Christoph W. Bauer – Niemandskinder 

Christoph W. Bauer schreibt in Niemandskinder über ein verdrängtes Kapitel österreichischer Geschichte, eine vergangene Liebe und ein durch Terror erschüttertes Paris.

Ein Mann kehrt nach vielen Jahren zurück nach Paris. Es ist eine völlig veränderte Stadt, direkt nach den Novemberanschlägen 2015. Einst war sie die Stadt seiner großen Liebe, der Liebe zu Samira. Samira, die freiheitsdurstige Tochter marokkanischer Eltern, Kind der Banlieu, der die Jugendsprache Verlan genauso leicht über die Lippen kommt wie das Französische. Die Liebe scheiterte, vielleicht an der Ziellosigkeit und dem Zaudern des jungen Studenten, dem das Schreiben wichtiger war als das Geldverdienen. Vielleicht auch an der zu unterschiedlichen Herkunft.

Der zurückkehrende Ich-Erzähler ist Österreicher, mittlerweile Dozent an der Universität Innsbruck mit Forschungsschwerpunkt Nachkriegsgeschichte, vor allem der Geschichte Tirols unter französischer Besatzung. Das Foto eines Zeitungsartikels, auf das er im Zuge seiner Recherchen gestoßen ist, führt ihn zurück nach Frankreich, wo immer noch sein alter Freund Stefan mit seiner französischen Frau Sandrine lebt. Das Foto zeigt eine seit längerer Zeit vermisste Frau, Marianne, die verblüffend ähnliche Züge wie Samira aufweist. Nachforschungen ergeben, dass sie ein sogenanntes „Niemandskind“ ist, das Kind einer Tiroler Mutter und eines französischen Besatzungssoldaten marokkanischer Herkunft. „Vergessene Kinder“ werden sie auch genannt, denn neben heftigen Anfeindungen durch die österreichische Bevölkerung und sozialen Ausgrenzungen, wurden sie und ihre Mütter gerne auch totgeschwiegen. Die Väter wissen oftmals nichts von ihrer Existenz und haben keinen Kontakt zu ihnen. Ca. 200 dieser Nachkommen gibt es in Tirol und Vorarlberg. Clément Mutombo hat ihnen 2008 eine wissenschaftliche Untersuchung gewidmet. (Clément Mutombo: „Les damnés innocents du Vorarlberg. Parianisme envers les enfants historiques).

Mit einem anderen „Niemandskind“, Elisabeth, einer ehemaligen Freundin von Marianne, nimmt er Kontakt auf und erfährt so einiges über die nicht ganz einfache Kindheit und Jugend der beiden Mädchen. Im Kapitel fünf darf Marianne die Rolle der Ich-Erzählerin übernehmen. Ihre Schilderungen verknüpft Christoph W. Bauer mit den Erinnerungen des Mannes an seine Jugendjahre, seine Zeit in Paris mit Samira und seinen aktuellen Treffen in Paris mit Stefan.

Marokkanische Soldaten
Marokkanische Soldaten bei Monte Cassino anonymous photograph [Public domain] via Wikimedia Commons
Paris ist eine der Protagonist*innen des Buchs. Immer wieder durchstreift der Erzähler Viertel und Straßen, die zu Straßen der Erinnerung werden. Hin und wieder erinnert das Buch von daher an Werke des Franzosen Patrick Modiano. Aber die Plätze und Orte haben sich verändert, haben auch durch die Terroranschläge ihre Unschuld verloren. Die Armut steigt, die Stimmung unter den Franzosen ist angespannt. Man merkt es an den gereizten Aussagen von Sandrine. Bei manchen dieser nebenbei geäußerten politischen Äußerungen war ich etwas irritiert. Bis zum Schluss lässt sich der Erzähler und mit ihm der Autor nicht zu einer deutlichen Positionierung verleiten.

Bei anderen Themen, dem im Nachkriegs-Österreich anzutreffenden Rassismus, der Rolle des ehemaligen Landeshauptmanns von Kärnten Jörg Haider von der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) oder der türkis-blauen Regierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz wird er deutlicher.

Wie schwer der Umgang mit Vergangenheit, vor allem wenn sie nicht glänzend, sondern dunkel ist, auch im Nachbarland Österreich fällt, wird dabei sehr gut erkennbar. Googelt man nach dem Lager „Oradour“ in der Nähe von Schwaz in Tirol, das vor Kriegsende als Barackenlager für Zwangsarbeiter der Messerschmittwerke im Schwazer Bergwerk diente und dann von der französischen Besatzungsmacht in Mahnung an den Ort in Frankreich, der von der SS als Partisanen-Vergeltung vollkommen zerstört und alle Bewohner getötet wurden umbenannt und als Internierungslager für Nazis aus der Umgebung verwendet wurde, findet man – fast nichts. Der Wikipedia-Eintrag des Ortes springt von 1914 direkt zu 1999, als hätte es dazwischen keine Geschichte gegeben. Das gleiche Verschweigen traf die Kinder des 1. Regiment der Tirailleurs Marocains, die im Juli 1945 in Tirol einmarschierten.

„Niemandskinder“ von Christoph W. Bauer ist mit 182 Seiten ein recht schmales Buch, in dem aber wichtige und bisher eher wenig bekannte Dinge verhandelt werden. Ich habe es mit großem Gewinn gelesen.

 

Beitragsbild: Paris via Pixabay

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Christoph W. Bauer - Niemandskinder.

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Christoph W. Bauer – Niemandskinder
Haymon Verlag 2019, 184 Seiten, gebunden, EUR 19,90

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