahme oder auch einfach nur Denk- oder Fühlfaulheit Missverständnisse und Misstrauen entstehen, unbewältigte und verdrängte Erlebnisse irgendwann wieder hochkommen und mitunter zu Explosionen im Beziehungsgefüge führen können. Und was passiert, wenn der Mensch, mit dem man das meiste Verschwiegene teilt, allmählich völlig verstummt? Merethe Lindstrøm erzählt davon in ihrem 2011 im Original erschienenen Roman „Tage in der Geschichte der Stille“, der 2012 den Literaturpreis des Nordischen Rates erhielt.
Simon, Arzt im Ruhestand und über achtzig, hat aufgehört zu reden. Seit einiger Zeit gleitet er immer mehr in die Demenz ab, die drei Töchter raten der Mutter Eva dringend, ihn in die Obhut eines Pflegeheims zu geben, besonders jetzt nachdem die Eltern die Haushaltshilfe Marija aus Lettland entlassen haben. Seitdem hat sich der Zustand des Vaters deutlich verschlechtert. Doch Eva kann sich dazu nicht entschließen.
Die Stille und Einsamkeit, die sie von nun an umfängt, führen dazu, dass die Vergangenheit zunehmend näher rückt, bestimmte Episoden daraus wieder auftauchen.
Die Episode
So beginnt auch der Roman mit „der Episode“, wie sie Eva immer genannt hat. Sie war damals eine junge Mutter, Simon beruflich viel unterwegs und sie mit den drei kleinen Töchtern allein im neuen Haus. Da stand plötzlich ein junger Mann vor der Tür und drängte sich ins Hausinnere. Ohne sie direkt zu bedrohen, entstand doch eine beängstigende Situation. Und als Eva einen Augenblick abgelenkt war, verschwand der Mann mit ihrer kleinen Tochter. Ein Moment purer Panik, der auch bei der Leserin große Spannung aufbaut. Zwar fand Eva ihre Tochter kurze Zeit später wohlbehalten am Rande des Gartens, aber etwas Unheimliches bleibt in ihrem Leben und der Erzählung zurück.
Was hat es zum Beispiel mit der plötzlichen Entlassung der überaus zuverlässigen und tüchtigen, von der ganzen Familie gemochten Haushaltshilfe Marija auf sich? Die Erzählerin ergeht sich in (manchmal ein wenig aufdringlichen) Andeutungen darüber. Es dauert aber fast bis zum Ende des Romans, bis sich das erklärt.
Zwei andere, von Eva und Simon streng bewahrte Geheimnisse offenbaren sich zumindest der Leserin schon früher.
Da ist zum einen Simons Herkunft und Kindheit. Simon ist Jude. Aus welchem Land er stammt, wird nicht klar, aber er hat den Holocaust mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem Versteck überlebt. Seinem kleinen Cousin und dessen Mutter gelang das Untertauchen nicht mehr rechtzeitig. Sie kamen im Konzentrationslager um. Nach Kriegsende forschte Simon nach ihnen und anderen Familienmitgliedern, fand aber lediglich eine einzige entferntere Verwandte wieder. Unter diesem Trauma leidet Simon nach wie vor, vermag darüber nicht zu sprechen, Depressionen plagen ihn immer wieder. Als er endlich darüber sprechen will, bittet Eva ihn, es nicht zu tun. Die Mädchen scheinen ihr noch zu klein, sie sollen nicht mit der Geschichte belastet werden. Eva und Simon beschließen, noch zu warten, warten zu lange, irgendwann ist es zu spät, der richtige Zeitpunkt verpasst. Die Töchter werden von der Herkunft ihres Vaters, von ihrer Herkunft nichts erfahren.
Noch ein Geheimnis
Aber auch Eva trägt ein nicht ausgesprochenes Geheimnis aus ihrer Jugend mit sich herum. Vor ihrer Zeit mit Simon war Eva schon einmal schwanger. Sie war noch sehr jung und hat das Kind zur Adoption gegeben als dieses ein halbes Jahr alt war. Damals eine wohlüberlegte Entscheidung verfolgt sie diese Episode aus ihrem Leben unerbittlich. Oft imaginiert sie das Leben ihres kleinen Sohns, fühlt sich gleichzeitig in den kleinen ermordeten Cousin Simons ein, besucht immer wieder das Grab eines gestorbenen Jungen auf dem Friedhof, weil dieser anscheinend niemals Besuch bekommt. Aber auch diese Geschichte aus Evas Leben wird in der Familie niemals kommuniziert.
Schweigen und Sprachlosigkeit herrschen dort schon lange, nun kommt Simons krankheitsbedingtes Verstummen hinzu.
Merethe Lindstrøm schafft in „Tage in der Geschichte der Stille“ ein intensives Kammerspiel darüber, wieviel wir voneinander wissen können und sollen, was das Verschweigen, sei es um sich oder andere zu schonen, sei es aus Loyalität oder aus Furcht, anrichten kann, und dass sich die Vergangenheit niemals abschütteln lässt. Es ist ein stilles, nachdenkliches Drama ohne spektakuläre Wendungen, aber mit einer subtilen Spannung. Behutsam geht es mit Verdrängung, Depression und Altern um. Genauso zurückhaltend und präzise ist Merethe Lindstrøms schöne Sprache.
Die Übersetzung aus dem Norwegischen erfolgte durch Elke Ranzinger
Im vergangenen Jahr erschien bereits bei Matthes & Seitz Lindstrøms neuerer Roman „Aus den Winterarchiven“. Constanze und Marina haben darüber berichtet.
Bei Buchpost erschien eine weitere Besprechung. Das Buch habe ich als Monatshighlight bei MonerlS Linkparty Oktober empfohlen.
Beitragsbild von Daniel Brachlow auf Pixabay
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Merethe Lindstrøm – Tage in der Geschichte der Stille
Übersetzung: Elke Ranzinger
Matthes & Seitz September 2019, 221 Seiten, Gebunden, 22,00 €