Ein Streit unter Brüdern, ein kleines Gerangel führt dazu, dass der Vater zum ersten Mal mit seinen Söhnen über eine stets beschwiegene Familientragödie spricht: den frühen Tod seines älteren Bruders Salomon. Der eine Sohn, Eduardo Halfon, vielleicht der Autor, vielleicht auch nicht ganz, es handelt sich ja um einen Roman, strengt daraufhin Nachforschungen an und schreibt dieses Buch: Duell.
Im Spanischen kann „Duelo“, der Originaltitel, sowohl für „Duell“, als auch für „Traurigkeit“ und „Trauer“ stehen. Die englische und französische Übersetzung hat sich diese Lesart zu eigen gemacht, warum sich der deutsche Verlag für das schmissigere „Duell“ entschieden hat, erschließt sich mir nicht ganz, denn es ist tatsächlich ein Buch der Trauer. Und eines über Erinnerung und Wahrheit. Ein besonders schönes, das sei bereits schon verraten, dazu.
familie
Dieser Onkel Salomon, 1935 geboren, 1940 gestorben, ist eine Leerstelle in der an Leerstellen so reichen Familiengeschichte. Sowohl der mütterliche als auch der väterliche Zweig besteht aus jüdischen Emigranten in Guatemala. Doch während der Vater des Vaters einst, 1919, über die USA über verschlungene Wege, auf denen bereits die Mutter verstarb, zu Verwandten nach Zentralamerika gelangte, gelang es dem Vater der Mutter, der aus Lodz stammte, erst 1946 Europa zu entkommen. Da lagen die Verfolgungen und Leiden des Holocaust bereits hinter ihm. Da war sein Bruder bereits im Ghetto von Lodz verhungert. Da hat er schon einige Lager hinter sich und für die Heinkel-Flugzeugwerke als Zwangsarbeiter geschuftet.
Für die Enkel war die eintätowierte Nummer am Arm faszinierend, die Angewohnheit, keinen Rest Essen, auch auf den Tellern der anderen, liegenzulassen, galt für sie als merkwürdige Marotte. Wie in so vielen anderen Familien, wurde über die Vergangenheit und die Leiden in beiden Familien geschwiegen.
Weitgehend geschwiegen wurde auch über den Tod des kleinen Salomon. Wenn Eduardo und sein Bruder in den Ferien zu Gast im Landhaus der Großeltern am guatemaltekischen Amatitlán-See waren, erzählte der Großvater manchmal traurig, dass Salomon hier einst ertrank. Die beiden Kinder gruselten sich daraufhin vor dem See, in dem immer noch der kleine Onkel verborgen lag.
Doch welche Geschichte stimmt denn nun: die des Großvaters, oder die, die der Vater viele Jahre später, die Familie war aufgrund der zunehmenden Bürgerkriegsunruhen in Guatemala 1981 in die USA emigriert, seinen Söhnen erzählte und mit einem verblassten Foto belegte. Dass nämlich der kränkliche Salomon, da seine Eltern sich keinen Rat mehr wussten, allein in ein Kinderkrankenhaus nach New York geschickt wurde, wo er dann 1940 starb, mutterseelenallein und auf einem christlichen Friedhof beerdigt.
nachforschungen
Die Neugier des Autors ist geweckt. Und irgendwann, sehr viel später, macht er sich auf, um der Geschichte seiner Familie nachzuforschen.
Er reist nach Polen und nach Deutschland, besucht das Konzentrationslager Sachsenhausen, hält einige Vorträge im IG-Farben-Haus in Frankfurt und versucht etwas über den Aufenthalt seines Onkels in New York herauszufinden.
Und er reist zurück nach Guatemala, trifft den einstigen Gärtner Don Isidoro und gerät bei einer Voodoo-Heilerin in einen gehörigen Rausch. Hier erfährt er von den vielen Kinderschicksalen, die ihr Ende im Amatitlán-See gefunden haben. Und wenn wohl auch keines davon Salomon war, gerät das Buch in diesem Moment zu einem bedrückenden Requiem für all diese kleinen Seelen.
Aus seinen Erinnerungssplittern und Rechercheergebnissen, aus Landschaftsimpressionen und historischen Begebenheiten entsteht ein poetisches, sensibles Stück Literatur. Es bleibt bewusst fragmentarisch, der Wahrheit ist Eduardo nur wenig näher gekommen. Aber er hat ein Buch der Trauer geschrieben und eines des Totengedenkens, eines über das Schweigen und eines über das Exil. Und das auf gerade mal 110 Seiten. Ein dichtes, wunderbares Buch, vielleicht sogar ein Meisterwerk.
Beitragsbild: Brüder by Hans-Michael Tappen (CC BY-NC-SA 2.0)
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Eduardo Halfon – Duell
übersetzt aus dem Spanischen von Luis Ruby
Hanser Verlag September 2019, 112 Seiten, Fester Einband, 18,00 €
Hallo Petra,
mir hat dieser kurze Roman auch sehr gut gefallen und finde den Titel ebenfalls nicht passend. Doch irgendwie wuste ich nicht, was ich in einer Rezension schreiben sollte. Du das das gut gelöst!
Viele Grüße
Silvia
Danke, Silvia, und viele Grüße zurück!