Heillange heißt der kleine fiktive Ort in der nordfranzösischen Provinz, den Nicolas Mathieu in seinem 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Wie später ihre Kinder“ zum Mittelpunkt eines Gesellschaftsporträts macht. Nur unschwer lässt er sich als das lothringische Hayange in der deutsch-luxemburgischen Grenzregion identifizieren, das seit dem 18. Jahrhundert von der Eisen- und Stahlproduktion geprägt war und in dem etliche Betriebe in den 1980er Jahren schließen mussten. Seitdem vollzieht sich der sogenannte „Strukturwandel“ dort nur schleppend, entwickelten sich keine „blühenden“ Landschaften, wie sie nicht nur in Deutschland versprochen wurden, sondern grassieren Arbeitslosigkeit und Verarmung. Die Gegend wurde zur Hochburg des Front national, der seit 2014 den dortigen Bürgermeister stellt.
Gilets jaunes
Zehn Tage nach der Veröffentlichung von „Wie später ihre Kinder“ startete in Frankreich die sogenannte „Gelbwestenbewegung“, wie Nicolas Mathieu im Interview bei einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus im September berichtete. Eine Bewegung, die sich als Protest gegen eine zur Finanzierung und Durchsetzung der Energiewende geplante höhere Kraftstoffsteuer in Frankreich wandte. Besonders die Provinzbevölkerung, die sich als abhängig von der Automobilität sieht, ging auf die Barrikaden.
„Das Leben hier war immer ein Zurücklegen von Strecken. Zur Schule, zu Freunden, in die Stadt, an den Strand, zum Kiffen hinters Schwimmbad, zum Abhängen im Park. Unterwegs nach Hause, wieder los, auch die Erwachsenen, zur Arbeit, Zum Einkaufen, zur Tagesmutter, zur Inspektion in die Werkstatt, ins Kino. Jedes Verlangen war mit einer Entfernung verbunden, jeder Genuss forderte Sprit. Mit der Zeit stellte man sich die Gegend wie eine Straßenkarte vor.“
Deshalb gibt es für die meisten Jugendlichen in Heillange nur ein Ziel: raus aus der Provinz, raus aus der Enge, der Öde, der Perspektivlosigkeit, weg von den Eltern.
Strukturwandel
Anthony Casati ist zu Beginn, im Sommer 1992, 14. Seine Eltern haben sich den kleinbürgerlichen Traum vom eigenen kleinen Häuschen erfüllt. Seit der Schließung der Stahlfabrik haben sie aber zu kämpfen. Der Vater arbeitete zunächst für eine Zeitarbeitsfirma, ist nun aber schon eine Weile arbeitslos. Er trinkt immer mehr, wird zunehmend auch gewalttätig. Man kennt diese Abwärtsspirale in der Wut, Demütigung, das Gefühl, abgehängt zu sein, zu Gewalt und Rechtspopulismus führen.
„Sie wurden entlassen, geschieden, betrogen und bekamen Krebs. Sie waren ganz schön normal und alles andere kam sowieso nicht in Frage. So wuchsen die Familien wie Pflanzen auf einem Boden aus Wut.“
Wir kennen diesen unbestechlichen und soziologisch genauen Blick auf die Veränderungen in Frankreich, auf die Verlierer der Globalisierung und die soziale Undurchlässigkeit der Gesellschaft aus den Romanen von Annie Ernaux, Didier Eribon und Édouard Louis. Im Gegensatz zu letzterem wird Nicolas Mathieu aber niemals polemisch oder populistisch. Seine Betrachtungen sind deutlich differenzierter und dadurch treffender.
Jung sein in der Provinz
Anthony erlebt diese für seine Familie und die Region schwierige Zeit während auch für ihn alles auf Umbruch steht. Mädchen, Mopeds, Alkohol und Drogen, dazu die Perspektivlosigkeit, keine Lust auf Schule. Es sind die Leiden der Pubertät. Steph und Clem, die beiden Mädchen, die er mit seinem Cousin am See kennenlernt, beherrschen schon bald seine Fantasie. Eine (ziemlich) unerfüllte Liebe zur letzteren wird das ganze Buch durchziehen, das in weiteren drei Abschnitten noch die Sommer 1994, 1996 und 1998 beleuchtet. Immer begleitet mit einem Song, der Musik der Neunziger. (Nirvana-Smells like teen spirit; Guns n´roses – You could be mine; la fièvre; Gloria Gaynor – I will survive, letzteres natürlich kein Hit aus den 90ern, eher ein Lebensmotto der Protagonisten)
Eine weitere Beziehung dauert ebenso durch die Jahre an. Es ist die Feindschaft oder Rivalität zu Hacine, dem Sohn marokkanischer Einwanderer, Kleindealer und Kleinganove, der zu Beginn das Moped von Anthonys Vater, das dieser sich heimlich ausgeborgt hat, klaut. Hacines Vater war einst ein Kollege im Stahlwerk. Die Entlassung hat ihn als Migranten noch härter getroffen, für ihn ist es noch schwieriger, Arbeit zu finden, fremdenfeindliche Äußerungen über die, „die uns die Jobs wegnehmen“ werden häufiger.
wie später ihre kinder
Dabei hatte die Vätergeneration noch diesen Aufstiegswillen, diesen Glauben an die Zukunft, an das Wachstum, daran, dass sie und ihre Nachkommen es irgendwann mal besser haben werden. Dieser Glaube geht den Jugendlichen bereits ab. Sie erleben das Scheitern ihrer Väter, erleben eine untergehende Welt, ohne dass es eine konkrete Vision von der Zukunft gibt. Und so schafft es auch lediglich Steph, die aus einer wohlhabenderen Mittelstandsfamilie kommt, auszubrechen aus der provinziellen Langeweile, in der der Mittelpunkt für die Heranwachsenden ein heruntergekommener Autoscooter ist.
„Wie später ihre Kinder“ – Nicolas Mathieu lieh sich den Titel seines Romans aus Dem Buch Jesus Sirach (auch Ben Sirach), einer Spätschrift des Alten Testaments, von Luther daraus entfernt und den Apokryphen zugeordnet.
„An andere aber denkt niemand mehr;
es ist, als hätten sie nie gelebt.
Sie sind gestorben und vergessen,
genauso wie später ihre Kinder.“
Keine perspektiven
Das ist ziemlich illusionslos und auch das Buch durchzieht Melancholie und tiefe Traurigkeit. Dabei ist es aber auch immer sanft ironisch. Doch der allwissende Autor weiß, dass die Pläne, die sterbende Industrieregion in ein Paradies für den Tourismus zu verwandeln genauso verpuffen werden wie die kurze Euphorie 1998 nach dem Gewinn des Weltmeistertitels im Fußball durch „Les bleus“ oder die Aufbruchsstimmung nach der Wahl Macrons.
Zurück bleiben sterbende Landschaften, enttäuschte und wütende Menschen, Reviere für Rechtspopulisten mit einfachen Antworten. Nicolas Mathieu hat es sich nicht einfach gemacht. Er schaut genau hin, liefert viele kluge Gedanken zu den Entwicklungen, die ja nicht nur in der französischen Gesellschaft so stattfinden. Vermeintliche Lösungen und einfache Schuldzuweisungen hat er im Gegensatz zu seinem Kollegen Eduard Louis nicht. Aber er liefert mit „Wie später ihre Kinder“ ein glänzendes Gesellschaftsporträt und einen großartigen Roman.
Die Übersetzung erfolgte durch Lena Müller und André Hansen
Weitere Besprechungen bei Letteratura und beim Leseschatz
Beitragsbild: Hayange by Daniel BRACCHETTI (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
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Nicolas Mathieu – Wie später ihre Kinder
übersetzt aus dem Französischen von Lena Müller, André Hansen 22.07.2019
Hanser Berlin Juli 2019, 448 Seiten, Fester Einband, 24,00 €
Ich habe den Roman seit einiger Zeit in meinem „Hinterkopf“ abgelagert und immer mal in den Buchhandlung in der Hand. Jetzt will ich ihn lesen. Viele Grüße
Das freut mich, liebe Constanze. Ich war auf einer Lesung des Autors und ziemlich begeistert auch davon! Liebe Grüße!