Hanne Ørstavik beleuchtet in „Die Zeit die es dauert“ eine Familie in Schieflage.
Signe ist 30 und lebt mit Mann Einar und der kleinen Tochter Ellen zurückgezogen in einem alten Bauernhaus auf dem Land, irgendwo hoch im Norden Norwegens, in der Finnmark, da wo es im Winter gar nicht richtig hell wird.
Es sind die Tage vor Weihnachten und die kleine Familie hat beschlossen, die Feiertage dieses Jahr allein und in Ruhe zu verbringen. Der Rückzug aufs Land hat auch etwas mit der psychischen Anspannung von Signe zu tun, eine Flucht vor ihrem Gefühl, nicht zu genügen, das Leben nicht meistern zu können. Ein fragiles Gleichgewicht.
Das gehörig gestört wird durch den Anruf von Signes Mutter. Er kündigt einen Besuch der Eltern und des Bruders an, der aus den USA, wo er am Massachusetts General Hospital arbeitet, angereist ist. Sehr bald merkt die Leserin, dass Signes Anspannung mit ihrer Familie zu tun hat. Dementsprechend ablehnend reagiert sie auf die Forderung der Mutter, einen der Weihnachtstage mit ihnen zu verbringen. Ihre Laune kippt, sie wird fahrig und aggressiv.
Schatten der Vergangenheit
Der Besuch der Eltern bildet die Rahmenhandlung für Signes Geschichte und wird in der Ich-Perspektive erzählt. Der Besuch bildet den Anlass, in Rückblenden zurückzugehen zu dem Weihnachten, als Signe dreizehn Jahre alt war. Dieser Mittelteil wählt die personale Erzählperspektive. In ihm erinnert sich das Mädchen Signe immer wieder an einen vergangenen Sommer, in dem die Familie helle, warme Sommertage in einer Kote am See verbrachte. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Zeiten geschieht oft plötzlich. Das Mädchen träumt sich heraus aus einer bedrückenden Gegenwart, die durch die Streitigkeiten und Probleme der Eltern bestimmt wird.
Der despotische, oft zu Gewalt neigende Vater trägt ein hohes Ideal vor sich her, wie eine glückliche Familie zu sein habe. Und zerstört sie durch seine Anforderungen, seine Unbeherrschtheit und sein Unverständnis doch selbst. Die Mutter hat sich in ein Schweigen dem Vater gegenüber zurückgezogen, ist kühl, mitunter entlädt sich ihre aufgestaute Wut. Dazwischen stehen die Kinder. Der Bruder zieht sich so oft wie möglich in die Welt der Computerspiele zurück. Er leidet besonders unter den Vorwürfen des Vaters, genau wie seine Mutter zu sein.
Signe möchte so gerne eine harmonische Familie. Sie träumt sich fort, versucht gleichzeitig, es allen recht zu machen. Fühlt sich verantwortlich für die Stimmung in der Familie. Auch wenn der Vater sie mit seiner Wut und seinen Ausbrüchen verunsichert, liebt und bewundert sie ihn. Die kühle, oft unverständlich agierende Mutter tut ihr leid, sie würde sie gerne vor der Gewalt des Vaters schützen, fühlt sich auch hier verantwortlich. Mir fiel immer wieder der Begriff „emotionaler Missbrauch“ ein, wenn ich an den Umgang der Eltern mit den Kindern dachte. Wärme, Sicherheit und Geborgenheit – Mangelware für die Kinder, deshalb ist der Sommer in der Kote, in dem die Familie noch intakt schien, für Signe solch ein Sehnsuchtsort.
Geschichte einer Familie
Hanne Ørstavik gelingt die kindliche Perspektive, ihr Zerriebensein, ihre naive Hoffnung, dass alles irgendwann wieder gut sein wird, hervorragend. Präzise und sensibel seziert sie eine Familie, ihre Dynamiken und ihre Abhängigkeiten. Dabei bleibt sie aber ganz nah an ihrer jugendlichen Protagonistin. Die Sprache ist sparsam und intensiv.
Für die erwachsene Signe ist die Verweigerung des Weihnachtsbesuchs vielleicht das erste Mal, dass sie „Nein“ sagt gegenüber den Ansprüchen der Eltern. Dass diese nichts dazugelernt haben, zeigt das Ende des Romans.
Zusammen mit „Liebe“ und „So wahr wie ich wirklich bin“ bildet „Die Zeit, die es dauert“ eine lose Trilogie, in der Hanne Ørstavik über Beziehungen in Familien, zwischen Müttern und Kindern schreibt.
Das Buch wurde von Andreas Donat aus dem Norwegischen übersetzt und erscheint in einer besonders schönen Ausgabe im Karl-Rauch Verlag.
Beitragsbild: Per Harald Olsen [CC BY-SA 3.0] via Wilimedia Commons
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Eine weitere begeisterte Besprechung von Marina findet ihr auf Literatur leuchtet
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Hanne Ørstavik – Die Zeit, die es dauert
Aus dem Norwegischen übersetzt von Andreas Donat
Karl-Rauch Verlag August 2019, 272 Seiten, gebunden, € 22,00