Meine Lektüre im November 2019
Der November war ein Monat der Aufarbeitung von liegengebliebenen Aufgaben. Auch etliche Herbsttitel wollten gelesen und besprochen werden (oder warten immer noch darauf). So komme ich auf eine beachtliche Leseliste, die ich euch hier noch einmal vorstellen möchte.
Zum 100. Geburtstag des 1999 verstorbenen Schriftstellers und Journalisten Horst Krüger veröffentlicht der Schöffling Verlag dessen Erinnerungsbuch Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland, das 1966 erstmals erschien und leider lange Zeit vergriffen war, mit einem informativen Nachwort von Martin Mosebach neu. Ein Glücksfall. In seinem autobiografischen Text erzählt Krüger von seiner Kindheit und Jugend in Berlin Eichkamp bis zu den Ausschwitzprozessen in Frankfurt 1963-65. Horst Krüger erzählt nicht streng chronologisch und lässt auch größere Leerstellen.
Gerade weil er nicht den Anspruch erhebt, eine umfassende Autobiografie zu schreiben, sondern dem nachspürt, was seine typische deutsche Jugend ausmachte und dem näher zu kommen versucht, was die Nazidiktatur ermöglichte und trug, macht das Buch so eindrucksvoll. Für mich ist es eine wahre Entdeckung und Pflichtlektüre für eigentlich jeden. Es zeigt deutlich, dass mehr als nur ein Haus, dass ein ganzes Land zerbrochen war.
Gerade wird wieder intensiv darüber berichtet, wie unterschiedlich die Aufmerksamkeit ist, die männlichen und weiblichen Autoren und – sollte es so etwas überhaupt geben – „männlichen“ und „weiblichen“ Themen und Blickwinkeln, in der Literaturkritik gewidmet wird.
Und da veröffentlicht Jamel Brinkley, 1975 in New York geboren und aktuell in Los Angeles lebend, seinen Erzählungsband „Lucky Man“ (Unverschämtes Glück) und erzählt ausschließlich von Männern (schwarzer Hautfarbe), die jene toxische Männlichkeit verströmen, die so verstörend ist, und das durchaus empathisch. Vieles läuft schief im Leben dieser Männer, und oft befinden sie sich noch oder wieder auf Identitätssuche, voll Frustration und Wut. Es läuft nicht so, wie sie erhofften und erwarteten.
Neun Erzählungen, die von den Befindlichkeiten und Verunsicherungen dieser Männer erzählen, und in denen Frauen mehr oder weniger als zwar durchaus auch toughe und selbstbestimmte, aber eben als Objekte vorkommen. Als Objekte männlicher Begierden, als Richtschnur für männliches Selbstbewusstsein, als letztlich unverständliche Wesen.
Ich muss zugeben, dass ich mich anfangs mit diesen Geschichten unwohl gefühlt habe. Aber sie sind einfach zu gut geschrieben, zu authentisch, als dass man sich ihrer Wirkung entziehen könnte. Der Einblick in diese Welten ist vielleicht bitter, aber lohnend. Gerade für Frauen.
Andreas und seine ältere Schwester Minna waren noch sehr klein, als die Eltern auf rätselhafte Weise aus ihrem Leben verschwanden. Die Kinder blieben in der Obhut von Johannes, dem Chauffeur von Jan-Heinz Kauffmann. Dieser „regiert“ die Insel in gutsherrlicher Manier zusammen mit seinem Inspektor Herr Carsten. Viele der Bewohner sind wirtschaftlich von Kauffmann abhängig, hassen ihn aber, auch wegen seiner „Nazi“-Vergangenheit.
Während Andreas recht unauffällig bei Johannes aufgewachsen zu sein scheint, fällt die rebellische Minna durch ungehöriges Verhalten auf, weswegen sie auch zeitweise in eine Pflegefamilie kommt. Selbst für ihren Bruder, der sehr an ihr hängt, ist sie ein Rätsel, bis zu ihrem Tod, von dem man relativ früh erfährt, dessen Ursachen aber auch im Dunkeln bleiben.
Auf verschiedenen Zeitebenen spielt Der Sturm. Steve Sem-Sandberg konstruiert eine Rahmenhandlung, in der der Erzähler auf die Insel zurückkehrt und anhand von Tagebüchern, Fotos, Briefen, alten Quittungen und Zeitungsartikeln versucht, seiner Kindheit, von der auch ihm vieles nicht wirklich klar ist, näherzukommen. Sie ist in den späten 1990er Jahren angesiedelt. Die Rückblicke reichen in die 1960er und 70er Jahre und darüber hinaus auch in die Zeit des Zweiten Weltkrieges zurück.
Andreas ist ein eher unzuverlässiger Erzähler. Viele Dinge über seine Familie, seine Kindheit, die Insel weiß er einfach nicht oder kennt sie nur vom Hörensagen oder durch die Geschichten, die ihm Johannes erzählt hat. Diese bleiben wie die Personen aus seinem unmittelbaren Umfeld auch ihm selbst oft rätselhaft, unerklärbar. Durch die poetisch dichte Erzählweise bekommt die Geschichte zeitweise etwas märchen- oder traumhaftes mit Reminiszenzen zu Shakespeares Sturm.
Eigentlich las ich das Buch sehr gerne, muss aber zugeben, dass ich das Ende schlichtweg nicht verstanden habe. Was meine Lesefreude dann doch gehörig minderte.
Ein Buch über Marlene Dietrich. Ein Buch über die Entstehung des legendären Films „Der blaue Engel“. Eine Entstehungsgeschichte, die selbst ganz großes Kino ist. Berlin, Babelsberg und die späten 1920er Jahre, die auch die goldenen genannt werden. Edgar Rai hat sie versucht, in seinem Roman „Im Licht der Zeit“ festzuhalten.
Eigentlich ein interessantes Thema und Edgar Rai erzählt es spannend und unterhaltsam. Leider geht er mit den historischen Personen für meinen Geschmack zu eigenwillig um, stellt sie zu sehr aus, lässt Fakten und Fiktion völlig verschwimmen. Außerdem übertreibt er es mit dem Namedropping. So war das Buch für mich leider eine kleine Enttäuschung.
Als Samuel Selvons erfolgreichster Roman „The lonely Londoners“ 2017 zum ersten Mal nach seinem Erscheinen 1956 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Taugenichtse“ erschien, war das eine kleine Sensation und wurde von Feuilleton und Lesern gleichermaßen begeistert aufgenommen. Der aufgrund seiner Verwendung von kreolischem Straßenslang eigentlich als unübersetzbar geltende Text wurde von Miriam Mandelkow, die auch die Neuausgaben von James Baldwin grandios bearbeitet, in ein originelles Deutsch übertragen. Nun ist ebenfalls bei dtv Samuel der Debütroman von Samuel Selvon „Eine hellere Sonne“ erschienen – und ebenfalls sehr gelungen.
Der 1923 auf Trinidad geborene Selvon gilt neben V.S.Naipaul als zweiter großer Autor des Antillenstaats vor der Küste Venezuelas. Seit 1950 lebte er in London, später (ab 1978 bis zu seinem Tod 1994) in Kanada. Während er in „Lonely Londoners“ auf charmante und dennoch sozialkritische Art das Leben von karibischen Immigranten in der englischen Metropole beschrieb, spielt „Eine hellere Sonne“ noch auf Trinidad.
Eine Bildungs- und Aufstiegsgeschichte während des Zweiten Weltkriegs – übersetzt von Miriam Mandelkow, die ein außergewöhnliches Gespür für die Schaffung von Entsprechungen für das Trinidadian Creole besitzt. Da gibt es ungewöhnliche Satzkonstruktionen und originelle Wortneuschöpfungen, alles mit einem großen Gefühl für den Rhythmus und die Musikalität, die beide Autoren besaßen.
Welch ein dringlicher, welch ein eindringlicher Roman ist „Auf Erden sind wir kurz grandios„. In seinem Debütroman wendet sich der Lyriker Ocean Vuong an seine Mutter, mit der ihn eine schwierige Beziehung verbindet. Er ist aber genauso ein Stück Selbstvergewisserung. Wer bin ich, als vietnamesisches Einwandererkind in den USA, als Sohn einer gewalttätigen, traumatisierten, liebenden Mutter, als junger Homosexueller, als angehender Intellektueller und Literat aus einer Familie, in der Bildung immer nur marginal blieb. Manchmal brutal, manchmal zart und poetisch hat Vuong versucht, dafür eine Sprache zu finden.
Literarisch in meinen Augen viel gekonnter, breiter aufgestellt, multiperspektivisch und sowohl politisch als auch soziologisch viel differenzierter als unlängst Edouard Louis thematisiert Nicolas Mathieu in Wie später ihre Kinder den Niedergang in der französischen Provinz nach Schließung der dortigen Stahlindustrie. Vier heiße Sommer von 1992 bis 1998 begleiten wir dort junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die alle eines gemeinsam haben: sie wollen raus aus der provinziellen Enge, fort von den Eltern. Sie erleben eine Zeit des Niedergangs ohne dass sich ihnen die Perspektive auf eine hellere Zukunft böte. Es ist kein strahlendes Frankreich, kein locker-frivoles, sondern eines der Arbeitslosigkeit, der Aussichtslosigkeit, des Alkohols und der Wut. Hier wurden schon in den 1990ern die Anhänger des Front national herangezogen, hier entlud sich die Wut der Gelbwesten. Ein Gesellschaftporträt, manchmal recht derb in der Schilderung der brodelnden Sexualität der Jungmänner, soziologisch genau, differenziert – unbedingt lesenswert.
Ein Powwow in der Nähe von Oakland nutzt Tommy Orange in Dort dort als Zielpunkt für die Geschichten einer Reihe von Menschen meist indigener Abstammung. Für sie alle hat diese Zusammenkunft eine Bedeutung, manche kennen sich, andere werden sich nie begegnen. In ihren Geschichten thematisiert Orange die immer noch schwierigen Umstände, unter denen die Native Americans leben. Oft sind Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen und häusliche Gewalt ein Thema. Neben Resignation steht aber auch der Wille, den vorgezeichneten Wegen nicht zu folgen. Der Showdown kommt nicht überraschend, das Buch endet düster.
In seinem schmalen Roman Duell erzählt Eduardo Halfon eine vielleicht autobiografische Geschichte, zumindest stimmen die Eckdaten von Autor und Erzähler weitgehend überein. Dieser macht sich auf die Suche nach der Geschichte seines Onkels Salomon, der laut Familienlegende als kleiner Junge in einem See in Guatemala ertrunken sein soll, andererseits aber zur gleichen Zeit auf einem Foto im schneebedeckten New York zu sehen ist, wo er laut Auskunft des Vaters 1940 auch allein in einem Krankenhaus starb. Die Recherche nach der Wahrheit und der Familiengeschichte führt weit in die Vergangenheit der beiden Großväter, der eine libanesischer Jude, der andere Holocaust-Überlebender aus Polen. Ein schmales, ein meisterhaftes Stück Literatur, das der Wahrheit tatsächlich kaum näher kommt.
Buch Nummer 1 des Jurylesens für den Bloggerliteraturpreis :
Martin Peichl – Wie man Dinge repariert
„Das Leben eines Großstädters in seinen Dreißigern. Eigentlich will er nur seinen Roman fertigschreiben, doch das Leben kommt ihm ständig dazwischen. Sein Beziehungsstatus ist mehr als kompliziert, der tote Vater hinterlässt ihm ein Waldstück, mit dem er nichts anzufangen weiß, und das nächste Bier ist immer etwas zu schnell offen. Aber unterkriegen lässt er sich deshalb noch lange nicht …
Martin Peichls Roman ist das sympathische Porträt einer Generation, die sich weigert, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Leider steht ihr die Sehnsucht nach Normalität dabei manchmal im Weg.“ (Verlagstext)
Zudem habe ich noch ganze vier Hörbücher geschafft.
„Morduntersuchungskomission“ von Max Annas
„Das Dorf in den roten Wäldern“ von Louise Penny
- zwei mittelgute, mittelspannende Krimis, einmal mit dem Hintergrund der DDR in den Achtzigern, vertuschtem Fremdenhass und einem problematischen Kommissar und einmal als ganz klassischer Whodunnit in den Wäldern Kanadas mit einer Truppe sympathischer Dorfbewohner und einem bedächtigen Ermittler.
„Kurt“ von Sarah Kuttner
- die Begeisterung über diesen Roman, der den Tod eines kleinen Jungen und die bodenlose Trauer der Hinterbliebenen thematisiert, kann ich nicht teilen. Die immer wieder vorkommenden berührenden Passagen werden für mich jedes Mal durch den gewollt flockigen Ton konterkariert und die Erzählerin hat mich schon bald genervt.
„Marzahn mon amour“ von Katja Oskamp
- hier teile ich die überwiegend sehr positiven Stimmen. Katja Oskamp erzählt von ihren Kunden in einem Fußpflegestudio – voller Mitgefühl für die Sorgen und Nöte der meistens alten und wirtschaftlich meist nicht sehr gut aufgestellten Menschen, die doch irgendwie ihr nicht einfaches Leben zu meistern versuchen.