Gleich mit seinem Debütroman gelang dem 1988 geborenen US-Amerikaner ein fulminanter Erfolg. Seine Autofiktion, die vom Heranwachsen, dem schwierigen Verhältnis zu seiner Mutter und seinem Comingout erzählt, ist nach einem der Gedichte in seinem jüngsten Lyrikband benannt: Ocean Vuong „Auf Erden sind wir kurz grandios“.
Die Herkunft des Autors von der Lyrik merkt man dem Text in jedem Moment an. Ihm gelingen poetische Bilder und lyrische Passagen, die im Kontrast zum eher traurigen, manchmal fast brutalen Inhalt stehen. Eines dieser Bilder ist jenes des Monarchfalters, eines nordamerikanischen Wanderfalters, der in riesigen Schwärmen jeden Herbst in seine Überwinterungsgebiete nach Mexiko bzw. Kalifornien zieht. Ihm ist dieses Verhalten in die Gene eingeschrieben. Nur einige wenige Exemplare steigen laut Vuong aus diesem determinierten Migrationsverhalten aus, um abseits der Wanderrouten zu verenden. Auch dem Menschen sind bestimmte Verhaltensmuster genetisch mitgegeben, werden bestimmte Handlungen und Denkweisen determiniert. Und Ängste vererbt.
„Vielleicht bedeutet Hand an dein Kind zu legen, es auf den Krieg vorzubereiten. Ihm beizubringen, dass einen Herzschlag zu besitzen nie so einfach ist wie die Aufgabe des Herzens, ja ja ja zum Körper zu sagen.“
Alter Ego Little Dog
Little Dog, Erzähler und durch diverse biographische Übereinstimmungen Alter Ego des Autors, ist als Kleinkind mit den Eltern und der Großmutter aus Vietnam in die USA ausgewandert. Aus einer Reispflanzerfamilie stammend wurde das Leben für Mutter Rose als GI-Kind zunehmend schwieriger. Großmutter Lan floh einst aus einer arrangierten Ehe nach Saigon und arbeitete dort als Prostituierte, um sich über Wasser zu halten. Aus einer dieser Nächte mit einem amerikanischen Soldaten stammt Rose. Eine Liebesbeziehung verband Lan und Paul, den schüchternen Farmersohn aus Michigan. Aber bevor Paul von seiner Vaterschaft erfahren konnte, wurde seine Truppe in die Heimat zurückbeordert. Und dann waren da noch seine amerikanische Ehefrau und seine Kinder. Dennoch kümmert er sich viele Jahre später, als seine vietnamesische „Familie“, mittlerweile in Hartford, Connecticut gelandet, mit ihm Kontakt aufnimmt, um diese und ist für Little Dog Grandpa Paul.
„Etwas zu lieben heißt so, ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt – und am Leben. Ein Name, dünn wie Luft, kann auch ein Schild sein. Ein Kleiner-Hund-Schild“
Traumata
Little Dogs Vater schlägt die Mutter oft, trinkt und verschwindet eines Tages aus deren und Little Dogs Leben. Rose und Lan sind beide traumatisiert. Vom Krieg, vom Leben. Rose erlebte mit fünf Jahren, wie ihre Schule Opfer eines amerikanischen Napalmangriffs wird. In Amerika ist sie es schließlich, die in einem Nagelstudio schuftend die Familie durchbringt. Aber wie es die ihrerseits psychisch instabile Großmutter so einfach wie treffend ausdrückt: „Sie Schmerz. Sie wehtun.“
„Mit fünf hast du das letzte Mal ein Klassenzimmer betreten. Unsere Muttersprache ist so überhaupt keine Mutter – sondern eine Waise.“
Niemals ist Rose über ein Grundschulniveau hinausgekommen. Sie ist nahezu Analphabetin und in der amerikanischen Sprache bleibt sie unsicher. Little Dog ist es, der schon als Kind alle wichtigen Dinge für Mutter und Großmutter erledigt. Und der immer wieder den Gewaltausbrüchen seiner Mutter ausgesetzt ist.
„Sie Schmerz. Sie wehtun.“
Es geht um die sehr widersprüchliche Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Der Text ist als eine Art Brief an Rose verfasst, immer wieder wendet er sich im Du an sie. Ein Brief, der wohl nie abgeschickt wird. Und wenn, dann von dieser nicht gelesen werden kann. Er ist ein Versuch, die gewalttätige und dann wieder sehr liebevolle Mutter zu verstehen, ohne ihr Handeln zu rechtfertigen. Ein Versuch, zu erklären, wie ihr Verhalten in sie „eingeschrieben“ wurde. Durch ihre problematische Herkunft, durch die Kriegstraumata, den gewalttätigen Ehemann, das sich Durchschlagen.
„Ich vermisse dich mehr, als dass ich mich an dich erinnere.“
Er ist aber auch ein Versuch der Selbstvergewisserung. Wer bin ich, wo stehe ich, wie bin ich dahin gekommen? Vielleicht auch, wohin will ich. Erinnerungen kommen wie Mosaikteilchen, kleine Fragmente, chronologisch ungeordnet, assoziativ.
Die überlastete, emotional schwankende Mutter, die liebevoll kümmernde, aber psychisch nicht gesunde Großmutter, die Kindheit als Außenseiter – zu schwach, zu ängstlich, zu anders -, die schwierige Schulzeit.
„Denk dran“, hast du jeden Morgen gesagt, bevor wir in die kalte Luft Connecticuts hinaustraten, „fall nicht auf. Du bist schon vietnamesisch.“
Und Trevor, von dessen Herointod der Erzähler gerade erfuhr. Und der seine erste große Liebe war. Der weiße Junge aus sozial schwachem Haus, der so gerne stark gewesen wäre, und auf gar keinen Fall schwul. Dessen Liebe und Zärtlichkeit Little Dog gegenüber umschlagen konnte in Hass und Gewalt. Eine Gewalt, die Little Dog gewohnt war, die er als eine Form der Liebe wahrnahm. Etliche explizite Sexszenen sprechen davon. Der Erzähler bezieht sich unter anderem immer wieder auf den französischen Philosophen und Schriftsteller Roland Barthes, auf dessen Tagebuch der Trauer über den Tod der Mutter und seine Fragmente zur Sprache der Liebe, die unterschiedliche Äußerungsformen dieses Gefühls zusammenträgt.
Selbstermächtigung
Anders als Trevor gelingt Little Dog das Entkommen aus seinem quasi vorbestimmten Los. Er ist der Monarchfalter, der ausschert, der Büffel, der nicht über die Klippe springt, oder, um eine weitere der Tiermetaphern zu zitieren, „ein Tier mit dem seltenen Vermögen, stehen zu bleiben“. Es ist das Reh vom Buchcover (im Text selbst taucht stattdessen der Hirsch auf), das Reh, das der Gefahr ins Auge sieht. Auch wenn dies vielleicht schlecht endet.
„Diese ganze Zeit über habe ich mir gesagt, dass wir aus dem Krieg geboren wurden – aber ich habe mich geirrt, Ma. Wir wurden aus Schönheit geboren. Niemand soll glauben, wir seien die Frucht der Gewalt – sondern dass Gewalt die durch die Frucht hindurchgegangen ist, sie nicht verderben konnte.“
Coming of age-Geschichte, Einwanderungsgeschichte, Aufstiegsgeschichte
„Auf Erden sind wir kurz grandios“ von Ocean Vuong ist Coming of age-Geschichte, Einwanderungsgeschichte, Aufstiegsgeschichte. Es ist auch ein Roman über die Folgen des Vietnamkriegs, über posttraumatische Belastungen, über die genetische Weitergabe von Traumata. Er beschreibt eine wirtschaftlich weitgehend abgehängte Region der Ostküste, Bildungslücken, Gewalterfahrungen und die Folgen einer weitgehend verfehlten Drogenpolitik der USA, die die sogenannte Opiodkrise auslöste, die seit der Jahrtausendwende zu dramatisch steigenden Zahlen an Drogentoten, durch Oxycodin, durch Fentanyl, führt. Und es ist nicht zuletzt eine Chronik der Selbstermächtigung, durch die Sprache, durch Bildung.
Das klingt nach jeder Menge Stoff, aber Ocean Vuong schneidet in „Auf Erden sind wir kurz grandios“ diese Themen völlig unangestrengt an, wie nebenbei, packt sie in seinen poetischen, traurigen, dringlichen und trotz vieler Brutalitäten liebevollen Text. Im Frühjahr erscheinen seine hochgelobten, vielfach ausgezeichneten Gedichte unter dem Titel „Nachthimmel mit Austrittswunden“, ebenfalls bei Hanser. Ich könnte mir vorstellen, dass diese noch eindringlicher sind. Ich freue mich zumindest drauf.
Weitere Besprechungen findet ihr bei Andrea auf Literatur in vollen Zügen, bei Isabella auf Novellieren und bei der Kunstschreiberin
Beitragsbild: via PXhere
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Ocean Vuong – Auf Erden sind wir kurz grandios
übersetzt aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag
Hanser Verlag Juli 2019, 240 Seiten, Fester Einband, 22,00 €
An diese Schmetterlinge hatte ich mich gar nicht mehr erinnert. Schön.
Und ich freue mich auch sehr auf die Gedichte.
Viele Grüße!
Ich fand, sie waren eine schöne Metapher und kamen dann ja auch immer wieder mal kurz vor. Aber es ist schön, wenn jede/r Leser*in etwas anderes aus einem Buch mitnimmt, nicht wahr. Viele Grüße!
Danke für diese schöne und ausführliche Rezension. Es ist schon erstaunlich wie viel in diesem wunderbaren Roman steckt. Für mich ist es eines der wichtigsten Bücher des Jahres.
Liebe Grüße
Gabi
Und das ganze ohne überfrachtet zu sein. Wirklich erstaunlich. Liebe Grüße, Petra