Der Buchmesse-Monat Oktober war noch einmal beherrscht von Norwegischer Gastlandliteratur. Erst ganz am Ende schafften es zwei Nicht-Norweger auf meine Leseliste 😉 für die Lektüre im Oktober 2019.*Werbung*
Eine „schwarze Komödie“ zum Thema Abtreibung? „Humorvoll“, „Ein großartiger Unterhaltungsroman“? Alles Zuschreibungen aus der Presse zu Lotta Elstads Roman „Mittwoch also“. Die mich zumindest stutzig machen. Und ja, der Ton, den die Autorin, Jahrgang 1982, anschlägt ist ein lockerer, frischer, frecher. Nach den vielen düster-melancholischen Texten, die ich in den letzten Wochen aus Norwegen gelesen habe, die Eisflächen, der Schnee, das raue Wetter, war das ganz angenehm. Ein großstädtisches Oslo ist der Schauplatz, eine junge freie Autorin, der Klappentext nennt sie „jung, ledig, selbstbestimmt“, die Protagonistin. Diese, Hedda, steht vor den Scherben ihrer Beziehung zu Lukas, dem intellektuellen Geist, den sie einst für eine Zeitung interviewt hat. Für ihn eine Beziehung ohne Bindung, für Hedda die große Liebe. Aber auch sie ist nicht in der Lage, das zuzugeben, verbirgt ihre Gefühle hinter Coolness, behauptet ihren Willen zu Selbstbestimmtheit, Unabhängigkeit. Und leidet. Der Ablenkungstrip nach Griechenland geht gehörig schief. Die Maschine nach Athen muss wegen eines medizinischen Notfalls in Sarajevo notlanden, Hedda flieht vor der Flugangst (und ohne Gepäck), fährt über mehrere Stationen nach Hause. Eine davon ist Berlin. Hier trifft sie Milo, einen ziemlich verpeilten, dabei aber ziemlich lebenstüchtigen Typ, mit dem sie eine Nacht verbringt. In Oslo erwarten sie drei Überraschungen: Milo ist ihr nachgereist, ihr Job als freie Mitarbeiterin ist futsch und sie ist schwanger. Keine Frage, sie wird abtreiben. Aber eine neue Regel fordert drei Bedenktage, bevor eine solche genehmigt wird. Aber Hedda ist entschlossen: „Ich will nicht nachdenken!“ (So auch der norwegische Originaltitel, „Jeg nekter å tenke“). Sie trifft allerhand fragwürdige Entscheidungen und trauert vor allem Lukas hinterher.
Das alles ist turbulent erzählt, hin und wieder habe ich mich über die Sprache (Übersetzung?) gewundert, die mir ein wenig zu gewollt jugendlich erscheint (Hedda ist schließlich auch schon 33). Der schräge Milo und einige der erzählten Situationen sind tatsächlich ziemlich witzig.
Knut Ødegard – Die Zeit ist gekommen
Ich bin kein großer Lyrik-Kenner, aber Dank des Elif Verlag landen bei mir immer wieder einmal schöne Gedichtbände. So auch von einem norwegischen Poeten – Knut Ødegard – Die Zeit ist gekommen. Übertragen von Åse Birkenheier, und erstmals ein lyrisches Werk von Knut Ødegård in deutscher Sprache überhaupt.
Erinnerungen an die Kindheit, an die Zeit des zweiten Weltkriegs, aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Altern und ganz zeitgemäßen Problemen, wie dem Tod von Flüchtenden auf dem Mittelmeer oder der Zerstörung unserer Umwelt.
„Ein wenig schief kehren wir heim
vom Spaziergang diesen Sonntag, wir beide. Du
und ich. Und langsam
streiche ich dir übers Haar, das
noch vor kurzem durchs Universum
flog: Du noch vor kurzem ein kleines Mädchen
auf einer Schaukel.“
I.K.H. Kronprinzessin Mette-Marit (Hrsg.), Geir Gulliksen (Hrsg.) – Heimatland
Herausgegeben von IHK Kronprinzessin Mette-Marit und dem Schriftsteller Geir Gulliksen mit dem Ziel, literarische Texte über das „Norwegische“ und was es für die ausgewählten Autoren und ihr Schreiben bedeutet zu versammeln, könnte das Ganze eine ziemlich brave, konventionelle Sache sein. Im Gespräch der beiden Herausgeber, das den zwölf Texten als Vorwort vorangestellt ist, zeigt sich aber bereits, dass das Projekt sehr viel spannender zu sein verspricht. Da wird kein gezwungener Konsens hergestellt, da trifft die unbedingte Norwegenliebe Mette-Marits, die die engagierteste Literaturbotschafterin ihres Landes und leidenschaftliche Leserin ist, auf die Skepsis Gulliksens. Da scheint die legendäre Offenheit Norwegens auf. Da sind zwölf spannende Autoren, von Dag Solstad (Jahrgang 1941) bis Maria Navarro Skaranger (1994) versammelt. Weitere Beiträge stammen von Karl Ôve Knausgård, Tomas Espedal, Helga Flatland und der Amerikanerin mit norwegischen Wurzeln, Siri Hustvedt. Eine interessante Mischung.
Tomas Espedals Texte, die ganz dicht am Autobiografischen entlang schreiben, dabei gelegentlich auch Grenzen überschreiten in Sachen Diskretion, Selbstentblößung, sind radikal offen, rücksichtslos gegenüber sich selbst und Menschen aus dem Umfeld, die oft mit Klarnamen auftauchen. Dabei bleiben in seinen Texten immer aber auch bewusst Zweifel an der Authentizität, am Wahrheitsgehalt des Erzählten. Autofiktion. Die Aufzeichnungen in „Das Jahr“ kreisen um die Themen (vergebliche) Liebe, Verlust, Einsamkeit, Altern und Tod. Im Zentrum steht erneut die Trennung von seiner bedeutend jüngeren Geliebten Janne und sein Verhältnis zum alternden Vater.
Verfasst ist das Buch als ein langes Prosagedicht. Das passt sehr gut, da Tomas Espedal Bezug nimmt auf einen großen (vergeblich) Liebenden der Literaturgeschichte, auf Francesco Petrarca. Der Ton, der reduziert und poetisch, lyrisch und dennoch leicht und fließend zu lesen ist, fasziniert. Espedal zu lesen ist ein großer sprachlicher Genuss.
Roskva Koritzinsky – Ich habe die Welt noch nicht gesehen
Ein schmaler Erzählungsband von Roskva Koritzinsky in einer sehr schönen Ausgabe des Karl-Rauch Verlags. Geschichten über die Liebe, über sieben Welpen, die aus dem Haus einer Mutter gestohlen werden, Geschichten, die an ein Du gerichtet sind, an den verstorbenen Geliebten oder an den fehlbaren Vater, über eine Frau, die gerade ein Leben gerettet hat oder von einer angehimmelten Balletttänzerin erzählen. Eine spannende neue Stimme.
Merethe Lindstrøm – Tage in der Geschichte der Stille
Von Merethe Lindstrøm (Jg. 1963) wurden bisher drei Romane aus ihrem umfangreichen Werk ins Deutsche übersetzt. Für ihre 2011 erschienenen Tage in der Geschichte der Stille wurde sie sowohl mit dem Kritikerprisen als auch mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet. Jetzt ist das Buch auch in Deutschland erschienen.
Für mich sind Buch und Autorin eine wunderbare Entdeckung.
Es ist ein ganz feines, leises Kammerstück, das mit einem Moment höchster Spannung beginnt. Diese vergeht bereits nach wenigen Seiten, zurück bleibt ein leises Unbehagen. Ein Unbehagen, dass auch die Ich-Erzählerin, eine ältere Frau, empfindet, seit ihr Mann Simon in ein demenzbedingtes Schweigen verfallen ist. Doch je mehr er zu vergessen scheint, je hinfälliger er wird, umso stärker kommen bei ihr längst verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche. Vieles wurde in dieser Familie beschwiegen, die Holocaust-Vergangenheit des jüdisch-deutschen Simon, der kleine uneheliche Sohn, den Eva als junge Frau zur Adoption gegeben hat, die unschöne Trennung von der langjährigen lettischen Zugehfrau Marija. Vieles deutet sich da an, was schließlich gar nicht so spektakulär wie vermutet ist. Aber die Schatten, die eine verschwiegene Vergangenheit werfen kann, das allmähliche Verblassen Simons, die Hilflosigkeit seiner Frau, das wird sehr gut fühlbar. Merethe Lindstrøm verwendet dafür eine elegante, ruhige Sprache und konnte mich sehr für diese Buch einnehmen.
Eivind Hofstad Evjemo – Vater, Mutter, Kim
Eivind Hofstad Evjemo schaut in „Vater, Mutter, Kim“ auf Sella und Arild und ihren Alltag, in den die Anschläge vom 29. Juli 2011 von Oslo und der Insel Utøya platzen. Die Anteinahme an der Trauer der Nachbarsfamilie, die dabei die Tochter verlor, rührt an eigene Trauer und Verlusterfahrungen. Ganz langsam wird die Geschichte um den Adoptivsohn Kim aus Manila entrollt und in Wechseln aus Vor- und Rückblicken erzählt. Ein stiller, leiser, berührender Roman.
Hanne Ørstavik – Die Zeit, die es dauert
Ein sehr intensives Buch, das für mich sehr berührend die Hilflosigkeit eines Kindes in der zerrütteten Ehe der Eltern fühlbar macht, das Hin- und Hergerissensein, die Berg-und Talfahrt der Gefühle. Auch ein Buch über die späte Selbstermächtigung einer jungen Frau.
Bereits vor zwanzig Jahren hat Hanne Ørstavik „Die Zeit, die es dauert“ geschrieben, nun ist es anlässlich der Frankfurter Buchmesse endlich auf Deutsch erschienen.
Christoph W. Bauer – Niemandskinder
Das Jahr 2015 ist wenige Tage alt, als Paris von einem Terroranschlag erschüttert wird, der die Seele der Stadt über Nacht verändert. Mittendrin ein junger Historiker, auf der Suche nach einer vergangenen Liebe. Es ist über zehn Jahre her, dass Samira und er getrennte Wege gegangen sind. Wohin er auch kommt, erfassen ihn Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Dabei ist es vordergründig eine andere Frau, der er auf der Spur ist – Marianne, Kind einer österreichischen Mutter und eines marokkanischen Vaters, aus demselben kleinen Ort in den Alpen wie er stammend, jedoch seit bald vier Jahrzehnten vermisst. Eine Zeitungsmeldung mit ihrem Bild hat ihn elektrisiert: Ihr Gesicht ähnelt dem Samiras frappierend … (Verlagstext)
Mit „64“ gelang Hideo Yokoyama im vergangenen Jahr auch hierzulande ein fulminanter Erfolg bei Presse und Publikum, das Buch stand auf Platz 1 der Krimibestenliste und wurde schließlich mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet (Platz 1 International). Jetzt ist der japanische Autor zurück, mit zwei kurzen neuen Fällen, die wie schon „64“ in Präfektur D angesiedelt sind.
Trotz Buchmesse, wo ich vor lauter Büchern nicht zum Lesen komme 😉 sind im Oktober eine ganze Menge Bücher zusammengekommen.