Eivind Hofstad Evjemo setzt in seinem Roman Vater Mutter Kim die persönliche Trauer einer Mutter um ihr verlorenes Kind durch die Kollektivtrauer eines ganzen Landes nach einem schrecklichen Terrorakt erneut in Gang.
Viele Nationen haben ihre eigenen Traumata, die in jüngerer Zeit meist mit dem internationalen Terrorismus jedweder Couleur zusammenhängen. Anschläge mitten in der Gesellschaft, unerwartet, heimtückisch und vermeintlich unvorhersehbar, die das Sicherheitsgefühl und den Alltag der Menschen nachhaltig erschüttern. 9/11 und die Novemberanschläge in Paris waren solche Ereignisse, die nicht nur in den USA und Frankreich noch sehr lange nachhallen.
Auch das kleine Königreich Norwegen am Rande Europas, durch seine Erdölvorkommen eines der reichsten Länder der Welt, stets ganz weit vorn, wenn es um das demokratischste Land, die glücklichste Bevölkerung oder das beste Sozialsystem geht, erlebte 2011 ein solches Trauma, das nahezu aus dem Nichts zu kommen schien. Am 22. Juli verübte der Rechtsextreme Anders Behring Breivik Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya mit insgesamt 77 Todesopfern, die aufgrund der besonderen Kaltblütigkeit, mit denen sie ausgeführt wurden, und der überwiegend jugendlichen Opfer, die Teilnehmer eines Zeltlagers waren, weltweit große Bestürzung hervorriefen.
Persönliches Drama
Eivind Hofstad Evjemo nimmt die Anschläge als Hintergrund für seinen 2014 im Original erschienenen Roman „Velkommen til oss“ (dt. Herzlich willkommen bei uns), der nun als erstes seiner Werke auch auf Deutsch, in der Übersetzung von Karl Clemens Kübler und Clara Sondermann, in einer besonders schön gestalteten Ausgabe bei Luftschacht erscheint: „Vater, Mutter, Kim“
Dabei bleiben die Geschehnisse auf Utøya aber tatsächlich nur Hintergrund für eine ganz persönliche Geschichte. Sie liefern die Folie für die tiefe Trauer im Leben von Sella und Arild und sind Anlass dafür, dass diese Trauer nach über acht Jahren für sie wieder neu präsent wird. Acht Jahren zuvor verlor das Ehepaar seinen Adoptivsohn Kim.
Nun kehren die Nachbarn zurück von der Insel Utøya, auf der ihre Tochter ermordet wurde. Weder sie noch die Tat stehen im Mittelpunkt des Erzählten. Sie werden lediglich durch Sella wahrgenommen und beobachtet. Diese ist, wie vermutlich das ganze Land zutiefst geschockt. Zu dieser kollektiven, ja nationalen Trauer gesellt sich allerdings noch ihre ganz persönliche, denn sie weiß, wie es sich anfühlt, ein Kind zu verlieren. Ihre Hilflosigkeit, die sich in verschiedenen Anläufen zeigt, etwas für die Nachbarn zu backen, als Trost gewissermaßen, aber auch als solidarischer Akt, als ein Zeichen von Empathie, von Fürsorge und Zusammenhalt, die aber immer wieder von der Angst, zudringlich zu erscheinen, torpediert werden. Unmengen an Zimtbrötchen wandern in die Tiefkühltruhe.
Trauer teilen
Sella weiß, wie schwierig es ist, Trauer zu teilen, selbst mit dem vertrautesten Menschen. Auch ihre Ehe mit Arild musste dem Verlust von Kim standhalten, das Paar neue Strategien im Umgang miteinander entwickeln. Sella musste erkennen, dass Arild ganz anders trauerte als sie selbst, die Einsamkeit ihrer Gefühle aushalten. Eivind Hofstad Evjemo schreibt mit „Vater, Mutter, Kim“ auch einen Eheroman, vom Zueinanderstehen in schwieriger Zeit, vom Älterwerden, dem Vergehen der Zeit.
„All die Tage, die einfach vorbeizogen. Sie dachte daran, dass sie einst geglaubt hatte, dass sie lange jung sein würde, dann aber bemerkt hatte, dass es doch genau andersherum war und sie den Großteil ihres Lebens alt sein würde. Sie würde so viel Energie darauf verwenden, zurückzuschauen und sich nach einer anderen Zeit zu sehnen, die sich echt und bedeutsam anfühlte, aber gleichzeitig nicht wiedererkennbar.“
Rückblicke
Nun, angesichts der Trauer der Nachbarn, erinnert sich Sella an ihr Kennenlernen, an die schwierige Phase der ungewollten Kinderlosigkeit, an den Entschluss, den kleinen Kim von den Philippinen zu adoptieren. In Rückblenden wird von der Familie erzählt, die die drei fortan bildeten, von den Augenblicken des Glücks, aber auch von schwierigen Momenten, besonders als sich Kim zunehmend von den Adoptiveltern entfernte, die Beziehung zu ihm sich nicht so innig entwickelte wie erträumt. Und davon, wie sich Kim schließlich aufmachte, seine leibliche Mutter zu suchen.
Eivind Hofstad Evjemo erzählt zurückhaltend, einfühlsam und still. Er arbeitet nicht mit plakativen Emotionen, sondern bleibt in seiner Sprache präzise und ernsthaft. Der Text wird dadurch umso eindringlicher.
„Vater, Mutter, Kim“ ist trotz der großen Beachtung, die norwegische Literatur anlässlich des Gastlandauftritts zur Frankfurter Buchmesse erfahren hat, für mein Gefühl ein wenig untergegangen. Völlig zu Unrecht. Der Text verdient viele Leser*innen.
Beitragsbild: Photo: Henrik Lied, NRK,(CC BY-SA 2.0) via Flickr
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Eivind Hofstad Evjemo – Vater, Mutter, Kim
Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler und Clara Sondermann
Luftschacht September 2019, Hardcover, Überzug aus Glanzpapier, 274 Seiten,€ 24.00